Um nur kurz einzukaufen, bin ich irgendwann im Sommer in einem Warenhaus in der Branauer Stadt Mohatsch unterwegs gewesen. Es war am frühen Nachmittag bei einer Temperatur von etwa 37 Grad Celsius. Am Eingang schob vor mir eine Frau so zwischen 50 und 60 Jahren ihren Einkaufswagen, in dem ein vielleicht zwei Jahre altes Kleinkind saß, gerade durch die Türschleuse.
Der Kleine blickte neugierig um sich, und er entspannte sich sichtlich durch die deutlich kühlere Temperatur im klimatisierten Raum. Ich habe ihm gerade verstohlen zugelächelt, als ich von seiner Großmutter die folgenden Worte zu sprechen gehört habe: “Koumm, jetz woate mr af ten Outa, kut? Te kemmt kleich. Noch keh mr eikaawe. Tu krichst a etwos Schenes.“
Am liebsten wäre ich stehen geblieben, um diese plötzliche Begegnung als Ereignis zu feiern, aber einerseits bin ich in der Eile gewesen, andererseits ist auch der Outa inzwischen angekommen, und ich habe diese idyllische Szene ganz gewiss nicht zu stören gehabt. Schon zwischen den Regalen im Geschäft habe ich es mir aber dann doch noch anders überlegt, so hätte ich die Leute gerne angesprochen, aber es kreuzten sich unsere Wege leider kein zweites Mal, und ich war, wie gesagt, in der Eile.
Die Begegnung, über die ich dann auch zu Hause mit den Worten: „Hurra, mir sen net ti letzte Schwowe in de Keechet!“ – berichtet habe, hat gewiss nicht nur jenen Tag von mir positiv geladen, sondern überhaupt mich noch einmal darin gestärkt, die Situation meiner Volksgruppe in einem etwas positiveren Licht betrachten zu können.
Eigentlich können zu unserem Erhalt ja ausgeklügelte Projekte, Subventionen aller Art, schulische Bemühungen oder politische Erklärungen am wenigsten helfen, wenn sich um uns nicht solche Beispiele auch in der Öffentlichkeit bemerkbar machen.
In mir kommen Erinnerungen hoch, als noch meine Kinder im Einkaufswagen saßen, und wir mit meiner Frau mit ihnen – wie immer – ebenfalls deutsch gesprochen haben. Bei einem solchen Anlass in einem Geschäft trat eine Frau an uns heran, und sagte etwas vorwurfsvoll zu uns, als ob wir uns dafür zu schämen hätten: „Sie sprechen doch auch ungarisch. Wieso unterhalten Sie sich dann mit Ihren Kindern auf Deutsch?“ – Unsere Antwort ist kurz und bündig ausgefallen, und hieß: „Weil wir die Sprache unserer Ahnen pflegen.“
Schon als unsere Kinder dann die Grundschule besucht haben, trat ein Lehrer mit einer ähnlichen Frage an mich heran. Er fragte mich, ob ich dagegen nicht etwas unternehmen könnte, dass unsere Kinder – sogar auch mit ihrem Cousin noch – in den Pausen untereinander deutsch sprechen, wodurch sie sich absondern. Ich erklärte ihm, dass das Absondern nicht das Ziel sei, wie sie ganz gewiss auch nicht hinter dem Rücken der anderen über sie lästern, dagegen würde ich nämlich ganz klar vorgehen, sondern sei es für sie jene Normalität, an der ich sicher nichts ändern möchte.
In unserem Gespräch suchten wir dann nach Beispielen, wo so etwas unter Kindern möglich sei, sich in einer für die anderen nicht gesprochenen Sprache zu unterhalten, so brachte ich ihm die Ungarn in Siebenbürgen hervor, die in den Pausen gewiss nicht rumänisch miteinander sprechen. „Dies sei etwas Anderes“, sagte der Lehrer, mit etwas verletzten Pathos in seiner Stimme. „Nein, das ist das Gleiche“, sagte ich zu ihm, wodurch unserer Diskussion meinerseits ein Ende gesetzt wurde.
Leider ist der Umstand noch immer nicht klar in den Köpfen beheimatet, dass sich die Nationalkatastrophe von Trianon nicht aus dem Grund ereignet hat, weil es im Land der Magyaren Völker gab, die ihre eigene Sprache sprechen wollten, sondern vielmehr gerade auch deshalb, weil man sie zur Aufgabe ihrer eigenen Identität und ihrer Sprache bewegen wollte.
Es ist kaum zu glauben, dass in unserer geographischen Heimat sich in kaum hundert bis hundertfünfzig Jahren so viel geändert hat! In den Dörfern meiner Region gab es nicht nur eine Zweisprachigkeit, sondern ziemte es sich neben seiner Muttersprache sowie der Amtssprache Ungarisch, wenn es auch weitere Nationalitäten im Ort gab, auch ihre Sprache zu beherrschen. So sprach meine Urgroßmutter zum Beispiel auch Kroatisch. Ich möchte in der genauen Kenntnis ihrer Person behaupten, dass sie ihre Heimat ehrlich geliebt und nie verraten hat – selbst wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Bürgerin zweiter Klasse galt.
In meiner Kindheit, bis in die achtziger Jahre, war meine deutsche Mundart auch auf den Gassen meines Heimatdorfes Surgetin/Szederkény noch lebendig, obwohl durch die Vertreibung und der auf sie folgende ungarische Besiedlung das Ungarische begann, sich als vorherrschend hervorzutun. So wurde ich einmal durch eine Ungarin auf offener Straße angesprochen: „Sváb kisfiú! Magyarul beszélj!“ („Schwabenjunge! Sprich ungarisch!“) Da einschneidende Erlebnisse an einem ändern können, konnte Ähnliches viele von uns dazu zwingen, in der Öffentlichkeit jedes Wort in der eigenen Muttersprache zu meiden, dann den Sprachgebrauch auch unter den eigenen vier Wänden auf Ungarisch umzustellen.
Diese fatale Erscheinung wurde auch zur Zeit der Wende nicht gebührend beachtet, weil damals, als noch ein nicht unbedeutender Rest unserer Volksgruppe – schon in die Tage gekommen, aber noch unter uns – in seiner sprachlichen Einsamkeit seinem Ableben hinterlassen wurde, ohne es zu merken, dass dadurch sich quasi unsere ganze Volksgruppe von ihrer sie erhaltenden Sprache trennt.
„Die Schule wird’s schon machen.“ – hat man damals wohl gedacht, auch mit dem Hintergedanken, sich vom Tausenderlei unserer Mundarten zu trennen, und statt diesem Kauderwelsch, dem Altkram unseres letzten direkten Mitbringsels aus unserer alten Heimat vor 300 Jahren, zugunsten eines zeitgemäßen Hochdeutsch doch endlich zu trennen, um nicht noch von deutschen Gästen und Delegationen, die mit D-Mark unterwegs sind, noch belächelt zu werden.
Nun ja, die Hoffnung hat sich nicht – oder nur kaum erfüllt. Jedenfalls wurde es uns nicht beispielhaft beigebracht, wie man mit seiner Identität umgeht. Auch das nicht, dass man durch seinen Dialekt einen Wert besitzt, der weitergegeben für guten Halt im Leben sowie für einen echten Fortbestand von uns sorgt. Auf diesem Weg hat unsere Mehrheit in der Minderheit ihre Identität verpasst.
Dieser Umstand hat uns sicher keinen Vorteil verschafft, wenn wir auch zu einer politisierten Minderheit geworden sind, die sich kulturell noch – wenn auch immer mehr entfremdet – darstellt, ihrer Sprache aber bald nur noch auf der Beamtenebene mächtig ist. Vielleicht ist auch mehr nicht beabsichtigt? Oder hat man auch etwas mehr noch vor, als Projekte anzustoßen, deren Idee im Rahmen kluger Diskussionen und Konferenzen für die Finanzierung freigegeben werden?
Was bringen sie unter dem Strich? Ergeben sie noch den öffentlichen Gebrauch unserer Sprache oder stirbt alleine ein Schwein, um sich bei Schnaps und Würsten, in welcher Sprache auch immer, gut zu unterhalten, um danach gleich in den sonst für alle gleichen ungarischen Alltag wieder entlassen zu werden? Wie definiert sich noch unsere Identität – und zwar nicht nur auf dem Papier oder als Lippenbekenntnis? Ist unsere Erscheinung in unserer Gesellschaft von heute in Ungarn noch markant genug? Ist dafür alles getan, um unser Dasein als Volksgruppe so darzustellen, um nicht alleine nur Subventionen für unsere Existenz noch in Anspruch zu nehmen?
Im Zusammenhang mit einem aktuellen Hauptprojekt der LdU, die Lehrpfade, las ich in einer Neuerscheinung über die Mehrsprachigkeit in Ungarn[1], dass auch Lehrpfade die „sichtbar gemachte Sprache“ darstellen können, was natürlich schön und gut ist, nur empfände ich es als noch anstrebenswerter, unsere Sprache(n) einfach akustisch hörbar, auf Schritt und Tritt als Mittel unserer täglichen Kommunikation unter uns im Gebrauch zu erleben.
Es gibt also Fragen, die hart klingen, ich könnte sie auf Anhieb auch nicht beantworten. Alleine persönliche Beispiele, die mit finanziellen Umständen und Projekten sicher nichts zu tun haben – wie mein erlebter Fall im Warenhaus von Mohatsch – beweisen mir doch letzte Schimmer einer berechtigten Hoffnung im Zusammenhang damit, dass es Insel unseres Fortbestandes noch gibt, die unserer wahren Identität eine Grundlage verschaffen können. Wer es kann, wer es will, mache entschlossen mit. Es könnte noch immer etwas daraus werden!
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[1] Borbély Anna – Bartha Csilla Többnyelvűség Magyarországon. Budapest, 2024 https://real.mtak.hu/193887/1/tobbnyelvuseg_magyarorszagon.pdf