In letzter Zeit beschäftigt mich die Frage: „Was bedeutet Heimat für den einen oder anderen?“ Welche zusätzliche Bedeutung hat sie, und ab wann können wir einen neuen Wohnort als Heimat bezeichnen? Vor ungefähr 300 Jahren haben die Ahnen der Ungarndeutschen die Entscheidung getroffen, ihr Heimatland zu verlassen und mit großer Hoffnung in einem vielversprechenden Land einen Neuanfang zu wagen. Das geschieht jedoch immer wieder. Aber warum? Was treibt die Menschen dazu? Und wie lange dauert es, bis sie sich in einem neuen Land zu Hause fühlen? Werden sie sich jemals in einem fremden Land heimisch fühlen? In meinem Artikel werde ich diesen Fragen nachgehen.
Man entscheidet sich bewusst für die Auswanderung, wenn die Lebensbedingungen nicht zufriedenstellend sind und man den Wunsch hat, sein Leben grundlegend zu ändern. Aus diesem Grund gab es in der Geschichte immer wieder sogenannte große Auswanderungswellen. Freiwillig auszuwandern ist dabei immer eine individuelle Entscheidung.
Es ist jedoch die Schattenseite der Geschichte, dass die Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ungarn vertrieben wurden, obwohl sie das Land längst als ihre Heimat ansahen. Sie gerieten in den 1930er Jahren ins Visier der Politik, als ihre Identität hinterfragt wurde und man sie nicht als Magyaren ansah, obwohl sie ihrem Heimatland treu blieben. Dabei wurde der Fehler gemacht, die Bedeutung von Heimat mit der von Identität zu verwechseln. Die damals bereits seit 200 Jahren in Ungarn lebenden Ungarndeutschen waren dort längst beheimatet. Sie sprachen einen deutschen Dialekt als Muttersprache und bezeichneten Ungarn als ihr richtiges Zuhause. Zwar war es ihnen zu Beginn der Ansiedlungszeit nicht leicht, sich in einem fremden Land niederzulassen, da die verödete Landschaft von verheerenden Zuständen geprägt war. Viele von ihnen versuchten, den Heimweg zu finden und nach Deutschland zurückzukehren, da sie in Ungarn die versprochene neue Heimat, das Paradies, nicht fanden. Doch mit den Jahren lebten sie sich ein.
Meine Frage ist jedoch, wie lange es dauert, sich in einem neuen Land einzuleben und es als Heimat zu empfinden. Eine Generation? Den damaligen Ansiedlern hat es ebenfalls eine Generation gedauert, bis sie Fuß fassen konnten. Die vertriebenen Ungarndeutschen kamen noch oft zu Besuch, nachdem sie in der Lage waren, ihre frühere Heimat wiederzusehen. Meine Familie erzählte mir oft von diesen Besuchen unserer deutschen Verwandten. Selbst als Kleinkind erlebte ich, wie unsere Verwandten aus Deutschland meine Oma besuchten. Damals konnte ich es als Kind kaum begreifen, warum sie zu uns kamen und warum es ihnen so wichtig war, uns zu sehen. Doch heute verstehe ich, was ihnen Ungarn bedeutete. Ungarn war ihre Wurzel, ihre Identität. Es war das Land, das sie als Heimat bezeichneten.
Sie waren durch die Vertreibung entwurzelt wie ein Baum, der aus dem Boden gerissen wurde. Der Baum überlebte, aber auf dem neuen Boden wollte er einfach keine Wurzeln schlagen. Zwar fand der Baum irgendwann einen geeigneten Boden für sein Anwachsen, doch die Erinnerung an den alten Boden verließ ihn nie. Der Baum bekam jedoch die Gelegenheit, immer wieder zum alten Boden zurückzukehren und seine Erinnerungen aufleben zu lassen. Das tat ihm gut, und er wusste, dass er wieder zu Hause war. Mit der Zeit wurden die Besuche seltener, bis sie schließlich ganz ausblieben, da der Baum alt und zerbrechlich geworden war. Der neue Boden war nun gut genug, um dort weiterzuleben. Der Baum verstreute seine Blüten, und neben ihm wuchsen kleine Bäume, die den neuen Boden als geeignet empfanden. Da sie das alte Feld nicht kannten, hatten die kleinen Bäume keine Sehnsucht mehr, den alten Boden zu besuchen. Mit diesem Vergleich lässt sich die Entwicklung des Begriffs Heimat veranschaulichen.
Wurzeln in einer neuen Heimat zu finden, ist immer mit Risiken verbunden. Es gelingt – oder eben nicht. Viele Faktoren beeinflussen dies, doch meines Erachtens ist die Sprache der wichtigste. Meine ungarndeutschen Verwandten erzählten mir, dass der Neuanfang in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg enorm schwierig war, da das Land zerstört war. Dennoch konnten sie sich vergleichsweise schnell einleben, da sie einen deutschen Dialekt sprachen, auch wenn es am Anfang mit dem Verständnis schwierig war. Die erste Generation überlebte und versuchte, ihren Lebensunterhalt mit irgendeiner Arbeit zu bestreiten. Doch ihre Kinder fanden in Deutschland ein gutes Leben. Sie studierten, erlernten einen Beruf und gründeten eine Familie in der neuen Heimat. Für sie war Ungarn zwar ein Teil ihrer Identität, doch ihr richtiges Zuhause war bereits Deutschland.
Heutzutage ist es genauso. Die erste Generation trifft die Entscheidung, und die Folgegeneration wird in der neuen Heimat aufblühen. Die erste Generation bildet eine Brücke zwischen der alten und neuen Heimat, und die nächste Generation wird diese Brücke endgültig überqueren.
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heimat-Wetzgau.jpg