Nachfahre Deutscher aus Ungarn veröffentlicht Familienbuch mit wissenschaftlichem Anspruch
Wie die Zufälle so wollen: Ich bin im Facebook auf einen Nachfahren geflohener Ungarndeutscher gestoßen, der einen Post kommentierte. Und siehe: Frank Hirschinger widmet sich nach seinem eigenem Bekunden seit seiner Kindheit und Jugend der Erforschung seiner Familiengeschichte. Daraus soll ein mittlerweile über 500 Seiten umfassendes Werk geworden sein (zumeist eigener Text, aber auch eingestreute Reproduktionen von Dokumenten, Fotos und Statistiken), erst einmal für den privaten Gebrauch. „Es ist nur zum Teil eines dieser typischen Familienbücher mit sehr persönlicher Färbung geworden, sondern über weite Strecken ein Buch mit wissenschaftlichem Anspruch. Belegt sind alle darin enthaltenen Informationen mit etwa 1000 Fußnoten, die zumeist auf archivalische Quellen verweisen”, so der in Leutenbach lebende Autor.
Es folgen Auszüge aus dem Vorwort: „Als ich in den Sommerferien 2006 meine Eltern in Weiler zum Stein (Gemeinde Leutenbach/ Baden-Württemberg) besuchte, entdeckte ich in meinem früheren Jugendzimmer einen unscheinbaren schwarzen Koffer, dessen Inhalt sich als kleine Sensation entpuppte. Der Koffer enthielt den Nachlass meiner 1986 und 1987 verstorbenen Großeltern Kaspar Hirschinger und Katharina Hirschinger (geb. Kult), darunter vor allem Briefe, die meine Urgroßmutter Anna Kult, ihr Mann Franz Kult (senior) sowie die beiden Brüder meiner Großmutter (Valentin und Franz Kult junior) in den ersten Nachkriegsjahren und zu Beginn der 1950er Jahre in dem kleinen südungarischen Dorf Baar/Bár verfasst hatten. Abgesehen von einem verzweifelten Abschiedsbrief, den mein Großvater im April 1945 in der sicheren Erwartung seines nahen Todes im Lazarett geschrieben hatte, war mir ein Großteil der Briefe und der übrigen Dokumente (Schulzeugnisse, Arbeitsbescheinigungen, Personaldokumente etc.) völlig unbekannt. Aus zahlreichen Gesprächen, die ich mit meinen Großeltern in den 1970er und 1980er Jahren geführt hatte, kannte ich zwar einige wichtige Ereignisse unserer Familiengeschichte, so etwa Episoden aus dem Militärdienst meines Großvaters während des Zweiten Weltkrieges, Berichte über die Flucht der Großmutter und meines damals 7-jährigen Vaters aus ihrer ungarischen Heimat und den schwierigen Neubeginn in Württemberg. Mehr erfuhr ich jedoch nicht oder ich fragte nicht nach, da mir das Bewusstsein für die Bedeutung bestimmter Fragen aufgrund meiner Jugend und mangelnder Vorkenntnisse fehlte. Bei vielen Erzählungen pflegten meine Großeltern in ihren altertümlichen donauschwäbischen Dialekt zu verfallen, denn sie identifizierten sich sehr stark mit dem, was sie berichteten und erlebten es innerlich nach. Viele ihrer Berichte trugen anekdotischen Charakter, manches – besonders ihre Jugenderinnerungen aus den 1920er Jahren – wirkte idealisiert und klammerte schmerzhafte Erfahrungen aus.


Die Lektüre der Briefe, die sich in dem kleinen schwarzen Koffer befanden, erwies sich als sehr aufwändig und mühsam. Bei den Verfassern handelte es sich um einfache Arbeiter und Tagelöhner, deren Vorfahren im 18. Jahrhundert aus Südwestdeutschland nach Ungarn ausgewandert waren. Als Angehörige einer nationalen Minderheit hatten sie nur dürftigen muttersprachlichen Unterricht erhalten und kaum Gelegenheit gehabt, sich mit Hilfe deutscher Bücher und Zeitungen weiterzubilden. Auf den ersten Blick erschienen viele Briefe meiner Urgroßeltern und Großonkel als nahezu unlesbar, da sie zahlreiche orthographische und grammatische Fehler, Mischformen deutscher und ungarischer Schreibweisen sowie lateinischer und deutscher Buchstaben enthielten. Oft hatten auch donauschwäbischer Dialekt und ungarische Ausdrücke in die Umgangssprache der deutschsprachigen Dorfbewohner Eingang gefunden. Doch hinter der rohen äußeren Form der Briefe wurden Menschen erkennbar, die bei aller Schlichtheit emotionale Wärme und eine starke moralische Haltung auszeichnete – eine Haltung, die gelegentlich auch in moralischen Rigorismus umschlagen konnte. Die Briefe der Verwandten zeigten, wie sehr die Familie unter der Trennung infolge von Krieg, Flucht und Kaltem Krieg zu leiden hatte. Abgesehen von meinen Großeltern und meinem Vater, die der Krieg 1946 in ein kleines Bauerndorf bei Ulm verschlagen hatte, waren alle übrigen Familienmitglieder in ihrem südungarischen Heimatdorf Baar verblieben. Die zwischen 1945 und 1953 entstandenen Briefe der in Ungarn verbliebenen Verwandten enthielten zahlreiche Hinweise auf die politische und wirtschaftliche Situation, die sich unter der Herrschaft der ungarischen Kommunisten erheblich verschlechterte. Insofern handelte es sich bei den Briefen nicht nur um einen Fund, mit dessen Hilfe ein Teil der Familiengeschichte rekonstruiert werden konnte, sondern auch um ein interessantes Zeitdokument zur Geschichte der Donauschwaben. Nach und nach entzifferte ich die Briefe, korrigierte die gröbsten orthographischen und grammatikalischen Fehler und nutzte die Texte als dokumentarische Basis für eine biographische Darstellung, die ich meinem Vater im November 2007 anlässlich seines 70. Geburtstags überreichte. Wie er mir später erzählte, reagierte er beim Lesen sehr gerührt. Viele Episoden der Familiengeschichte waren ihm nicht bekannt gewesen.
Danach ruhte das Thema einige Jahre lang, ohne mich innerlich völlig los zu lassen. Insbesondere fragte ich mich, wann und aus welchem Ort die Familie Hirschinger nach Ungarn ausgewandert war. Meine Großeltern hatten immer geglaubt, ihre Vorfahren seien „aus dem Schwarzwald gekommen“, ohne dies näher begründen zu können. Ihre Annahme beruhte wohl nicht auf familiärer Überlieferung, sondern entsprach einer weit verbreiteten Auffassung unter den Donauschwaben, die sich häufig für ausgewanderte Schwarzwälder hielten. So berichtete ein deutscher Autor 1929, er sei während eines Aufenthalts in Südungarn auf die „hundertmal gleichlautend gegebene Auskunft“ gestoßen: „Wir stammen alle aus dem Schwarzwald.“ Die Frage der Herkunft und andere ungeklärte Fragen beschäftigten mich bereits 1975 im Alter von 9 Jahren, als ich während eines ersten Aufenthalts im Heimatdorf meines Vaters die damals noch lebenden donauschwäbischen Verwandten befragte. So jedenfalls berichtete es während meines zweiten Besuches im Sommer 1991 eine Schwester meines Großvaters. (…)
Um der Sache auf den Grund zu gehen, begann ich 2015 im Internet nach Literatur und Quellen zu suchen. Dabei wurde ich auf den „Arbeitskreis donauschwäbischer Familienforscher“ (AKdFF) und das dort herausgegebene „Sammelwerk donauschwäbischer Kolonisten in Ungarn“ aufmerksam. Die Gelegenheit schien günstig, mit Hilfe der darin enthaltenen Angaben zu allen dokumentarisch belegbaren Ungarnauswanderern auch den donauschwäbischen Stammvater der Familie Hirschinger zu entdecken. Zum Familiennamen Hirschinger fanden sich im „Sammelwerk“ lediglich zwei Eintragungen: eine lothringische Familie, die vor 1785/86 nach Kimling/Dunakömlőd (80 km nördlich von Baar) ausgewandert war, und eine weitere Familie in Kirne/Környe bei der Totiser Kolonie/Tatabánya (220 km nördlich von Baar). Im Vergleich dazu erschienen Angaben zu einem gewissen „Anton Hirsinger“, der 1753 aus dem Hegau (nordwestliches Bodenseegebiet) ins Baarer Nachbardorf Schomberg/Somberek ausgewandert sein soll, trotz des leicht abweichenden Namens wesentlich erfolgversprechender. Auch wenn sich das im „Sammelwerk“ als Wohn- oder Geburtsort von Anton Hirsinger genannte Dorf Honstetten und der Zielort Schomberg bei späteren Recherchen als etwas ungenaue Hinweise herausstellten, wurden dadurch viele Vermutungen und Spekulationen beendet. Recherchen auf der Internetplattform „Familysearch“ ergaben schließlich, dass im Kirchenbuch von Seetschke/Dunaszekcső – nur wenige Kilometer von Schomberg und Baar entfernt – am 20.6.1753 die Taufe eines Kindes namens „Franciscus Hersinger“ verzeichnet wurde. Als Vater war „Antonius Hersinger“ angegeben. Wie aus den bei „Familysearch“ einsehbaren Taufeintragungen der Pfarreien Seetschke und Schomberg hervorging, wurden dort bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zahlreiche weitere Geburten unter dem Familiennamen „Hersinger“, „Hirsinger“ oder „Hirschinger“ verzeichnet. Ich befand mich auf der richtigen Spur. (…)
Obwohl ich meine genealogische Forschung mit großer Akribie betrieb, betrachtete ich sie nie als Selbstzweck. Es ging mir nicht allein darum, die Verwandtschaftsverhältnisse und Lebensdaten meiner Vorfahren zu rekonstruieren, sondern ich versuchte, daraus Informationen über ihre Lebensumstände zu gewinnen. Dies betraf vor allem die in Kirchenbüchern enthaltenen Informationen über die Lebenserwartung, Kinderzahl, Kindersterblichkeit, Todesursachen, Berufe und das Heiratssystem im Dorf. Bezogen auf das 17. und 18. Jahrhundert förderten intensive Recherchen im Fürstlich Fürstenbergischen Archiv in Donaueschingen, im Generallandesarchiv Karlsruhe und im Komitatsarchiv Fünfkirchen (Ungarn) eine Fülle zusätzlicher Informationen über die Familie Hirschinger zu Tage, womit ich in diesem Umfang und in dieser Qualität nicht gerechnet hatte. Das anfänglich noch schwankende Bild, das ich mir vom Leben meiner Vorfahren machte, begann klarere Konturen anzunehmen. Um einen lesbaren Text zu gestalten, führte ich die Ergebnisse meiner genealogischen und archivalischen Recherchen mit Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen Literatur, mit Briefen und Dokumenten aus Familienbesitz sowie mit persönlichen Erinnerungen von Angehörigen zusammen, wobei ich eine kritische Distanz gegenüber belanglosen und unglaubwürdigen Anekdoten zu wahren versuchte. Durch die Konfrontation mit zahlreichen tragischen Schicksalen stellte sich bei mir immer wieder emotionale Betroffenheit ein. Hätte ich jemals die Absicht gehabt, eine verklärende Familiengeschichte zu schreiben, so wäre diese Absicht an den harten Fakten gescheitert. Mit zunehmender Dauer der Recherche begann sich meine eigene Wahrnehmung zu verändern und ich revidierte anfängliche Vermutungen und Interpretationen, die sich als unhaltbar erwiesen. Die Familie Hirschinger war im 17. und 18. Jahrhundert eben keine „Lehrerfamilie“ gewesen, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Position von der übrigen Dorfbevölkerung abhob, sondern sie gehörte der unterbäuerlichen landarmen Schicht an, deren Armut und gelegentliche soziale bzw. moralische Auffälligkeit sie teilte. Auch in Ungarn erreichte die Familie nur wenig, sondern stieg nach sehr bescheidenen Anfängen als Kleinhäusler und Kleinbauern infolge der Zwangsversteigerung ihres Besitzes (1877) ins Tagelöhnermilieu ab. Diesem Milieu entkam sie nur durch die kriegsbedingte Flucht in den Jahren 1944/45. In dieser Deutlichkeit war mir dies nie zuvor bewusst geworden. Um die Veränderung meiner eigenen Wahrnehmung zu dokumentieren, fügte ich dem entstehenden Buch Auszüge meiner Reisetagebücher aus den Jahren 1991 bis 2020 bei, versuchte ansonsten jedoch, mich nicht in den Vordergrund der Darstellung zu drängen.
Eine erste schriftliche Zusammenfassung der Recherche-Ergebnisse übergab ich meinem Vater anlässlich seines 80. Geburtstages im November 2017. In den folgenden Jahren führte ich weitere Recherchen in den bereits erwähnten Archiven sowie im Hauptstaatsarchiv Stuttgart durch. Dabei sichtete ich einige bereits bekannte Akten ein zweites Mal und zahlreiche noch unbekannte Akten erstmals. Hinzu kamen Online-Bestände des Diözesanarchivs Fünfkirchen (Ungarn). Die Corona-Krise in den Jahren 2020/21 warf meine Familienforschung aufgrund monatelanger Zugangsbeschränkungen zu Archiven und Kirchenbüchern zeitweilig zurück. Aus dem bis dahin gewonnenen umfangreichen Archivmaterial und weiterem online verfügbaren Material (u.a. österreichisch-ungarische Zeitungen) gewann ich jedoch viele neue Informationen, die meinen Blick auf die Geschichte der Familie Hirschinger deutlich schärften. Dies betraf vor allem die soziale Isolation der in Emmingen verhassten Familie im 17. Jahrhundert sowie ihre Verschuldung in den 1730er, 1740er und 1750er Jahren. Dazu kamen Bräuche und Mentalität des dörflichen Lebens in Emmingen sowie der bescheidene Besitzstand der Familie bzw. ihr wirtschaftlicher und sozialer Abstieg in Bár in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einige sachliche Irrtümer, denen ich aufgesessen war, konnte ich korrigieren und die Darstellung im Ganzen wesentlich detaillierter gestalten, ohne die Grundannahmen meiner früheren Darstellung revidieren zu müssen. (…)
Das Ziel meiner Bemühungen bestand letztlich darin, das Leben der Vorfahren in all seiner Einfachheit, Härte und Tragik, aber auch in den von großem persönlichem Mut zeugenden Wendepunkten darzustellen. Entstanden ist ein breites historisches Panorama, das vom 17. bis ins späte 20. Jahrhundert reicht und in dessen Mittelpunkt 13 Generationen der Familie Hirschinger stehen. Die Akteure sind einfache ungebildete Menschen, die jahrhundertelang in historischer Anonymität versunken waren und nichts von dem leisteten, was später üblicherweise in Geschichtsbüchern steht. Dennoch ist das, was sie tatsächlich leisteten, wert, in Erinnerung gehalten zu werden – und sei das auch „nur“, das Überleben ihrer Familien in schwierigen Zeiten gesichert zu haben und dabei oft genug selbst früh gestorben zu sein. Ihrem Andenken widme ich dieses Buch.”