Von
Alfred von Schwartz
Druck der Röttig-Romwalter Druckerei AG, Ödenburg
Nur die Wahrheit kann uns heilen.
Vorbemerkung der SB-Redaktion
Unser Leser Patrick Rieckmann aus dem Ödenburger Land wies vor einigen Monaten auf ein interessantes historisches Dokument hin, das drei Monate nach der Volksabstimmung in Ödenburg und vor genau 100 Jahren publiziert wurde. Auch wenn manche inhaltlichen und sprachlichen Formulierungen auf den Menschen der Gegenwart befremdlich wirken, stellt Alfred von Schwartz’ Schriftstück eine wichtige Quelle dar, um Denkweisen und historische Vorgänge besser zu verstehen. Diesen Essay veröffentlichen wir in vier Teilen. In dieser SB-Ausgabe können Sie auch eine Rezension zu einer neuen Studie zur Volksabstimmung in Ödenburg lesen (Grenzerfahrungen, Teil Feuilleton).
Teil 3
IV.
So also sah es in unserem lieben Ödenburg zu Anfang dieses Jahrhunderts aus. Ich weiß, das Bild ist nur eine Skizze, aber wer je mit Nationalitätenpolitik zu tun hatte, wird sich ohne viele Mühe ein vollständiges Konterfei zurechtlegen können. Und dann kamen der Weltkrieg, der Zusammenbruch, der Umsturz, im Gefolge Autonomiegesetz, Verordnung über die Gleichberechtigung der nationalen Minderheiten und feierliche Erklärungen der Regierungskreise und führenden Politiker hinsichtlich restloser Durchführung der achtundsechziger Gesetze usw. Nach Wiederherstellung der Monarchie wurde das Autonomiegesetz aufgehoben und auch von den Versprechungen für den Schutz der deutschen Minorität wurde fast nichts erfüllt. Wohl stellte man es dem Einzelnen frei, die Sprache des Unterrichtes der Kinder in der Volksschule zu bestimmen, aber man dachte gar nicht daran, für deutsche Lehrer und Lehrbehelfe Sorge zu tragen. Es ist wahr, einzelne Gerichte und Stuhlrichterämter geben deutsche Bescheide hinaus, das ist aber auch alles. Dagegen wird die chauvinistische Propaganda in erhöhtem Maße betrieben. Man hat in letzter Zeit bei uns unter behördlicher Patronanz wenigstens zehn patriotisch-künstlerische Veranstaltungen inszeniert, bei welchen kein deutsches Wort erklang. Move, Liga und wie sie alle heißen, kennen die deutsche Sprache überhaupt nicht. Man veranstaltet ein großes Sängerfest mit Ausschluss des deutschen Liedes. Nach Neufeld, einer rein deutschen Gemeinde und wichtigstem Grenzort, wurde ein Grenzpolizeihauptmann delegiert, der überhaupt kein Wort Deutsch verstand. Die Fragebogen für die Volkszählung wurden nur ungarisch herausgegeben. Man veranstaltete im Sommer eine große Protestversammlung gegen den Anschluss, zu welchem die deutsche Bevölkerung von drei Komitaten mit Separatzügen hierhergebracht wurde, und unter sieben Festrednern hatte einer die Liebenswürdigkeit, fünf Minuten deutsch zu sprechen. Als man nachher die Landsleute befragte, welchen Eindruck sie gewonnen, sagte einer lakonisch: „Nun, wenn wir nicht schon vor der Versammlung für Ungarn gewesen wären, nach dieser Versammlung würden wir für Österreich stimmen!“ Bedarf es da noch eines weiteren Beweises, dass selbst der Weltkrieg an unserer chauvinistischen Intelligenz spurlos vorübergegangen ist? Wahrlich, diese Herren haben viel vergessen, aber nichts gelernt.
Ja, noch nach dem Abkommen von Venedig hat man es seitens der madjarischen Kreise versäumt, durch aufrichtiges und loyales Vorgehen die deutschen Mitbürger zu gewinnen. Im Gegenteil: Man stellte unmittelbar vor der Abstimmung eine private Kommission zusammen, die die Stimmberechtigten unter Ehrenwort zu der schriftlichen Erklärung aufforderte, dass sie für Ungarn stimmen werden. Die Veranstalter dieser Idee wurden dann nach der Wahl als jene Helden gefeiert, denen das Verbleiben Ödenburgs und der acht Gemeinden bei Ungarn zu verdanken sei. Im Interesse der Wahrheit sei hiemit festgestellt, dass das illoyale und von weiten Kreisen als Erpressung empfundene Vorgehen dieser Herren der ungarischen Sache nicht nur nicht nützte, sondern direkt schadete, weil es hunderte von Stimmberechtigten, die sonst für Ungarn gestimmt hätten, zur Enthaltung von der Wahl oder auch zum Justamentstandpunkt bestimmte. Druck erzeugt eben Gegendruck.
Trotz alledem sahen jene, die obgleich deutscher Abstammung, unter allen Umständen dem Vaterlande Ungarn die Treue zu halten entschlossen waren, der Abstimmung mit Beruhigung entgegen, denn fürwahr, die Zeitumstände waren für Ungarn die denkbar günstigsten. Die Beschränkung der Wahl auf Ödenburg und einige Gemeinden (darunter das ganz madjarische Zinkendorf), der Umstand, dass die Wahl vor Inbesitznahme seitens Österreichs vorgenommen wurde, die trostlose Lage Deutschlands und die verzweifelte Österreichs, endlich die imponierende Ruhe und Objektivität, mit der die Generalskommission der Entente die Wahl vorbereitete und durchführte – alle diese Umstände sprachen dafür, dass die Abstimmung ein glänzender Sieg Ungarns werden müsse.
Nun, es wurde ein knapper zahlenmäßiger Sieg und eine große moralische Niederlage. Denn daran, dass die madjarischen Wähler für Ungarn stimmen werden, konnte doch kein vernünftiger Mensch zweifeln. Die Frage war die: Wie wird die deutsche Bevölkerung stimmen? Und die deutsche Bevölkerung hat Ungarn im Stiche gelassen, denn – wie schon erwähnt – nicht nur auf dem Lande, sondern auch in der Stadt hat mehr als die Hälfte der deutschen Wähler erklärt, dass sie Ungarn verlassen und zu Deutschösterreich kommen will.
Nach der Sachlage ist es wohl ausgeschlossen, in wirtschaftlichen Motiven den Grund des Verhaltens der deutschen Wählerschaft zu suchen. Auch der Propaganda von österreichischer oder großdeutscher Seite kann kein wesentlicher Einfluss auf das Wahlergebnis zugebilligt werden. Der Burgenländler ist nicht leicht zugänglich. Der Hauptgrund, ich möchte sagen, der alleinige Grund liegt tiefer. Er liegt darin, dass die Deutschen Ungarns das Vertrauen in die madjarische Herrschaft, in die Regierung und vielleicht noch mehr in die Verwaltung vollkommen verloren haben. Was erfahrene deutsche Patrioten seit Jahrzehnten befürchteten, ist eingetroffen: Die Deutschen Ungarns sind zur Überzeugung gelangt, dass es ihnen in Ungarn nicht länger möglich sein wird, ihr Deutschtum zu bewahren. Hätten sie noch den geringsten Schimmer von Hoffnung erblickt, dass in Ungarn eine loyale und gerechte Nationalitätenpolitik getrieben werden wird, dann wäre es ihnen nie eingefallen, sich an Deutschland oder Österreich anzuschließen, selbst dann nicht, wenn diese Staaten die mächtigsten und blühendsten wären.
Und dieser Abfall findet unter erschwerenden und höchst traurigen Begleiterscheinungen statt: Die Deutschen sind nun die letzte Nationalität [Minderheit; d. Red.] des alten Ungarn. Bei dem Abfall der Slowaken, Kroaten usw. konnte man noch die Meinung hegen, dass dieser Abfall nicht ganz freiwillig geschehen sei. Die Burgenländler haben sich in Mehrheit und in freier Entschließung gegen Ungarn erklärt. Das ist umso schmerzlicher weil gerade die Deutschen ohne Zweifel die treueste und verlässlichste Nationalität Ungarns gewesen sind. Und unter den Deutschen Ungarns sind wieder die Westungarn diejenigen gewesen, die an Loyalität alle anderen übertrafen. Die Siebenbürger Sachsen und andere deutsche Stämme zeigten mehr oder weniger Hang für Selbstverwaltung, für Absonderung, für Fühlung mit den Reichsdeutschen usw. Wir Burgenländler haben nie solche Ambitionen und Aspirationen gezeigt. Wir haben immer mit fast hündischer Treue alle Weisungen befolgt, die uns von Budapest gegeben wurden und nicht einmal mit dem nahen Niederösterreich, mit dem wir durch zahllose verwandtschaftliche und geschäftliche Bande verknüpft sind, hatten wir völkisch-politische Verbindungen.
Die entscheidende Frage ist nun die: Ist das Verhalten der Mehrheit unser burgenländischen Deutschen bei der Abstimmung vom 14. und 16. Dezember gerechtfertigt – oder nicht?
Es ist traurig, aber leider wahr, dass unser deutsches Volk viel Ursache hatte, die Frage mit „Ja“ zu beantworten. Seit fünfzig Jahren war die Politik Ungarns uns Deutschen im Burgenlande gegenüber die der nicht eingehaltenen Versprechen und des gewaltlosen Terrors. Ohne äußeren Zwang, aber unter dem Deckmantel der patriotischen Pflicht wurden uns – langsam, aber sicher – alle wesentlichen Bildungsmittel und Kulturbehelfe, Schule, Theater, Vereine usw. entweder ganz entzogen oder doch wesentlich eingeschränkt. Knapp vor Ausbruch des Weltkrieges wurde uns sogar verboten, das Wort Ödenburg oder sonst einen uralten deutschen Ortsnamen im Firmenwortlaut zu gebrauchen. Keine Appellation, kein Rekurs half dagegen. Aber Hinweise auf die Gesetze, welche die liberalsten in ganz Europa seien, und feierliche Erklärungen aller Regierungen bekamen wir schockweise! Im Anfang war das Wort, aber in Ungarn ist auch in der Mitte das Wort und selbst am Schlusse nur das Wort, immer das Wort und nie die Tat.
Man täte den Deutschen in Ungarn auch schweres Unrecht, wenn man behaupten wollte, dass sie nicht Geduld besessen und geübt hätten. Vom alten Andrássy bis zum jungen, von Koloman Tisza bis zum Grafen Stefan Tisza, von Desider Szilágyi bis zum Grafen Apponyi warteten wir sehnsüchtig auf den Minister, der endlich einmal dem rüden Chauvinismus Halt gebieten und dem Gesetze Geltung verschaffen wird. Fünfzig Jahre warteten wir umsonst darauf. Es wurde immer schlechter. Die erwähnten „Führer“ sind selbst unter die Chauvinisten gegangen. Jetzt, nach dem Zusammenbruch haben zwar Graf Apponyi und einige andere Politiker erklärt, dass ihre Nationalitätenpolitik ein Irrtum gewesen sei. Aber was haben wir Deutsche davon? Wenn ein Mann von der geistigen Kapazität Apponyis fast fünfzig Jahre brauchte, um seinen Irrtum einzusehen, wie lange werden die Obergespane gewöhnlichen Kalibers und die Vizegespane, die Stuhlrichter und die Notäre brauchen? Das könnte wohl kein Methusalem abwarten.
Also nirgends auch nur der Schein einer Besserung! Im Gegenteil!
Ich halte es für zweifellos, dass jetzt, da die Gefahr der Annexion Ödenburgs vorüber ist, die Madjarisierung in den noch verbleibenden deutschen Gegenden in verstärktem Maße einsetzen wird. Und dabei wird dem Chauvinismus ein Umstand zu Hilfe kommen, der von allergrößter Wichtigkeit ist. In der alten Monarchie war die stärkste Hemmung gegen die Vergewaltigung der Nationalitäten, namentlich der Deutschen, die Armee. Und zwar nicht nur die k. u. k., sondern auch die k. ung. Armee! Auch bei der Honvéd hat der deutsche Mann oder Unteroffizier die deutsche Sprache nicht verlernt, im Gegenteil. Heute ist unsere Armee ganz im chauvinistischen Lager. Der deutsche Rekrut wird nach Beendigung seiner Dienstzeit als Madjare zurückkehren, darum befürchte ich, dass in Zukunft die Madjarisierung in viel schnellerem Tempo fortschreiten wird.
Das Deutschtum in Ungarn steht also vor der Gefahr der völligen Vernichtung. Was dies in ethischer Beziehung bedeuten würde, ist unsagbar. Aber auch vom rein madjarischen Standpunkte betrachtet wäre die Vernichtung des Deutschtums katastrophal. Was die Deutschen in Ungarn geleistet, hat nie und nirgends auf der Welt eine völkische Minorität geleistet. Die Deutschen sind das Salz in Ungarn.
Ich sprach oben von der moralischen Niederlage, aber noch größer ist die politische. Die Ödenburger Abstimmung hat endgültig das vernichtende Urteil über die ungarische Nationalitätenpolitik der letzten fünfzig Jahre gefällt. Wir haben es schon in Friedenszeiten gesehen, wie diese Politik bei den Rumänen, Serben usw. einerseits zur größten Erbitterung, andererseits zur tiefsten Korruption führte, indem die patriotischen Gefühle hüben und drüben Gegenstand intensivsten politischen Kuhhandels wurden. Als einer meiner Freunde (vor dem Kriege) von einer mehrmonatigen Reise in Siebenbürgen heimkehrte, sagte er mir: „Siebenbürgen ist verloren.“ Ich fragte bestürzt, wie er das meine? Er sagte: „Nun, Siebenbürgen ist für Ungarn verloren; die Rumänen haben sich wirtschaftlich und politisch so ausgebreitet, dass das Land schon heute ihnen gehört.“ Und nicht besser sah es im Banat, in der Slowakei usw. aus. Aber davon hörte die Öffentlichkeit nichts. Im Gegenteil: Wir im Westen trösteten uns bei den vielen, großen und schweren Opfern, die wir tagtäglich an deutscher Kultur dem madjarischen Chauvinismus brachten, mit dem Bewusstsein, dadurch beispielgebend gewirkt und dem ungarischen Vaterlande einen großen Dienst erwiesen zu haben. Wie schwer wurden wir getäuscht: Während wir fast schon die letzten Reste unserer alten deutschen Kultur auf den Altar des Vaterlandes legten, hat man es ruhig geduldet, dass die an Kultur in Europa wohl am tiefsten stehenden Rumänen sich wirtschaftlich und politisch immer mehr ausbreiteten und von ganz Siebenbürgen den Madjaren fast nur die Hauptstadt Kolozsvár überließen. Und ähnlich, wenn auch nicht so krass, ging es im Norden und Süden zu. Freilich, die Öffentlichkeit vernahm darüber kaum ein Wort. Das verbot ja schon der Chauvinismus, dessen Eitelkeit durch die Wahrheit gekränkt worden wäre. Und dann – waren denn diese rumänischen Abgeordneten nicht die zuverlässigste Stütze aller Regierungen? Ja, das waren sie wirklich, aber nur ein bisschen teuer musste ihre „Anhänglichkeit“ an Ungarn erkauft und bezahlt werden …
Es ist also zweifellos, dass schon vor dem Weltkriege die Nationalitätenpolitik Ungarns in Ost, Nord und Süd ein vollständiges Fiasko erlitt. Trotzdem wurde bei uns im Westen die „nationale Propaganda“ mit – wenn möglich – gesteigertem Eifer fortgesetzt. Mit welchem Erfolge? Das hat die Volksabstimmung erwiesen. Ziehen wir die Bilanz: Im Jahre 1892 hatte die Stadt Ödenburg madjarische Einwohner 8100 – im Jahre 1914 15.000. Wenn man davon den natürlichen Zuwachs, sowie die Zuwanderung infolge Gründung neuer Institute, Ämter, Fabriken usw. abrechnet, so dürften als Ergebnis der chauvinistischen Propaganda kaum 2000 bis 3000 verbleiben.
Auf dem Lande hat der Chauvinismus überhaupt keinen Erfolg zu verzeichnen. Das kaum merkliche Anwachsen des Madjarentums ist dem natürlichen Zuwachs sowie der Delegierung von ungarischen Beamten zu verdanken. Selbst Proselyten sind hier kaum vorhanden. Das ist der Aktiv-Saldo.
Sehen wir nun die Passiven an: Die deutsche Bevölkerung ist, wie wir oben sahen, in den zweiundzwanzig Jahren 1892-1914 zwar wenig, aber doch zurückgegangen.
Aber was bedeutet diese leibliche Sterilität gegenüber der geistigen? Als ob mit dem Einsetzen des Chauvinismus alle guten Geister von uns geflohen wären! Der deutsche Mann in Westungarn hat sich – der ewigen patriotischen Hemmungen müde – nicht nur vom politischen, sondern mehr und mehr auch vom gesellschaftlichen Leben und vom Vereinsleben zurückgezogen. Er lebt heute nur seinem Berufe oder seinen Geschäften, im Übrigen spinnt er sich ganz in seine vier Wände ein. Aber auch dahin verfolgt ihn der Chauvinismus. Die Kinder bringen aus der Bürger- und Mittelschule Ideen nach Hause, die den Eltern mehr oder weniger fremd und unverständlich sind. Außer der natürlichen Scheidung von Alter und Jugend, noch die künstliche, die am Herzen nagt…
Am Lande sieht es noch trauriger aus. Was unsere Bauernkinder in vier bis fünf Jahren in der Volksschule in ungarischer Sprache erlernten, haben sie in noch kürzerer Zeit fast vergessen. Deutsch aber haben sie gar nicht oder recht mangelhaft gelernt – denn es gab ja für den Lehrer kein höheres Lob, als wenn der Schuldirektor oder gar der Oberstuhlrichter nach der Prüfung konstatieren konnte: „Ma csak magyar szót hallottunk!“ („Heute haben wir kein anderes Wort als Ungarisch gehört!“) Die Folge: Die meisten Landleute können weder Ungarisch, noch Deutsch. Wer darf sich dann darüber wundern, dass unser Volk zurückgeblieben und verwildert ist? Diese deutsche Bevölkerung hat allein auf dem Gebiete der Musik uns Liszt, Goldmark, Hummel, Hans Richter, Nikisch und so viele andere gegeben. Seitdem die deutschen Lehrerbildungsanstalten aufgehoben wurden, ist auch hier die Ebbe eingetreten. Und nirgends ein überhaupt auch nur nennenswerter Ersatz auf anderen kulturellen oder geistigen Gebieten!
Doch nicht nur auf das Deutschtum, auch auf das madjarische Staatswesen hat der Chauvinismus verheerend gewirkt. Darin stimmen nämlich alle Kenner unserer Gegend überein, dass der Chauvinismus mit seinen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen und Imponderabilien der stärkste und entscheidendste Hemmschuh der Entwicklung unserer sonst von Gott so gesegneten Gegend gewesen ist. Die jahrhundertelange Fehde zwischen den Konfessionen hatten wir endlich so ziemlich hinter uns. Nichts störte mehr die ungehemmte Entwicklung, zu deren Durchführung ein selten begabtes, arbeitsames, zähes und vor allem tief konservatives Bürgertum zur Verfügung stand. Wenn dieses Bürgertum sich hätte frei entfalten können, dann wäre Ödenburg heute eine Stadt von mindestens doppelter Einwohnerzahl, worunter die Madjaren in faktisch größerer Zahl vertreten wären als heute. Und was mehr bedeuten würde: eine Stadt, wo deutscher Fleiß und deutscher Bürgersinn mit madjarischer Ritterlichkeit und madjarischer Genialität wetteifern würden! Welche Perspektive! Alles dies hat der Moloch Chauvinismus vernichtet. Wir haben also nicht übertrieben, wenn wir oben behaupteten, dass der Chauvinismus im Burgenlande ein Verbrechen war.
V.
Quid nunc? Was nun?
Nachdem es sich in fünfzigjähriger Erfahrung zeigte, dass der Chauvinismus ein Fiasko machte, gibt es wohl keine andere Wahl als diesen Weg zu verlassen. Wir wollen aber vorsichtig sein und prüfen, ob an dem Misserfolg nicht etwa die unrichtige Ausführung Schuld trägt, obwohl dies bei dem Umstande, dass seit fünfzig Jahren Ungarns größte Politiker ohne Ausnahme dem Chauvinismus huldigten, nicht eben wahrscheinlich ist.
Wir haben oben betont, dass der sozusagen den Angelpunkt der chauvinistischen Nationalitätenpolitik bildende Grundsatz: „Nyelvében él a nemzet!“ („In ihrer Sprache lebt die Nation!“) für polyglotte Staaten falsch sei. Es ist hier gewiss nicht der Ort zu längeren natur- oder staatsrechtlichen Exkursen, jedoch sei folgendes betont: Die Sprache ist das am meisten charakteristische Merkmal sowohl des einzelnen Menschen wie des Volkes. Gesicht, Gestalt, Farbe oder Tracht sind mehr oder weniger Äußerlichkeiten, die Sprache ist nicht nur wie diese das Jahrhunderte alte, steter Wandlung unterliegende Produkt des Einzelnen und der Gesamtheit, sie ist auch zusammen mit der Musik das vollendeteste und fast einzige Ausdrucksmittel unseres Geistes. Le style c’est l’homme, aber man kann mit noch größerer Berechtigung sagen, die Sprache ist die Persönlichkeit. Vom Standpunkte des Natur- und Völkerrechtes ist daher das Verbot des Gebrauches der Muttersprache absolut verwerflich und unter keinen Umständen verzeihlich.
Der Staat könnte zum Beispiel zur Verhütung von Seuchengefahren vorschreiben, dass jeder Einwohner Jägerwäsche tragen oder jedermann das Haupt kahl tragen müsse, aber jemandem und sei es selbst einem Fremden, den Gebrauch seiner Muttersprache zu verbieten, ist eine rechtliche Unmöglichkeit. Der Staat kann höchstens (wie die Kirche) vorschreiben, dass bei gewissen Institutionen und Funktionen eine gewisse Sprache ausschließlich gebraucht werde. Aber es ist selbstverständlich, dass dies nur in Ausnahmefällen geschehen darf, soll es nicht eine unerhörte Vergewaltigung bedeuten.
Das Recht auf die Muttersprache ist also das allerpersönlichste Recht, welches selbst dem einzelnen fremden Staatsbürger nicht geraubt werden darf – umso weniger dem eigenen Staatsbürger oder gar einem ganzen Volksstamme. Wo in einem Staate mehrere Volksstämme oder Nationalitäten vorhanden sind, hat selbstverständlich jede das gleiche Recht auf Ausübung ihrer Sprache. Die größte oder führende Nationalität ist nur die erste unter gleichen. Und ihre Vorrechte können nur dann als berechtigte angesehen werden, wenn sie in der Natur der Sache begründet sind. So z. B. ist es selbstverständlich, dass ein kleiner Staat, der acht Nationalitäten sein eigen nennt, nicht für jede eine Universität oder Akademie der Wissenschaften gründen kann, sondern der Zweck fordert gebieterisch, dass die Sprache der Universität jene sei, die dem größten (eventuell dem gebildetsten) Volksstamme eigen ist. Auch das einheitliche Kommando einer Armee fordert gebieterisch eine einheitliche Dienstsprache. Und so gibt es noch manche Fälle, die aber immer nur Ausnahmen von der Regel bedeuten dürfen.
Der Grundsatz: „In ihrer Sprache lebt die Nation!“ gilt also nur für sprachlich einheitliche Staaten, bei denen also Staat und Nation ein Begriff sind (wie Spanien, England, Frankreich oder Italien). In Staaten mit mehreren Nationalitäten muss es heißen: „Nyelvében él a nemzetiség!“ („In ihrer Sprache lebt die Nationalität“), denn nach Natur- und Völkerrecht hat jede Nationalität gleiche Rechte. Die Außerachtlassung dieses Prinzips und die bei unseren ungarischen Politikern fast sträflich zu nennende Verwechslung der Begriffe „Staat“ und „Nation“ hat unglaubliches Unheil angerichtet. Ungarn hatte nach der Volkszählung vom Jahre 1892 (ich wähle absichtlich einen etwas weiter zurückliegenden Zeitpunkt) 17.000.000 Einwohner. Davon waren 7.400.000 Madjaren. Auch ohne Kroatien und Slawonien erreichte der madjarische Volksstamm nicht die Hälfte der Einwohnerzahl. Aber auch in dem Falle, wenn der madjarische Volksstamm mehr als die Hälfte oder selbst Dreiviertel der Bevölkerung ausmachte, würde das keinerlei Recht begründen, die anderen sieben Nationalitäten zu vergewaltigen. Mit einem Worte: Im alten Ungarn waren die Madjaren auch nur eine Nationalität, aber die erste unter gleichen.
So groß ist die sittliche Macht der Persönlichkeit und ihres stärksten Ausdruckes, der Sprache, dass selbst die Gewalt gegen sie ohnmächtig ist. So paradox es klingt: Man kann eher ein Volk vertilgen als seine Sprache. Die Geschichte bietet uns viele Beispiele von der Ausrottung ganzer Völker, aber kein einziges, wo es gelungen wäre, die Sprache zu vertilgen und das Volk zu erhalten. Die Versuche, in unserer Zeit einen Volksstamm zu entnationalisieren, sind höchst lehrreich. Das mächtige Deutschland, eine Nation von über 60 Millionen, war selbst unter der genialen Führung Bismarcks und trotz Aufwendung hunderter von Millionen nicht imstande, gegen die kulturell inferioreren Polen etwas auszurichten. Im Gegenteil, die Polen gingen gestärkt aus dem Kampfe hervor. Das Resultat des gleichen Experimentes in Elsass-Lothringen und zwar noch in Friedenszeiten ist bekannt. Da wurden noch mehr Millionen geopfert und der Erfolg war gleich Null, was in Anbetracht der kulturellen Gleichwertigkeit des Gegners auch nicht anders zu erwarten war. Frankreich hat an der ligurischen Küste in Nizza und Mentone gegen die Italiener nichts ausgerichtet und das große Russland konnte gegen Polen, Balten, Litauer usw. trotz Rubel, Knute und Sibirien keine nennenswerten Erfolge erzielen. Nicht Gewalt, nur die Zeit vermag gegen die Macht der Sprache etwas auszurichten, und – soweit uns sichtbar – auch nur gegen ganz kleine Sprachinseln. Die gälischen und schottischen Dialekte und einige andere Sprachinseln wurden aufgesaugt. Aber die kleine wallonische Nationalität, eingekeilt zwischen allerersten Kulturnationen, blüht weiter und sogar ganz winzige Natiönchen wie die Wenden oder die Ladiner oder die Basken zeigen überraschende Lebensfähigkeit. Unter solchen Umständen muss es wohl als Wahnsinn bezeichnet werden, wenn das relativ kleine Ungarn, resp. das nicht die Hälfte der Einwohnerzahl betragende Madjarentum sich vermaß, durch ein halbes Jahrhundert hindurch 6 bis 7 Volksstämme – darunter das kulturell turmhoch überragende deutsche Volk – madjarisieren zu wollen.
Aber selbst, wenn es wider Recht und Gerechtigkeit gelänge: Der Staat darf im eigenen Interesse die Volksstämme nicht ihrer Nationalität berauben, denn dadurch schwächt er sich selbst am allermeisten. Wir sahen es im Falle unseres Burgenlandes. In fünfzig Jahren hat Ungarn nicht mehr als einen Zuwachs von einigen tausend Madjaren erreicht, aber dafür hat es eines seiner wertvollsten Gebiete mit fast einer halben Million Einwohner zur zivilisatorischen, kulturellen und volkswirtschaftlichen Stagnierung gebracht. Der Chauvinismus ist ein Auswuchs, eine Krankheit auch dort, wo es sich um national einheitliche Staaten handelt, denn er führt mit Sicherheit zu Zentralismus und Imperialismus. Man sehe doch, wie in Frankreich seit der Herrschaft des Monsieur Chauvin alle edlen Eigenschaften des großen französischen Volkes von der Zentrale zur einheitlichen Nationalspeise verarbeitet werden und wie das französische Bürgertum der kleineren Städte, das immer das wertvollste in Frankreich gewesen ist, seelisch und kulturell verkümmert. Man blicke auf das Deutschland vor dem Kriege, das seit 1870 ja als Nationalstaat gelten kann. Wer kann leugnen, dass seitdem die All- und Großdeutschen (und wie die Deutschen Chauvins alle heißen) von der Hauptzentrale Berlin und von den anderen Nebenzentralen aus die deutsche Welt beherrschen, eine geradezu entsetzliche Leere und Plattheit im deutschen Geistes- und Seelenleben eingetreten ist. Wenn man so die von der „gesamten“ Öffentlichkeit gepriesenen Werke der Berliner Zentrale zur Hand bekommt, da denkt man oft unwillkürlich: Kann das ein Deutscher geschrieben, gedichtet, gemalt oder komponiert haben? Ist das überhaupt noch deutsch?!
Es ist eine höchst merkwürdige Erscheinung, dass der Chauvinist, der doch scheinbar etwas eigenartig Nationales sein sollte, im Grunde der größte Internationalist ist. Ich habe das schon vor fast dreißig Jahren, als ich als neugebackener Jurist die Wiener Universität besuchte, beobachtet. Da kam ich einmal mit deutschnationalen, dann mit serbischen, polnischen, rumänischen usw. Studenten zusammen, wobei mir auffiel, dass sie in politischer Hinsicht alle dieselben Anschauungen hatten: Sie waren nämlich alle Chauvinisten. Auch in der Betätigung und Äußerung ihrer nationalen Gefühle waren sie so gleich. Der ganze Unterschied bestand nämlich darin, dass die einen „Die Wacht am Rhein“ und „Deutschland über alles“ sangen und von Bismarck und Moltke sprachen, während die Kollegen aus Böhmen, Polen und Rumänien ihre Nationallieder sangen und von ihren Heroen sprachen. Man sieht, die Erziehung zum Nationalismus ist so einfach, sie bedarf keiner geistigen Schulung. Das dürfte ja auch mit ein Grund seiner großen Verbreitung und Beliebtheit sein.
Da also die gewaltsame Entnationalisierung eines Volksstammes geradeso wie die faktische Ausrottung vom ethischen Standpunkte aus unmöglich ist und nachdem ein freiwilliger Verzicht auf die Rechte der Nationalität selbst bei kulturell tiefstehenden Volksstämmen ausgeschlossen ist, so bleibt wohl nichts anderes übrig, als den Weg wieder zu suchen, den Ungarn und seine Volksstämme durch neun Jahrhunderte gegangen sind: den Weg des gegenseitigen Vertrauens, der gegenseitigen Achtung und Loyalität. Wir müssen also zurück, zurück zum mindesten bis zu Franz Deák, dem letzten ungarischen Staatsmann, der nicht von der Seuche des Chauvinismus ergriffen wurde.
Als die Arpaden und vorzugsweise König Stefan der Heilige die Deutschen in ihr Land riefen und hier ansiedelten, geschah es deshalb, weil sie einsahen, dass die Madjaren als Nomadenvolk in Europa nicht länger existieren könnten und dass sie der Lehrer bedürfen, die ihnen den Übergang vom Nomadenvolk zum abendländischen Staate ermöglichen. Tatsächlich sind die Deutschen die praeceptores Hungariae [die Lehrer Ungarns; d. Red] gewesen. Es gibt in Ungarn keine Stadt, die nicht von Deutschen gegründet worden wäre. Das Einvernehmen zwischen Madjaren und Deutschen war immer ein ungetrübtes, trotz der riesigen Unterschiede in Charakter und Geistesart. Auch mit den anderen „Nationalitäten“, die teils schon bei der Landnahme hier sesshaft waren, teils erst später kamen, gab es kaum nennenswerte Fehden. Der Verrat, der in der ungarischen Geschichte – namentlich in der Türkenzeit – eine so große Rolle spielte, war fast ausnahmslos immer im eigenen Lager der Madjaren entstanden. Erst als der Teufel der Zwietracht, des Misstrauens, des Neides und der Eifersucht, der Geist der Herrschsucht und Unterdrückung – mit einem Worte der Chauvinismus – bei uns Einzug hielt, bekamen wir alle Segnungen des Nationalbewusstseins zu spüren. Dem alten „táblabíró“ [Tafelrichter; d. Red.] war der Chauvinismus so fremd, wie noch heute dem echt madjarischen Landmann oder Gutsbesitzer, falls letzterer durch den Geist der „patriotischen“ Mittelschule noch nicht infiziert ist.
Bei Untersuchung des Problems dürfen wir eines Umstandes nicht vergessen: Ein national einheitlicher Staat kann wohl leichter und bequemer regiert und administriert werden, aber das Vorhandensein von verschiedenen Nationalitäten hat auch seine Vorteile. Ein homogener Staat erschlafft und verdorrt leicht, während die Bevölkerung eines polyglotten Staates Gelegenheit zum Vergleich, zur Nachahmung und zur Rivalität hat. Die hervorragenden Eigenschaften der einzelnen Nationalitäten kommen nirgends so klar zum Ausdrucke, wie gerade in dem zum Wettbewerb anregenden Organismus des Nationalitätenstaates. Die Rumänen, Serben, Italiener der alten Monarchie haben ein intensiveres „nationales“ Leben geführt, als ihre Konnationalen in den Mutterländern. Und wie das Gemisch der Nationalitäten sogar die Wiege höchster Kunstvollendung werden kann, dafür gibt es ein klassisches Beispiel. Was kann man wohl als die größte Wohltat oder den größten Segen für die Menschheit in der Neuzeit bezeichnen? Ich glaube, dass die große Mehrheit der Einsichtigen und Erfahrenen sich dafür entscheiden würde, dass nicht die großen Entdeckungen der Wissenschaft noch die großen Fortschritte auf medizinischem Gebiete der Neuzeit die größte Summe an Freude und Glück gebracht haben, sondern jene Kunst, die, obwohl so alt wie das Menschengeschlecht, erst in unserem Zeitalter ihre Vollendung erreichte: die Musik. Es scheint fast so, als hätte der moderne Mensch des Buchstabens und des Nationalismus, des Wortes wie der Tat müde, ein Gebiet gesucht, wo er die Sehnsucht nach Harmonie stillen könnte.
(Ende Teil 3)