Von Stefan Pleyer
„Es ist nicht alles ohne Grund, was umgeht in Volkes Mund”- mahnt die alte, bekannte Redewendung, dass die ungeschriebenen Erzählungen und Geschichten in vielen Fällen über einen Informationswert verfügen. In der Zeit der klassischen Geschichtsschreibung galt für eine lange Zeit die Devise: Was nicht niedergeschrieben wurde, ist auch überhaupt nicht passiert. Tragischerweise brachte das 20. Jahrhundert eine zuvor eher negligierte Fundgrube, nämlich die Erzählungskraft der epochalen Katastrophen des letzten Jahrhunderts. Diese wurzeln in den aktiven Erinnerungen der Überlebenden. Wenn es um die Schicksalsschläge der vorigen Generationen geht, haben die Ungarndeutschen bergeweise davon.
Die Erforschung der neueren geschichtlichen Erinnerung der Deutschen im nördlichen Donauvorland (Transdanubien, ung. Dunántúl) zwischen 1940 und 1970 übernahm der Experte der ungarndeutschen Geschichte Dr. Georg Ritter im Rahmen einer PhD-Doktoratsdissertation, welche mit der Doktorvaterschaft von Dr. Zsolt Vitári von der Universität Fünfkirchen betreut wurde. Zu seinem intellektuellen Werkzeug wählte der Historiker die Methode der Analyse der „Oral History“. Wie die englische Benennung verrät, nehmen die Forscher der „mündlichen Geschichte” die persönlichen, „mündlichen” Überlieferungen unter der Lupe. Daraus entsteht dann eine Stück für Stück aufgebaute Rekonstruktion eines historischen Ereignisses – jenseits der offiziellen zeitgenössischen Dokumente und bereits veröffentlichen Fachbücher. In diesem Prozess spielen Privatpersonen – d. h. betroffene Zeitzeugen, Dorfbewohner oder Familienmitglieder die Rolle der Hauptquellen. Jeder Historiker hat Kenntnis davon, dass „eine Quelle keine Quelle ist”, deshalb bemüht er sich darum, während der Arbeit mit mehreren Subjekten zu interagieren: Je größer der Kreis der involvierten Personen ist, desto präziser wird am Ende die Synthese – durch die Unterscheidung zwischen der individuellen und der kollektiven Erinnerung.
Ritter stellte sich noch einer weiteren Herausforderung, als er seiner Dissertation eine spezielle Dimension gab. Das zentrale Element der aufgenommenen und später ausgewerteten Interviews sei das „Unterwerfungsnarrativ” der Ungarndeutschen im untersuchten Zeitraum (dem ungarischen Titel zufolge: „Oh Vaterland, warum ließt Du es geschehen? Ó, hazánk, miért hagytad, hogy ez így legyen?” A magyarországi németek alávetettségi narratívája az Észak-Dunántúlon 1940-1970).”- die deutsche Übersetzung siehe im Titel des Artikels. Den genauen Forschungsgegenstand gewähren die ungarndeutschen Einwohner des nördlichen Donauvorlandes, die im Auftakt des Ritter’schen Werkes auch näher analysiert werden: Woraus bestand ihr Selbstbewusstsein, was war ihr Verhältnis zur deutschen Muttersprache, wie konnten sie als Deutsche ihre katholische Religion ausüben, wie gestalteten sie ihr gemeinsames Leben mit den nichtdeutschen Magyaren, und noch weitere. Der „Enumeration” der Befragten folgt die Ausführung des oben erwähnten Unterwerfungsnarrativs, wenn die verschiedenen erlebten Traumata des in der ausgewählten Region lebenden Deutschtums zum Vorschein kommen.
Die Volkszählung von 1941 eröffnet die Reihe der Geschehnisse der Kriegszeit, wobei die Nationalitätenangehörigen sich diesmal nun auch vor den Behörden äußern mussten, welcher Nationalität sie angehören und was ihre Muttersprache ist. Die ersten Jahre der 40er führen uns in die Beurteilung der Tätigkeit des Volksbundes ein. Die vielfältigen Kriegsgeschichten steuern hier den Kurs der Dissertation: die Zwangsrekrutierung in die SS, dann der eigentliche Dienst dabei oder die in Honvéd/Landwehr-Uniformen erfüllte Soldatenpflicht. Diverse Erlebniswege der ungarndeutschen Männer im Zweiten Weltkrieg werden beleuchtet. Auf dem ungarischen Kriegsschauplatz und unter der sowjetischen Besatzung wurde die deutsche Bevölkerung um noch schockierendere Erfahrungen „reicher”, besonders deswegen, weil sie sich in den Augen der Besatzer wegen ihrer deutschen Herkunft in einer äußerst benachteiligenden Situation befanden. In der letzten Etappe des Krieges bzw. in der beginnenden Nachkriegszeit nahm diese benachteiligende Unterwerfung auf unterschiedliche Weise Gestalt an – wie z.B. bei der Malenkij-Robot, wo abseits der überlieferten Opferrolle auch das Glück im Verband mit Überlebensgeschichten zur Geltung kommt. In einer stattlichen Sektion der Analyse herrscht naturgemäß die Oral-History-Aufarbeitung der Vertreibung vor, daneben das Schicksal der „Muttersprachler” („anyanyelvesek”). Bei der Kategorisierung der Zeitzeugen-Berichte operiert Georg Ritter mit sog. „Spaltungspunkten”. Es handelt sich dabei um von den Ungarndeutschen unterschiedlich wahrgenommene Erlebnisse. Dadurch erlebten bestimmte Untergruppen einige geschichtliche Entwicklungen unterschiedlich. Es entstanden miteinander manchmal in Konflikt stehende Untergruppen wie z.B. Volksbundisten und Assimilierte in der neuen Heimat Deutschland. Die Aufnahme der Erinnerungen der in die ungarischen KZ-Lager (Hortobágy, Tiszalök, usw.) Deportierten ist als großer Verdienst der Dissertation zu betrachten.
Die Repressalien, Entrechtung und anderen Schwierigkeiten, woran die ganze ungarische Bevölkerung sich gewöhnen musste, sind weit und breit bekannt. Darunter sind solche Begriffe wie landwirtschaftliche Zwangskollektivierung, Vergeltungswelle nach 1956, Ausbau der Parteihierarchie bis ins abgelegenste Dörflein und Agentenwesen. Ritter bietet mit der Befragung der Ungarndeutschen zu diesen Erlebniselementen eine gut nachvollziehbare Vergleichsbasis mit den anderen nichtdeutschen ungarischen Erinnerungen. Nebenbei erscheinen auch ungarndeutschtypische Aspekte – beispielsweise die Kontakthaltung mit den nach Deutschland vertriebenen Verwandten. Diese bundesdeutsch-ungarndeutschen Beziehungen erregten die Aufmerksamkeit der ungarischen Staatssicherheit (III/II.). In der kommunistischen Ära erlebte das Ungarndeutschtum auch einen sozialen Wandel, der die Nationalität maßgeblich veränderte: In diesen Jahrzehnten nahm die Zahl der Mischehen zwischen Deutschen und Magyaren zu und der Sprachverlust, also die sprachliche Assimilation trat in eine fortgeschrittene Phase. Im Spiegel der kulturellen Repression. kommen bei Ritter auch diese Sichtweisen zur Sprache.
Mit dem „Unterwerfungsnarrativ der Ungarndeutschen” gelang es Georg Ritter, der bereits ausführlich erforschten ungarndeutschen Zeitgeschichte eine frische, innovative, synthetische Interpretation zu verleihen. Ohne die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft tappen wir im Dunkeln. Aber all die gut bekannten Teilthemen – wie die Volkszählung 1941, der Volksbund, der Waffen-SS-Dienst, Malenkij Robot oder die Vertreibung – werden bei Georg Ritter durch zeitgemäße, interdisziplinäre Herangehensweisen dargestellt, wo neben den geschichtswissenschaftlichen Dimensionen auch die Forschungspraxis der Soziologie zum Einsatz kommt. Assimilation, Unterwerfungsgefühl, Sprach- und Identitätsverlust – solche scharfzahnigen Drachenköpfe nagen und plagen unsere Nationalität bis heute tiefstgehend. Wie dieser Umstand entstand und was das Heilmittel dafür sei – außer dem wissenschaftlichen Fortschritt bietet uns Ritters Werk einen großartigen gesellschaftlichen Überblick aus den Zeiten unserer Groß- und Urgroßmütter – und vielleicht auch Auswege für die Zukunft.