Erinnerungen eines Heimatvertriebenen aus Wudersch
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Bearbeitet von Martin Szanyi
Diese Zeilen geben Einblick in das Leben eines Mannes, der die Wechselfälle des 20. Jahrhunderts miterlebt hat. Es ist interessant zu beobachten, wie sich Kindheitserinnerungen mit rückblickenden Momenten des Erwachsenwerdens vermischen. Geschichte nicht aus der Vogelperspektive, sondern Momente der Selbstfindung oder eben auf dem Fußballplatz! Diese Ausschnitte aus seinem Leben sind wie ein Fenster in eine Vergangenheit.
Es geht um Auszüge aus den Erinnerungen des aus Wudersch/Budaörs stammenden Industriekaufmanns Norbert Riedl, der in Neuhausen auf den Fildern heimisch wurde. Der Name Riedl dürfte vielen von uns wohlklingen, hatte sich der Heimatforscher Dr. Franz Riedl, der Vater von Norbert, doch um die Heimatforschung und die Pflege der Kontakte – also um die Heimatverbliebenen insgesamt – ebenso verdient gemacht.
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Teil 3
1957 – Wir machten Urlaub in Diano Marino, Italien, Riviera
Bald eröffneten wir die Badesaison. Sieghilde sah in ihrem neuen Bikini bezaubernd aus. Es war wohltuend, sich von den Meereswellen herumschaukeln zu lassen. Gleich am Strand gab es feine Getränke und Gelati. Jeden Tag hörten wir am Strand die gleichen Melodien. Und Meeresrauschen lauschen beruhigte unser Gemüt und bescherte uns erholsame Urlaubstage. Nicht nur Faulenzen, sondern auch Bewegung haben wir uns gegönnt. Beim Aufstieg zum “Cabo Berta” empfing uns gesunde Bergluft inmitten von Oliven – und Feigenbäumen.
Johann Wolfgang von Goethe war wohl der erste moderne Italienreisende, als er am 3. September 1786 nach Italien aufbrach. Weltbekannt ist sein Bekenntnis ‚als er in seinem Werk Mignon die Frage aufwarf: “Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn;
im dunklen Laub die Goldorangen glühn?“ Dies war schließlich auch ein Teil der Schlüsselworte für unseren Leitgedanken und Beweggrund, unseren Urlaub 1958 wiederum in Italien zu verbringen.
Zum Glück konnten wir uns aber auf einen weiteren Höhepunkt freuen: VENEZIA! Die Stadt am Meer übte gleich eine anziehende Wirkung auf uns aus. Am Lido genoss Sieghilde ihre erste Melone in ihrem Leben. Bei der Fahrt am Canale Grande gab es sehr viel zu bewundern; ganz besonders die Rialtobrücke. Sieghilde war von den vielen Schmuckausstellungen kaum wegzubringen. Leider war die Zeit in Venedig viel zu kurz, aber wir versprachen uns, wiederzukommen.
Nach zehn Jahren bei der AEG spürte ich den Wunsch in mir, etwas Neues zu beginnen. Die Kündigung fiel mir nicht leicht. Am Freitag, den 28. April 1961 war meine Zeit bei der AEG zu Ende.
Auf zwei Rädern bleibt man jung. Mit dem Fahrrad nach Barcelona! Er soll zuverlässig und von der Idee genauso begeistert sein wie ich: der Partner für diese Fahrradtour. Es war nicht leicht, so einen Sportkameraden zu finden. Im Zuge der unaufhaltsamen Motorisierung gibt es immer weniger junge Menschen, die – auf die eigene Muskelkraft angewiesen – so eine weite Urlaubsfahrt unternehmen wollen – trotz großer Begeisterung für die Tour de France oder den Giro D‘Italia. Schneller als erwartet, fand ich den richtigen Partner. Er hieß Erich. Auf die eigene Muskelkraft angewiesen sein – sofort war er für die Idee Feuer und Flamme. Länder und Leute von der Radfahrer-Perspektive aus kennenlernen! Selbstverständlich warteten auf uns sportliche Anstrengungen von 1.200 Radfahrkilometern zunächst auf der Hinfahrt. Bei strahlendem Sonnenschein starteten wir am 31. Mai 1961, an einem Mittwoch. Mit etwas größerer Muskelmotorik konnten wir von Locarno kommend die Orte Ascona, Verbania und Pallanza bewundern. Ganz spannend gestaltete sich für uns Monaco, der nach dem Vatikan kleinste Staat Europas. Mit Stolz ließen wir uns am Eingangsportal des Palastes fotografieren, wo die Wachablösungen stattfinden. Wir radelten sogar hinauf Zum Spielkasino von Monte Carlo. In Nizza begann unsere “Tour de France” mit den Höhepunkten der Côte d‘Azur: Antibes, Cannes St. Raphaël, Fréjus und St. Tropez. Die angepeilte Jugendherberge erreichten wir zu spät, also Übernachtung im Freien in einem Pinienwäldchen bei Juan les-Pins am Cap d‘Antibes. Gut gestärkt ließen wir die Räder hurtig rollen und erreichten am Abend Toulon, die Stadt mit dem wichtigsten “Kriegshafen” Frankreichs am Mittelmeer. Wir mussten ja doch auch die Pyrenäen überwinden. Mit jugendlichem Überschwang traten wir in die Pedale und erreichten bei le Perthus die französisch-spanische Grenze. Und wieder ließen wir unsere Räder mit dynamischen Umdrehungen laufen; von der Costa Brava zur Costa Dorada über Callella, Sant Pol, Canet, Arenys, Mataró, EI Masnou, Badalona und schließlich Barcelona. Am Montag, den 26. Juni 1961 starteten wir zur Rückfahrt nach Tossa de Mar. Nach einigen Tagen konnte ich meine geliebte Sieghilde wieder umarmen und in Gerona abholen.
Ernst Heinkel gründete u.a. die ERNST HEINKEL AG in Stuttgart—Zuffenhausen.
Dort begann er mit der Produktion des knallroten Motorrollers “HEINKEL TOURIST”. Der Viertaktmotor leistete 9 PS auf eine Höchst-Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern. Bald avancierte der HEINKEL TOURIST zum meistverkauften Viertakt-Motorroller der Welt. Später kam noch der Heinkel -Kabinenroller dazu. Am 09. Oktober 1961 wurde ich als Bereichs-Verkaufsleiter eingestellt.
Im Oktober 1961 verlobten wir uns. Im Jahre 1962 lebten wir sehr glückliche Braut und Bräutigam. Die weiteren tiefgreifenden Gespräche konnten wir nur deshalb so intensiv führen, weil wir die gleiche Muttersprache haben.
Sprüche wie: “Die Ehe ist keine Einkehr in den schützenden Hafen, sondern ein Aufbruch ins weite Meer”; und “Die Ehe ist die Oase in der Wüste der Leidenschaft” konnten uns nicht aufhalten.
Gesagt, getan, am Samstag, den 15. Juni 1963 wagten wir den Sprung in die gemeinsame Zukunft. – Wir feierten im Gasthaus zum “Ochsen” in Neuhausen den Bund fürs Leben. Viele Freunde, Verwandte und Bekannte erwiesen uns mit ihrem Besuch die Ehre, bei Gesang und Tanz dabei zu sein. Meine Mitspieler im Fußballverein Neuhausen ergänzten unsere Hochzeitsgesellschaft. Herr Ottmar Kärcher, Chef des Vorstands des Fußballvereins, gab uns mit humorvollen Worten interessante Einblicke ins Vereinsleben – und am nächsten Tag spielte ich in der 1. Mannschaft.
MALLORCA klang in unseren Ohren für eine Hochzeitsreise so vielversprechend und romantisch, dass wir uns spontan in eine „Fokker Friendship“ mit dem Ziel Mallorca eincheckten.
Am 31. März 1964 beendete ich mein Arbeitsverhältnis mit der Firma HEINKEL AG in Stuttgart-Zuffenhausen. Eine neue Firma – nämlich die Firma FESTO-Pneumatic in Berkheim-Esslingen in meiner Nähe – weckte mein Interesse. Gleichzeitig zu meinen Aufgaben gründete ich eine FESTO-Fußball-Abteilung und stellte eine spielstarke Mannschaft zusammen. Jeden Montag leitete ich als „Spielertrainer” das Training. Viele Spiele haben wir erfolgreich bestritten, aber ausgerechnet gegen das Finanzamt Esslingen haben wir verloren.
Mitte Mai 1967 kam ein Mann aus Augsburg zu uns und hielt uns einen Vortrag über eine günstige Kapitalanlage mit Investmentfonds der “Investment Overseas Services” (IOS). Die Vorteile: 1. Inflationssicherheit, 2. Dingliche Sicherheit, 3. Rendite 20 – 30 % und 4. Keine Kapitalertragsteuer! Noch war ich nicht bereit, über das Angebot intensiv nachzudenken, denn meine Arbeit bei der Firma Festo gestaltete sich immer interessanter – umso mehr, als ich mir bei der Messe Erfahrung, noch mehr Fachwissen über Pneumatik und sonstige berufliche Fähigkeiten aneignen konnte. Das führte auch dazu, dass ich mich noch mehr mit der Festofamilie verbunden fühlte.
Am Freitag, den 8. Dezember 1967 flüsterte mir meine Sieghilde freudig-vertrauensvoll ins Ohr: “Ich bin schwanger”. Und das ausgerechnet an “Mariä Empfängnis”! Die IOS ließ nicht locker. Nun stand ich vor einer schweren Entscheidung, denn zwei Herzen schlugen verständlicherweise gleichsam in meiner Brust. Die Festo-Geschäftsleitung und besonders die Verkaufsleitung versuchten mich fürs Bleiben zu bewegen. Dreimal habe ich dann noch meinen Arbeitsvertrag verlängert und erst am 31. Juli 1968 schied ich aus.
Der schlagwortartige Leit- und Grundsatz für meine Zukunft artikulierte sich anspruchsvoll nach einem philosophischen Grundgedanken des französischen Schriftstellers VICTOR HUGO (1802-1885): “Nichts ist mächtiger als eine Idee, die zur richtigen Zeit gekommen ist”.
Bevor ich mit meiner neuen Arbeit so richtig loslegen konnte, bestimmte das – außer meiner Hochzeit mit Sieghilde – wichtigste Ereignis meines Lebens die Gegenwart: Unser erster Sohn ALEXANDER war da! Geboren am 4. August 1968 um 4.50 Uhr, 54 cm und 3450 g. Alexander war ein bildschönes Baby. Als ich ihn in den Arm nahm, übermannte mich ein ganz besonderes Glücksgefühl, das ich derart noch nicht empfinden durfte. Schon mit sieben Monaten konnte Alexander auf unsere Frage “Wie macht der wilde Löwe?” den Löwen mit einem Brummen “m m m” nachahmen. Das tägliche Bad (morgens vor der zweiten Mahlzeit) bereitete ihm großen Spaß. Er strampelte wie ein wilder Löwe in der Badewanne herum. Er ist ja auch im Sternbild des “Löwen” geboren. Am Ende war dann fast kein Wasser mehr in der Badewanne drin. Manchmal blickt er mich fragend mit seinen herrlich blauen Augen an, als ob er sagen möchte: “Oh Mama, Brei essen, muss das sein? Obst mag ich doch viel lieber”. Mit 14 Monaten konntest du schon einige Worte sprechen. Das erste Wort war Mama, das zweite Papa. Dann folgten z.B. Mu = Mund, Gaga (Ei), Wa = Wasser, ba = baden, Be = Bett, Sla = schlafen, Vo = Vogel und ma = Tomate.
Im September 1970 starteten wir mit unserem “Mercedes” in Richtung Frankreich- Spanien zum großen Urlaub nach Tossa de Mar. Und dann ging‘s zum Felsen-Sandstrand. Als Alexanderle zum ersten Mal Meereswasser schmeckte, bemerkte er: “Das ist aber salzig”. “Net schlimm, muss mr halt ein “Bärle” essen.“ Anfang September 1970 fing Alexander schon an, die Automarken zu erkennen: VW, Mercedes, Opel, Ford, Renault und sogar Citroën. Von uns hörte er die Aussprache, nämlich nicht Citrön, sondern Citro-en. Zu seiner Großmama sagte er: “Großmama sag Citro-en” Die Großmama sagte brav: „Zitron – ä“. Wahrscheinlich meinte sie, es handle sich hier um eine Zitrone.
Es tat einen großen Plumps. Alexander war lautstark hingefallen. Beim Aufstehen sagte er: “Ich bin nicht hingefallen, nur gestolpert, hoppla.“ Papa schleckte das Messer ab. Da sagte Alexander: “Messer Gabel, Schere, Licht – brauchen kleine Papis nicht”. Alexander hatte gerade sein Mittagsschläfchen beendet. Ich wollte ihn unter seinem Hemdchen streicheln. Er darauf: “Da hast du nichts verloren”.
Alexander wurde am 4. August 1974 sechs Jahre jung. Mitgefeiert haben die beiden Fingerlin- und Riedl-Großeltern und seine kleine Freundin Karin Heinrich im Garten der Lindenstraße. Wir unterhielten uns intensiv auch über meine Heimatgemeinde BUDAÖRS in Ungarn. Die Großgemeinde Budaörs, nur 7 Kilometer von Budapest, zählte einst 90 % Deutsche. Meine glückliche Kindheit und Jugendzeit ist mir so intensiv und erlebnisreich eingeprägt in Erinnerung geblieben, dass ich immer sehnsuchtsvoll an diese schöne Zeit zurückdenke und ich mich in die damalige Zeit zurückfühle.
In meinen immer wieder erlebten Träumen drehte es sich stets um meine “ALTE HEIMAT” WUDERSCH. Das ging so weit, dass ich in meinen Träumen voll davon überzeugt war, nicht von Budaörs nur zu träumen, sondern dass ich mich tatsächlich in Wudersch befinde!
Mein erster Visumsantrag für die Einreise nach UNGARN wurde 1959 von der zuständigen Behörde der damaligen kommunistischen Regierung abgelehnt. Erst im Jahre 1974 war es dann soweit. Ich durfte “heim!” Die ungarische Fluggesellschaft MALÉV flog nach Budapest.
Mit freudiger Erregung landeten wir – Sieghilde, Alexander und ich – Anfang August 1974 in Budapest. Sofort im Hotel eingecheckt saßen wir schon im Taxi nach BUDAÖRS.
Seit Juli 1944 war ich nicht mehr in meinem geliebten Geburtsort. An der Pfarrkirche angekommen, spürte ich meinen Herzschlag bis an den Hals. Endlich sind meine vielen Träume Wirklichkeit geworden. Ich war tatsächlich daheim. Große Freude, Umarmungen und Küsse! Meiner Sieghilde und unserem Alexander zeigte ich das herrschaftliche Gebäude Benczúr utca 17 in Budapest, wo mein Vater als Professor am Jakob-Bleyer-Gymnasium unterrichtet hatte.
Und am Donnerstag‚ den 1. MAI 1975 um 6.50 Uhr schenkte unsere liebste Sieghilde unserem Sohn Robert das Leben. GEWICHT 3000 gr., “GRÖSSE” 48 cm, Sternbild: STIER!
Wir holten Sieghilde und Robertle heim. Die stolze Großmama Else durfte den Kinderwagen aus der Klinik schieben. Mit Muttermilch trinken, Daumenlutschen, Baden, Füßchen in den Mund nehmen, Schlafen und mit weiteren besonderen Tages- und Nachtabläufen begann dein glückliches Leben.
Robert war so ein süßes, hübsches Baby und gut “zu haben”. Sieghilde sagte dazu: “Robert klein, Robert fein”.
In den ersten vier Wochen beäugten sich unsere zwei Buben – Alexander sieben Jahre und Robert vier Wochen jung – in brüderlicher Neugier. Zu sehen auf dem herzigen Bild: “BRÜDERBLICKE”
Roberts Taufe am Samstag, den 14. Juni 1975 im Filderdom St. Petrus und Paulus in Neuhausen feierte die ganze Familie. Alexander stand mit brennender Kerze standesgemäß Spalier. Die Riten der Taufe haben uns einprägsam zum Nachdenken angeregt.
Es fällt mir leicht und macht mir Freude, mich an schöne Zeiten zurückzutaumeln. Unserem Alexander habe ich versprochen, mit ihm an seinem Geburtstag etwas Besonderes zu unternehmen. So flog ich mit ihm am Donnerstag‚ den 31. Juli 1975 nach Gerona in Nordspanien. Dort angekommen, spielten wir eine Weile am Flugplatzgelände Fußball.
Am Mittwoch, den 24. Dezember 1975 erlebte Robert sein erstes Weihnachtsfest. Das Christkind brachte einen prächtig geschmückten Weihnachtsbaum, Tannenduft und ein Großereignis des Jahres für beide Sprösslinge. Oh, wie schön jubelten die Kinder, dann trudelten schon alle ein, sangen ” Stille Nacht, Heilige Nacht” und die Augen von Alexander und Robert leuchteten wie die Äpfel und Birnen…
Donnerstag, den 15. Februar 1979 Bonmots von Robertle! Noch nicht ganz vier Jahre alt: Mama: “Jetzt zieh dich aber an!” Robertle: “Jetzt mach ich meine Hose schön hin (Schlafanzughose) und dann tu ich mich renovieren (richtig schön anziehen).”
Robertle: “Mama von wo bist du denn?” Mama; “Aus Neuhausen”. “Und der Papa?” “Aus Ungarn”. Und die Oma?” “Auch aus Ungarn”. Und ich und der Alexander sind aus deinem Bauch rauskomma.