Es ist zwischen Weihnachten und Neujahr in einem kleinen Dorf im Komitat Schomodei, südlich des Balatons. In Tapsony wird auf Wunsch der dortigen Dorfbewohner eine Heilige Messe auf Deutsch gefeiert. Ich erfahre davon durch den Pfarrer aus meinem Heimatdorf. Tapsony jedoch hat keine ungarndeutsche Bevölkerung – nicht nur dieses kleine Dorf mit seinen 600 Einwohnern, sondern auch die umliegenden Gemeinden verfügen über keine historischen Aufzeichnungen über die planmäßige Ansiedlung von Deutschen aus früheren Zeiten. Dennoch wächst deren Zahl von Jahr zu Jahr.
Auf meine Frage an die amtierende Bürgermeisterin in Tapsony, wie viele Deutsche in der Gemeinde leben, bekomme ich folgende Antwort: „75 nicht-ungarische Staatsbürger leben hier, darunter viele Deutsche sowie einige Holländer, Engländer, Iren und Ukrainer. Die Gemeinde zählt insgesamt 564 Bewohner, was bedeutet, dass 13 Prozent der Gesamtbevölkerung Zuzügler sind. Die Mehrheit stellt die deutsche Community.“ Aus diesem Grund gibt es mittlerweile einen Bedarf an einem deutschsprachigen Gottesdienst.
Am Ende der Heiligen Messe spreche ich mit einer Teilnehmerin über ihren Aufenthalt in Ungarn. Sie gibt an, sich hier wohlzufühlen und keinen Stress zu erleben, im Vergleich zu ihrem Heimatland.
Aber was zieht die Deutschen nach Ungarn? Ein wohlhabendes und wirtschaftlich starkes Land zu verlassen und nach Ungarn zu ziehen, ist ein ungewöhnlicher Schritt. Was sind also die Beweggründe für diese freiwillige Auswanderung? In meinem Artikel möchte ich dieser Frage nachgehen.
Es gibt bereits zahlreiche Reportagen über dieses Phänomen, und die Zahlen belegen es ebenfalls. Laut des Statistischen Landesamtes (KSH) lebten 1995 etwa 7.427 Deutsche in Ungarn, heute sind es 23.295. Zwar schwanken die Zahlen, aber es ist ein kontinuierlicher Anstieg der in Ungarn ansässigen deutschen Staatsbürger festzustellen.
Bei Befragungen zu den Gründen für die Auswanderung hört man verschiedene Motive. Die Befragten äußern Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen in ihrem Heimatland und kritisieren die Politik der deutschen Regierung. Sie sind gegen die Einwanderungspolitik und fühlen sich durch die hohe Zahl der Zuwanderer unsicher. In Ungarn hingegen finden sie kaum Zuwanderer und schätzen die ungarische Einwanderungspolitik. Doch das ist nur ein Teil der Gründe. Vielmehr spielen auch die günstigen Immobilienpreise, der einfache Behördengang, die schöne Landschaft, die Ruhe, die niedrigen Lebenshaltungskosten und die preiswerten Dienstleistungen eine Rolle für die Neuankömmlinge.
Zudem verbinden viele Deutsche schöne Erinnerungen an den Balaton aus der Zeit der deutschen Teilung, als DDR- und BRD-Bürger dort einander trafen. Der Balaton war ein wichtiger Treffpunkt für geteilte Familien vor der Wiedervereinigung. Heute sind die Immobilienpreise am Plattensee so hoch, dass sich viele kein Haus dort leisten können. Die umliegenden Dörfer bieten jedoch günstige Wohnmöglichkeiten, sodass sich viele westliche Einwanderer dort ein Grundstück erwerben. In Deutschland können sich viele im Alter kein eigenes Haus oder eine Wohnung leisten und wohnen zur Miete. In Ungarn hingegen ist der Erwerb von Eigentum einfacher. Als deutsche Staatsbürger müssen sie auch keine besonderen Hürden bei den Behörden überwinden. In Ungarn sind sie willkommen. Natürlich müssen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten oder ihr Haus sanieren, was ebenfalls mit Kosten verbunden ist, aber das ist auch in Deutschland der Fall.
Ein weiterer interessanter Faktor ist die Altersstruktur. Nur wenige Erwerbstätige ziehen nach Ungarn, obwohl es zahlreiche deutsche Firmen gibt. Die meisten, die für diese Firmen arbeiten, bleiben nur einige Jahre in Ungarn. Die Mehrheit der deutschen Ansiedler ist jedoch im Ruhestand und bezieht ihre Rente aus Deutschland. Ob sie im hohen Alter auch in Ungarn bleiben, ist fraglich, da das Gesundheitssystem in Ungarn unter dem EU-Standard liegt. Daher bevorzugen viele Deutsche, medizinische Behandlungen in ihrer Heimat zu erhalten.
Darüber hinaus locken die niedrig(er)en Lebenshaltungskosten die Deutschen nach Ungarn, obwohl diese in den letzten zwei Jahren stark gestiegen sind und die Lebensmittelpreise mittlerweile die deutschen Preise erreicht oder sogar übertroffen haben. Dennoch sind Dienstleistungen wie Friseur- oder Handwerksdienste in Ungarn noch immer sehr günstig – sie kosten nur einen Bruchteil der deutschen Preise oder sind zumindest halb so teuer.
Interessant ist auch, wo sich die neuen Ansiedler niederlassen. Die meisten bevorzugen die Nähe zum Balaton oder ein Dorf in Transdanubien. Einerseits möchten sie den See in erreichbarer Nähe haben, andererseits sind die Immobilienpreise in den direkt am Balaton gelegenen Orten extrem hoch und somit für viele unerschwinglich. Transdanubien ist aufgrund der ungarndeutschen Bevölkerung besonders attraktiv. In manchen Ortschaften kann man noch heute einen ungarndeutschen Dialekt auf der Straße hören. Dies gibt den neuen Ansiedlern das Gefühl, nicht ausgegrenzt zu sein, da sie durch die Sprache bereits Anschluss finden können.
Auch die ungarische Geschichte spielt eine Rolle, da sie enge Verbindungen zu den deutschsprachigen Ländern im Westen aufweist. Schon Sankt Stephan siedelte dank seiner Frau Gisela deutsche Handwerker im Land an, und im Laufe der Zeit kamen immer mehr Deutsche. Während der Monarchie lebten viele Nationalitäten in Ungarn, die Deutsch als Muttersprache oder Verkehrssprache benutzten. Im 19. Jahrhundert war es in Budapest ganz normal, Deutsch auf der Straße zu sprechen. Auch heute gibt es einige deutsche Medien, die es den neuen Ansiedlern ermöglichen, sich in ihrer Muttersprache über ihr neues Heimatland zu informieren. Ich habe bereits jemanden kennen gelernt, der sich in einer ungarndeutschen Selbstverwaltung engagiert und als Muttersprachler in einer Nationalitätenschule oder einem Nationalitätenkindergarten arbeitet. Regelmäßig finden auch Stammtische statt, bei denen sich die neuen Ansiedler mit anderen Deutschen austauschen können.
Das Leben als Deutscher in Ungarn kann sehr angenehm sein, doch es hat auch seine Schattenseiten. Die ungarische Sprache bleibt für viele ohne eine gezielte Auseinandersetzung unentzifferbar. Manche setzen sich mit der Sprache auseinander, doch nur ein kleiner Teil der Deutschen ist bemüht, sie zu erlernen. Für viele ist die Sprache ein Rätsel, das sie nicht entschlüsseln möchten, oder die Schwierigkeit stellt eine ernsthafte Hürde dar.
Zurück zu meiner Einleitung: Ob es eine Fortsetzung des deutschsprachigen Gottesdienstes in Tapsony geben wird, ist noch unklar, aber immer wieder kommen neue Deutsche, die in Ungarn willkommen geheißen werden. Wie weit sich dieser Trend fortsetzen wird, hängt jedoch stark von den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland ab.
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