Von Richard Guth
(Januar 2022) Es hat fast 30 Jahre gedauert, bis ich es geschafft habe, der Gemeinde im Komitat Naurad einen Besuch abzustatten. Ich war noch Schüler der gymnasialen Oberstufe, als ich während einer Studienfahrt der GJU nach Deutschland zum ersten Mal vom Ort, besser gesagt von einem Gemeinschaftshaus im Ort namens Haus Berkina gehört habe. Berkina/Berkenye wurde vor einigen Monaten wieder in Erinnerung gerufen, als ich auf einen Beitrag des Komitatsportals aus dem Jahre 2019 gestoßen bin, der Berkina als blühende Ortschaft darstellt, wo sogar das deutsche Erbe gepflegt würde. Ein guter Grund, dies vor Ort zu überprüfen.
Vorher unternehme ich aber mit der Familie eine kleine Schlösser-Tour im Grenzgebiet Pest-Naurad – kaum ein Landstrich weist eine noch größere Dichte an Schlössern und Herrenhäusern im Land auf, als diese Mikroregion. Allen voran zeichnete sich bei der Bautätigkeit die Freiherren-Familie von Prónay aus, die bis zur Verstaatlichung gleich mehrere Schlösser in der Gegend besaß, manche gut erhalten, manche recht verfallen. Auch die Dörfer, zum Teil slowakisch bewohnt, zeigen ein ähnliches Bild. Strukturschwäche nennt man dieses Phänomen in Deutschland, mit all ihren Folgeerscheiungen wie Abwanderung, Überalterung und Zerfall der Infrastruktur, am besten sichtbar am Zustand der Straßen und der Gebäude mit viel Leerstand. Unter diesem Gesichtspunkt sticht Berkina mit einem insgesamt geordeneten Ortsbild in der Tat heraus: Alle öffentlichen Gebäuden sind frisch renoviert (nach Angaben der Bewohner in erster Linie ein Verdienst der langjährigen Bürgermeisterin Maria Schmidt) und auch die privaten, mit viel Neubaubestand, sind bis auf wenige Ausnahmen gut in Schuss.
„Es gab einen massiven Zuzug in den letzten Jahren”, erzählt eine Mittsiebzigerin, nach eigenem Bekunden alteingesessene Berkinerin, „und es sind allesamt wertvolle Menschen, viele von ihnen aus Budapest”, und versucht mich von der Idee zu überzeugen, nach Berkina zu ziehen. Und tatsächlich fallen großzügige Einfamilienhäuser am Berghang oberhalb der Bahnlinie auf, die sich auch räumlich vom Altdorf abheben. Während unseres Gespräch läuft eine kaum jüngere Frau mit iPhone in der Hand, modisch gekleidet, an uns vorbei – wie ich später erfahre, gehört sie zu den Neusiedlern aus Budapest, aber mütterlicherseits selber deutschstämmig, ursprünglich aus dem Plattenseeoberland, ihre Oma habe nur Deutsch oder besser gesagt Mundart gesprochen. Sie schätzt den Anteil der alteingesessenen Deutschen auf „bestimmt 70 %”, was die Aussage der bereits zitierten Altberkinerin etwas relativiert, denn viele Ältere seien in den letzten Jahren gestorben und Jahrzehnte lang sei Berkina ein Dorf gewesen, das Bevölkerung an das Umland und Budapest verlor als hinzugewann.
„Allein letztes Jahr sind 11 Männer und 5 Frauen gestorben, so viele wie noch nie”, das sagt bereits eine andere Passantin, die dieses Jahr ihren 80. Geburtstag feiern werde. Und das nicht nur wegen Covid, ergänzt sie. Aber auch sie beobachtet seit Jahren den Zuzug von zum Teil Gutbetuchten, aber auch die Rückkehr der Enkelgeneration der Weggezogenen und zeigt dabei auf ihr Einfamilienhaus, dessen Obergeschoss die Enkelkinder frisch bezogen hätten, denn nichts gehe über die gute Luft und die Naturnähe. Bezüglich der Neuzugezogenen spüre ich auch bei ihr ein hohes Maß an Akzeptanz und eine Art „Willkommenskultur” den Neuen gegenüber, eigentlich keine Selbstverständlichkeit im Falle von zuvor geschlossenen Dorfgemeinschaften.
Auch die gute Verkehrsverbindung an der Bahnlinie und der Nationalstraße 2 gelegen sei entscheidend für die Einwohner, von denen viele neben den Nachbarorten Rétság und Waitzen/Vác nach Budapest pendeln. (Vor Ort ist laut Zeitungsbericht die Dorfgenossenschaft der größte Arbeitgeber, die Obst verarbeitet und vor dem Weitertransport im Kühlhaus lagert.) Gäben es nicht diese schäbigen Züge, so die erste Gesprächspartnerin, immerhin könne man am Hauptbahnhof in der Bischofsstadt Waitzen in die modernen doppelstöckigen Züge einsteigen.
Apropos Bischof: Es war ein Bischof namens Michael Friedrich Althann, der Anfang des 18. Jahrhunderts deutsche Siedler aus dem Bistum Würzburg ansiedelte – der Hinweis darauf kann auf dem Vorplatz vor der Kirche nicht fehlen, genauso wenig der auf die Verschleppung von Dorfebwohnern in die Sowjetunion 1944/45. Auffällig sind noch die vielen Wegkreuze, ohne Ausnahme deutsch beschriftet, selbst noch aus dem 20. Jahrhundert. Heute sieht meine Gesprächspartnerin dieses sprachliche Erbe wie anderswo in Gefahr – auch wenn man in Krippe und Schule die Sprache unterrichte, gehöre sie oder die Mundartform selbst im Kreise der 80-Jährigen nicht mehr zur Alltagssprache, auch wenn diese Generation die fränkische Mundart noch beherrsche. Auch die Sprache des Gottesdienstes, wie gewöhnlich, sei seit langem ungarisch, was der Religiosität der Alteingesessenen keinen Abbruch getan habe – selbst in Covid-Zeiten sei die Kirche im 600 Seelen-Dorf stets voll, so die Achtzigjährige, was auch von der zugezogenen Frau mit dem iPhone bestätigt wird.
Noch ein letzter Blick auf die besagte Kirche oberhalb des Sportvorplatzes, Treffpunkt mit den beiden Damen, und ich nehme Abschied vom Ort und dies bezeichnenderweise an einem Wegkreuz, das direkt an der Zufahrtsstraße steht und den Besucher von weit und fern seit geraumer Zeit begrüßt und genauso verabschiedet.