Fallstudie über die Kirchweihbräuche in der hessischen Sekundärgemeinde Kötsching/Kötcse (Teil 22)
Wir müssen also eine andere logische Frage beantworten, und zwar: Warum ist der denkwürdige Tag der Kirchenweihe, des „Kirweihtages” im Jahre 1798 nicht der 11. November, sondern der 21.? Die Antwort findet sich in den meteorologischen und klimatologischen Gegebenheiten, da der „klimatische” Unterschied zwischen dem südlichen Teil Hessens und jenen Trans-Danubiens genau 10 Tage ausmacht. In der Umgebung Bieberaus endet der Herbst dementsprechend früher, und auch der Winter stellt sich früher ein. In Hessen müssen die Ackerarbeiten deshalb 10 Tage früher abgeschlossen sein. Wenn wir diese 10 Tage zum 11. November hinzurechnen, kommen wir auf den 21. November 1798. Auch heutzutage kommt es manchmal vor, dass es am Katharinentag schneit, und so passierte es häufig, dass die Straßen am ersten Kerbaittag vom Schnee bedeckt waren. Früher schneite es aber sehr selten. Die hessischen Kolonisten in Kötsching mussten demnach das landwirtschaftliche Jahr nicht mehr am 11. November beenden, dafür reichte nun der 21. November; und schlechtes Wetter zu Katharina störte die Feiernden keineswegs mehr.
Es gibt auch eine andere Erklärung, die dieser Theorie scheinbar mehr oder weniger widerspricht. Im Dorfe wird noch immer erzählt, dass „vor langer Zeit” – etwa gegen Ende des 19. Jahrhunderts – das Kerbaitfest nicht aus drei, sondern aus sieben Tagen plus einem Wochenende, also insgesamt aus 10 Tagen bestand. So ist es vielleicht möglich, dass sie eine Zeit lang auch den Martinstag gefeiert hatten? Die Forschungen von Katharina Wild beweisen eindeutig, dass in vielen Siedlungen der Schwäbischen Türkei – egal, ob es sich dabei um eine katholische oder evangelisch-reformierte Gemeinde handelt – jährlich zwei Kirmessen abgehalten wurden, und zwar eine „kleine” und eine „große”. Die „kleine”, meistens die erste, in den Frühlingsmonaten, die andere, die „große” wird aber ab August bis Dezember gefeiert. Die Letztere hieß ursprünglich „Freßkirmes” (Herbstkirmes). In Baar/Bár in der Branau erfolgt die erste am 16. Mai, die zweite am 11. November. Es ist also eine ziemlich große zeitliche Entfernung zwischen den beiden zu bemerken. Selten kommt das Gegenteil vor – zum Beispiel in Seik/Szajk auch in der Branau -, dass die zwei Veranstaltungen in einem zeitlichen Abstand von 10 Tagen im Monat November abgehalten werden.
Die zweiten Kirmessen, die im Herbst nämlich, wurden den Leuten von den kirchlichen und weltlichen Potentaten aus praktischen Überlegungen aufgezwungen, damit die Leute zur Zeit der meisten Arbeit nicht feiern, sondern lieber arbeiten. Diese Ordnung haben die Leute infolge des großen Daicks unwillig übernommen, aber es kam allerdings doch zum Begehen des alten Kirmestages. Wenn auch ohne viel zu schlemmen und trinken, nicht in der Form eines großen Feiertages, aber sie kamen immerhin den Bräuchen ihrer Ahnen nach. Später wird vielleicht einmal auch urkundlich bewiesen werden können, dass diese „Eine-Wöche-Kerbait” in Kötsching nur ein Zusammenrücken des Sankt-Martinstages und der neuen Kerbait am 21. November 193 gewesen sein konnte. Es kann sein, dass der 11. November noch ein wenig weiterlebte; es ist möglich, dass der obligatorische Schluß der Herbstarbeiten noch lange Zeit mit dem Martinstag befristet war, aber dann, weil die neuen Wetterverhältnisse diesen Brauch als überflüssig im Kirchenkalender erachteten; die sogenannte .große Kerbait” blieb am 21. November, und die vorherige „Verbindungskerbait” haben sie auf die Woche nach dem 21. November verlegt. Um die Jahre 1870-80 fand die „Eine-Woche-Kerbait” nach dem 21. statt und nicht wie ursprünglich Mitte November. Die unmittelbare Beziehung zwischen der hessischen Urheitmat liegt also bei Hand, was auch die Familienbäume bezeugen.
Die Zusammenhänge zwischen der Erinnerung an Bieberau und der Familiennamen können wir auch im Beweisprozess verwenden. Johann Schmidt bringt die Rede darauf, dass nicht mehr als 3-4 Familien aus einem Dorf in Deutschland ankommen durften. Eine Groß-Bieberauer, Fuldaer oder Alsfelder Kolonie in Kötsching zu suchen, ist also ein eitler Versuch. Auf Grund der Liste können die Familiennamen Berner, Feick, Hörner, Schupp und Wehner aus Bieberau in Betracht kommen. In Kenntnis des Bieberauer Kirchspiels geht es aber gerade darum, dass hier nicht nur die Muttergemeinde, sondern ein geräumiges Ballungsgebiet in die Untersuchung einbezogen werden kann. So erweitert sich die Gruppe der Menschen, die hinsichtlich des Groß-Bieberauer Bewußtseins wichtig gewesen sein könnten: Auman, Bauman (Ober-Ramstadt), Hirsch (Groß-Gerau), May (Rodau), Pabst (Obernhausen), Roth (Klein-Umstadt), Schmidt (Groß-Gerau). Der Familienname Bruder kann auch in diesem Kreis gesucht werden: Worfeiden, ihre Heimat, liegt nicht weiter Entfernung von Bieberau. Viele Familien unbekannter Herkunft können aus diesem Bereich stammen, wie Lehr, Markolt, Ochs, Rapp, Ross, Seibert, Till, Vájbl/Weibel und Werbach. Diese Namen sind genauso häufig in Südhessen, wie in Hanau oder in Oberhessen. Nicht erschlossen ist zum Beispiel die Herkunft der Fuldaer Linie der Familie Viandt. Es war eine Familie in Lichtenberg, 5 Kilometer von Groß-Bieberau, wo sie im Dienst der Burgherren Burgkapitäne, Priester und Schulmeister waren. Diese kurze Liste beweist, dass ein Einverständnis beim Entscheiden, wann der Kerbait gefeiert wird, kein Zufall is. Die Einwanderer hätten ihre Kirchweihtage auch in der alten Heimat sicherlich aufgrung desselben Systems gefeiert, was von der Wetterlage sehr stark abhing.
Es gibt wenig Hoffnung, dass wir diese Namen unsicherer Herkunft und unbekannter Quelle einmal identifizieren werden, doch solange können keine endgültigen Schlußfolgerungen aus der Bieberauer Sache gezogen werden. Konrad Storck konnte allerdings schreiben und war somit fähig, Bekannte und Verwandte aus Deutschland einzuladen. Eine ganz kurze Zeit erscheint der Name Schuchmann in Kötsching. So hat man den Schwiegervater Konrad Storcks geheißen. Im Gemeindearchiv Groß-Bieberaus sind solche Schriften nicht aufzufinden – wenn man hier an die Briefe von Konrad Storck denkt, die dieser an die Daheimgeliebenen geschickt hat, aber die Zeit selbst ist sehr reich an diesen sogenanten Lockbriefen. Laut Schmidt kamen und gingen die Briefe nach der Auswanderungswelle von 1723/24 selbst noch in den 30-40er Jahren, und ihnen folgten die Geschwister, Eltern, Ehefrauen, Kinder, Bräute und Nachbarn. Die transdanubische Region zeigt ein ähnliches Kommen und Gehen, gleichzeitig werden aber auch diejenigen Familien ansässig, die bleiben, und sie versuchen als unbewußt Mitwirkende eines sich spontan entfaltenden Volkskörpers, die Grundschicht der Kötschinger Dorfgesellschaft mit Erfolg zustandezubringen. (Fortsetzung folgt.)