Die Fruchtbarkeitsmagie gewinnt die Oberhand (Kötsching Teil 20)

Fallstudie über die Kirchweihbräuche in der hessischen Sekundärgemeinde Kötsching/Kötcse (Teil 20)

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Von Prof. Dr. Zoltán Tefner

Die Magie hat mehrere Arten und Erscheinungsformen. In allen ihren Arten kommt die feste Überzeugung zum Vorschein, dass die menschliche Handlung eine Macht über die blinden Kräfte der Natur ausübe. Die Magie muss mindestens so alt sein wie die menschliche Kultur selbst; es gibt keinen Winkel auf der Welt, der ohne magische Bräuche auskäme. Als Vergleich könnte man sich auf die vielen Elemente der ungarischen Folklore und Mythologie berufen, die durch die Komparativität den Charakter und Ursprung der einzelnen Bestandteile im Gebrauchssystem der Kötschinger Kerbait (Kirchweih/Kirmes, Red.) andeuten würden. Absichtlich haben wir jedoch ein ganz ungewöhnliches Beispiel gewählt, um darzustellen, wie universal dieser bekannte, als Spiel und Unterhaltung aufgefasste Volksbrauch ist, wie er sich an die ältesten Perioden der Menschheitsgeschichte knüpfen lässt.

Im Glaubenskreis der ozeanischen Völker nennt man die übernatürlichen, mystischen Kräfte „mana”, mit deren Hilfe man alles erreichen kann: Wenn jemand eine „mana” besitzt, so kann man die eigene Krankheit oder die eines anderen damit heilen, man kann damit den Feind besiegen, das Wild erlegen oder der Fischfang wird reich. Im Alltag der ozeanischen Völker spielte die „mana” noch im 19. Jahrhundert die Rolle eines Zaubermantels, der auch vor Gewehrkugeln schützen kann. Wie Plinius meinte: Die Magie ist gleichzeitig Heilkunde, Astrologie und Religion.

Als eine häufige Form der Magie kann die „Handlungsmagie” angesehen werden. Darunter versteht man, dass die an der Magie Teilnehmenden die künftigen Handlungen im Interesse des erwarteten Erfolges im Voraus abspielen; die Imitation sichert den Erfolg und das Ergebnis der eintreffenden Geschehnisse. Oder genauer: Ich tue alles im Voraus, so wird mir eine Macht über die Naturkräfte erteilt, eine Macht besitze ich über die unberechenbare Zukunft, über das Leben und den Tod der wilden Tiere, über die Wolken, von denen ich den Hagelschlag kommen sehe. Ein altbekanntes Beispiel: die Darstellungen in der Berghöhle von Altamira. Die mehr als zehntausend Jahre alten Höhlengrafiken stellen Wisente und andere wilde Tiere dar; der Mensch, bevor er zur Jagd ging, tötete diese Tiere symbolisch, und glaubte, dass er eine unwiderstehliche Macht auf ihr Schicksal ausübe.

Die Fruchtbarkeitsmagie bildet eine mächtige Gruppe innerhalb aller Magien. Hier handelt es sich um die größte Aufgabe, um die Sicherung der Ernte im kommenden Jahr. Die Kerbait Kötschings ist mit diesen Fruchtbarkeitsmomenten voll und ganz durchwoben. Sie sind zum Beispiel Symbole, wie der Rosmarin, der rote Apfel, die Nelke, die Geranie, das Pflugeisen, der Wein und noch weitere Einzelheiten. Viele kleine Symbole seien vor 100-150 Jahren im Gang der Kerbait eingebaut gewesen, aber außer jenen oben Erwähnten kennen wir zu unserem großen Bedauern keine anderen mehr. Der Rosmarin – als Fruchtbarkeitssymbol doppelter Wirkungsfähigkeit -, weil er immergrün ist, ist als magisches Mittel imstande, das Leben vom Herbst durch die tote Winterperiode bis in den Frühling zu überführen.

Nicht nur in Kötsching, sondern auch in mehreren Orten der Schwäbischen Türkei finden wir diese Symbole. Der Rosmarin scheint in allen Ortschaften auf. Katharina Wild untersuchte in ihrer Fallstudie 47 Dörfer, worin sie ein anderes wichtiges Symbol, nämlich den Kirmesbaum, in 14 Dörfern gefunden hat. Der Kirmesbaum, das heißt „Kerbaitbaum” ist ein dem Maibaum stark ähnelndes, reich geschmücktes Langholz, das in der Regel in einer zentral gelegenen Stelle der Gemeinde aufgestellt wird. Seine Ausstattung ist verschieden: Es gibt Ortschaften, in denen die Stange mit Schilfrohr umwunden wird, in anderen Gemeinden wiederum mit Girlanden, Papierrosen und Blumen. Der Kirmesbaum, mit seinen Girlanden, Papierrosen und Rohrgeflechten dient ebenso der Fruchtbarkeit, wie der Maibaum mit seinem grünen Laub.

Was in Kötsching im Vergleich zu anderen Gemeinden in der Schwäbischen Türkei ganz spezifisch und neu ist, ist der geschlossene Umzug. Es gibt überall Züge: In Großnarad/Nagynyárád tragen die Kirmesbuben den Baum in einem feierlichen Umzug zum Kulturhaus oder einer anderen Stelle; auch Trompetenklänge und Rosmarin fehlen dabei nicht, aber der Umzug entlang einer geschlossenen Kreislinie kann nur in Maratz (Moratz)/Mórágy und Hidasch/Hidas beobachtet werden. In Maratz führen die Burschen ihre Mädchen Hand in Hand dreimal um den Kirmesbaum am Wirtshaus herum, und der erste Bursche sagt auch hier einen langen Spruch auf. In Hidasch kann der gedeckte Tisch im Pfarrhof für ein Element angesehen werden, das dem in Kötsching entspricht. Auch in Hidasch umstellen ihn die Dorfvorsteher, die Kapelle spielt Märsche, auch hier tanzt und trinkt man, und genauso wie in Kötsching wird die Prozedur dreimal wiederholt. Es wird auch ein Spruch aufgesagt, das Gehen im Kreis aber wurde in Hidasch allerdings nicht erwähnt.

Dieser Umzug in Kötsching stellt also eine ziemliche Rarität dar. Der Umzug, die Verkorkung und Vergrabung des Weins und im nächsten Jahr dessen Aufnahme sollen sich der ritualen Neuschaffung der sich erneuernden und untergehenden Natur bedienen. Eine ähnliche Funktion erfüllt der dreimalige Rundgang auf dem Kirchhof: Dieser Kreis symbolisiert das Jahr selbst. Dreimal muss der Ablauf des Jahres abgespielt werden, dreimal muss man die Zauberei wiederholen, damit wir es mit Gewißheit annehmen können: Dem Winter folgt der Frühling, dann der Sommer und der Herbst, so dass wir dann wieder zum Winter gelangen können. Das regelmäßige Aufeinanderfolgen der Jahreszeiten erscheint in allen Agrarkulturen als die wichtigste Grudbedingung des sicheren Lebensunterhaltes. Die Angst davor, dass dieser uralte Rhythmus einmal unterbrochen wird, hat im Laufe der Jahrtausende die zahlreichen Formen der Fruchtbarkeitsmagie hervorgerufen. Der Kerbait kann man also alles Mögliche antun: Ihre scheinbar unwesentlichen Förmlichkeiten aufheben, sie von Mittwoch auf Sonntag verlegen, das Publikum aus dem Kirchhof verweisen und die Anzahl der Marschierenden von 40 auf 2 reduzieren, aber nur eines darf man ihr nicht antun – den Umzug nämlich mit dem dreimaligen Stehenbleiben nicht abzuhalten. Das scheint am wichtigsten zu sein; jede Requisite und jedes Symbol entwickelte sich daraus, außer ihm ist alles andere ohne Belang. Die Elemente der germanischen Stammesgesellschaft in den Kerbaitbräuchen können also die Magie nicht entbehren. Das Vergraben der Weinflasche betont das ewige Leben und den ewigen Tod. Die gebrochenen Rosmarinstengel am „dritten” Tag der Kerbait in der Früh lassen die Äußerung des uralten, unschlüssigen und unbewussten Zwanges fallen, dass die Kerbait und die natürliche Vegetation getötet werden muss. Man muss sie töten, damit sie im Frühling wiedergeboren werde. Was würde geschehen, wenn zum Beispiel immer Frühling wäre? Es gibt alte Tonbandaufnahmen, aus denen klar hervorgeht, dass einige Menschen im Publikum während der Vergrabung der Kerbait im Hintergrund die Handlungen mit Schreien begleiten: „Da hast du’s! Du hast du’s, Kerbait!“ Selbst die Burschen und die anwesenden wenigen Gäste fassen diese Schreie nur als eine die Veranstaltung abschließende Witzelei auf, ihr Inhalt ist aber sehr ernst: Sie überbringen uns in der Gegenwart das Tragische eines mehrtausendjährigen Kampfes um den Lebensunterhalt.

An der Westküste Kanadas begehen die Kwaikutl-Indianer ihre den Winter begrüßenden Feste, die sogenannte „Winterzeremonie” ebenfalls im November. Im Kreis der Zeremonien verfügen sie über alle Elemente der Fruchtbarkeitsmagie von den Tänzen bei der Mannesweihe bis auf die Faktoren, die den Reichtum bedeuten. Die entschlossenste Absicht richtet sich dabei darauf, die Ankunft des Winters zu erzwingen, deshalb bringen sie auch Opfer dar, früher sogar Menschenopfer, wobei auch der Kannibalismus nicht ausgeschlossen war. (Man müsste in Zukunft die vergleichende Analyse des Kerbait-Kirmes-Komplexes mit den entsprechenden Elementen der germanischen Mythologie durchführen. Die mit den Fruchtbarkeitsmythologien verbundene nördliche Vanen-Göttergruppe – der Kult der Göttlichkeiten Njord, Freyr, Frejya und Balder – wäre vielleicht hier noch zu erwähnen, wenn man die Bräuche im Nord-Schomodei-Raum in Zusammenhang mit den Forschungen der Folklorewissenschaft über Hessen untersuchen wollte.)

Nach der Analyse auf dem Gebiet der Folklore müssen wir zu unserer ursprünglichen Fragestellung zurückkehren: Warum ist im Kötschinger Gedächtnis nur ein Herkunftselement – nämlich das Groß-Bieberauer – in Erinnerung geblieben? Darüber mehr im nächsten, 21. Teil. (Fortsetzung folgt)

Beitragsbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2013-09-22_%282541%29_K%C3%A4rlicher_Kirmes_-_Baumaufstellen.jpg

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