Gelebtes Nationalitäten-Dasein ist ein uriges Phänomen: eine offen getragene Charakteristik, eine Erscheinung, die man bereit ist zu behalten. Dabei bleibt man nicht ewiggestrig, sondern man geht sehr wohl mit der Zeit, in der man lebt. Nur lehnt man sein Anderssein in seinem gegebenen Mehrheitsmilieu nicht ab, sondern man pflegt es.
Ganze Völker können einem dabei als Vorbild gelten, die es geschafft haben, sich während Jahrtausenden zu überliefern, zu tradieren. Eine Volksgruppe ist ja auch ein Völkchen. Sie möchte in ihrer Eigenart bleiben, wobei das Mehrheitselement sie prägend umgibt. Also entsteht mit der Zeit eine typische Erscheinung, die bereits von der ehemaligen Herkunftsnation abweicht oder durch Merkmale ergänzt wird.
Geht man von der Chemie aus, so kann man sagen, dass durch das Vermischen von Substanzen ein neuer Stoff entsteht, wobei man allerdings auf den Ursprung schließen kann. Der Mensch ist jedenfalls nicht pure Materie, was einen solchen Vergleich schon etwas komplizierter macht. – Andererseits wiederum viel einfacher: Ist man in den Hauptzügen der Mehrheit angepasst, in seiner ganzen Lebensweise, seinen Erscheinungsumständen, aber hat man seine Sprache als Kontinuität seiner Ahnenkette beibehalten, so kann man als Identitätsbeispiel gelten. Als Mensch lebt man nämlich nicht nur im ewigen Jetzt in der Sprache, sondern man führt in ihr jene Tradition fort, die einen mit seinem Ursprung verbindet.
Entlang von gegebenen und aktuellen Interessen im Dienste des Fortschritts legt man viele Erscheinungen und Eigenschaften ab, die eine Volksgruppe von der sie umhüllenden Mehrheit unterscheidet. Das ist ein Kampf zu Zeiten aktueller Mode. Hier gilt es, die wohl größtmögliche Menge von gerade eben ausgestreuten bunten Glasperlen einzusammeln, d. h. die Einnahme von Positionen oder schlicht und einfach finanzielle Bereicherung.
Dieses immer gegenwärtige Schauspiel wird nicht selten zur Ablenkung vom Wesentlichen seiner Zeit inszeniert. Man kann ganz sicher nicht voll isoliert bleiben, obwohl es auch Gegenbeispiele gibt wie die Amischen, die Hutterer oder die Mennoniten-Gemeinden in den USA. Hier wird eine Anpassung nur sehr langsam oder kaum zugelassen. Sie bilden aber auch nicht eine weltliche, sondern eine religiöse Minderheit. Dadurch sind diese Gemeinschaften finanziellen Reizen gegenüber in ihrer Geschlossenheit und in ihrer Entschlossenheit viel mehr resistent: Sie streben nach einem besseren Jenseits,
Wir agieren in Gesellschaften im Alltag. Wir haben es nicht einfach, uns mit einer Tradition vergangener Zeiten zu identifizieren, um uns durch sie an Elemente unserer Identität zu klammern. Dies ist nämlich etwas, das weder zum natürlich umgebenden und ungekünstelt erlebbaren Tagesalltag noch zur Sonntagskultur gehört. Hier sind Tradition und Lebensweise bereits überwunden. Es entsteht vielleicht noch eine Weile eine etwas wehmütige Nostalgie. Sie ist aber kein prägendes und bleibendes Merkmal mehr, da sie kein Mittel für die Zukunft mehr ist, sondern mit der Zeit eine immer weniger authentische Aufführung: eine Bühnenproduktion, die mit dem aktuellen Zustand einer Volksgruppe nur noch sehr wenig zu tun hat.
Von außen her betrachtet wird man dies viel klarer sehen, als von innen her, wo man durch seine Aufführung benommen ist. Man meint, durch sie alles getan zu haben, nur weil man über ein Produkt verfügt – über etwas Handhabbares, das man nach außen hin zeigen kann. Oder ganz im Gegenteil: Man soll zum Beispiel bedenken, dass, als Leni Riefenstahl ihren Film über den Stamm der Nuba in Afrika drehte, die Nuba ihr vor allem vorführten, was sie dachten, dass sie sehen will: also Bilder der Vergangenheit, nicht die Tendenz ihrer Gegenwart, die sie von ihrem Urzustand immer mehr entfernt hatte, da sie sich bereits den Verlockungen der Moderne verschrieben hatten. Eine bewusste Irreführung!
Ist man ein Baum, so kommt man ohne seine Wurzeln nicht aus. Sie sind es, die Nährstoffe zum Wachsen und Wasser, um nicht auszutrocknen, aus dem Boden aufnehmen. Eine nicht geringe Anzahl von Menschen ist heute der Meinung, auch ohne Wurzeln auszukommen und möchte sich von ihnen befreien. In diesem Sinne entreißt man sich selber, um sich in Vasen zu pflanzen, deren künstlicher Nährstoff als noch viel Vorteilhafter erscheint, als ein natürliches Leben zu fristen.
Man denkt, dass man ohne das, was einen mit dem Vergangenen verbindet, gut auskommt. Nur merkt man kaum, wie wenig es einen selbst zu kümmern beginnt, ob man außer für sich selbst noch für irgendjemanden eine Zukunft anvisiert. Das ist der Zustand des Egoismus und der Vorteilshascherei – die allgemeine Krankheit moderner Menschen, die meinen, dass es ausreicht, alles unter den eigenen Einflussbereich und in den eigenen Besitz zu bringen. Sonst will man sich an nichts mehr zu binden, höchstens an den Anschein, der bereits zufriedenstellt.
Wir sind Opfer jener Konkurrenz, die ein besonnenes Leben nicht mehr zulässt wie: seine Eigenart zu pflegen und vor allem auch seine Sprache zu behalten. Was Mühe ist, kostet Kraft. Kraft will man aber im Alltag einsetzen, um im global gewordenen Wettkampf zu bestehen. Was man nicht wahrnimmt, ist, dass man an Kraft von Bestand – statt durch chemische Anabolika – alleine durch seine Wurzeln gelangt.
Nun als aufgestellte These meinerseits soll es heißen, dass man als Volksgruppe ohne die nährenden, festhaltenden und in alle Vergangenheit verbindenden Wurzeln seiner Muttersprache nicht auskommt. Falls sie selbst den Alltag nicht als Merkmal und Identifikationsfaktor durchdringt, besteht man nur noch im Maße ihrer Kenntnis als Vertreter einer Volksgruppe – und das nicht nur heute, sondern in einer Zukunft, die man vor Augen hat. Die Wurzeln sind nämlich nicht nur Anker, sondern gerade auch Flügel.
