Wie es angefangen hat. Heroische Jahre der Kolonisation von Kötsching/Kötcse (1700–1730)

Von Prof. Dr. Zoltán Tefner

Teil 7

Und der deutsche Ausstreuung hielt nicht unbedingt an den mitteleuropäischen Grenzen an. Eine beachtliche Gruppe bilden die Auswanderer nach Russland. Diese wurden durch die Ansiedlungspolitik von Kaiserin Katharina teils in die südrussische Steppe, die damals fast völlig menschenleer waren, teils an die Wolgau gelockt. Unter den Kolonisten nach Russland dürften sich auch Verwandte vieler Kötschinger Familien befunden haben, wobei hier einige Namen erwähnt werden können, wie Raab, Reichert, Till, Viandt usw. Bei den Auswanderungszielen nach Russland finden wir keine konkreten Zielbestimmungen, manchmal tauchen Ortsnamen auf wie Odessa, Moskau, Simferopol.

Zwischen 1794 und 1806 brechen hessische Untertanen nach Südafrika auf, im Allgemeinen mit dem Ziel, die Kapkolonie (deutsche Kolonie bei Kapstadt) zu erreichen. Nach der ersten Aufteilung von Polen, 1772, wird auch Galizien ein beliebtes Auswanderungsziel, und später kommen neben anderen mehrere noch recht exotische Ziele wie Suriname und Konstantinopel, also Istanbul, hinzu. Das 19. Jahrhundert, mit seiner industriellen Revolution und den Tendenzen, alte Bevölkerungsstrukturen umzuwandeln, überrollt auch Hessen mit einer Flut von Veränderungen. Innerhalb einer Familie stoßen wir dabei auf die unterschiedlichsten Ziele: Einige der Familienmitglieder fahren nach Liverpool, in das Elsaß, nach Brüssel, Polen, Kroatien oder Litauen, andere aber nach Australien, Texas, Brasilien, Ohio, Kuba oder Griechenland. Von manchen weiß man nur den Namen des Seehafens (Cayenne, Marseilles), nicht aber über deren weitere Ziele.

Eingebettet in diesen welthistorischen Kontext scheint die Besiedlung Kötschings tatsächlich unbedeutend, aber da sie einen Teilaspekt einer Ganzheit darstellt, ist sie innerhalb deren Grenzen genauso bedeutend wie die großen Auswanderungswellen nach Nordamerika oder zur Kapkolonie. Diesem welthistorisch bedeutenden Prozess mussten allerding einige Schritte der kaiserliche Diplomatie vorausgehen.

So schrieb Karl VI. eigenhändig mehrere Briefe an Ernst Ludwig und an die Staatsoberhäupter von Fulda und des benachbarten Kur-Mainz. (Nicht aber an Ludwig Karl von Hessen-Kassel.) Das erste Schreiben schickte er am 20. April 1722 nach Darmstadt, worin er in groben Zügen jenes Konzept auflistete, das dem des Pressburger Landtages sehr ähnlich war: Das entvölkerte Land, falls es nicht wiederbevölkert wird, kann einem späteren türkischen Überfall keinen ausreichenden Widerstand leisten. Kaiser Karl bat Ernst Ludwig darum, dass er diejenigen an der Auswanderung nicht hindern solle, die dazu Neigung verspüren, und er solle sie darin unterstützen, nachdem sie ihre Schulden, Manumissionsgebühr, Zoll usw. abgezahlt haben. Manumissionsgebühr bedeutete eine Summe, die die Auswanderer je nach Kopf zahlen mussten.

Die Souveräne reagierten auf die Bitte des Kaisers – nachdem der Kaiser den Schutz der christlichen Welt ausdrücklich betont hatte – äußerst positiv und Ernst Ludwig hinderte in keinster Weise seine auswanderungswilligen Untertanen; Constantin von Buttler, der Erzbischof von Fulda, verhielt sich da schon etwas zurückhaltender, denn er versuchte, seinen Untertanen von einer eventuellen Auswanderung abzuraten. Derartige spontane Auswanderungen gab es im fuldischen Lande schon um 1717: Viele waren damals weggegangen, doch es kamen auch wieder viele verarmt, ausgeplündert und verbittert zurück. Constantin von Buttlar erließ am 28. März 1718 ein Patent, in dem er die Erzählung eines bestimmten Konrad Röders über die ungarnländischen Verhältnisse kundgegeben hatte. Röder ließ nach seiner Rückkehr eine Äußerung in dem Sinne fallen, dass er  während seines Hin- und Herziehens zugrundegegangen, sein Hab und Gut aufgezehrt sei, es in Ungarn eine vollkommene Leibeigenschaft gäbe und solche Verhältnisse herrschten, dass ein Deutscher sich unter den dortigen Unständen nicht durchzuhelfen vermöge.

Die größte Bereitschaft zur Mitwirkung zeigte also Ernst Ludwig, während andere Landesfürsten den Brief von ihrem Herrscher nicht einmal beantworteten. Ernst Ludwig tolerierte sogar das oft freche und aggressive Auftreten jener aus Österreich und Ungarn kommenden Aussiedlungswerber. Diese Agenten folgten Wiener und ungarischen Weisungen und für die einzelnen Auswanderer erhielten sie ein beträchtliches Kopfgeld. An der Spitze der Besiedlungskommission stand General Claudius Florymundus Mercy, Generalverwalter des Banats (Kaiserliche und Königliche Ober-Cammeralverwaltung), der alle Fäden dieser Organisation zog, sodass die Werber ausschließlich seinen Weisungen zu folgen hatten.

Das Werbezentrum der hessischen Kolonisten befand sich zuerst – ab März 1722 – am jenseitigen Rheinufer in Worms. Johann Albert Kraus war dessen Leiter, der mit kaiserlicher Genehmigung seine Werbetätigkeit betrieb. Sein erster Auftrag enthielt die Umsiedlung von 100 Familien ins Banat, andere folgten. Kraus wurde später durch Johann Franz Falk ersetzt und auch das Auswanderungsbüro bekam mit dem Frankfurter Kaufmann Johann Georg Müller einen neuen Agenten. Der namhafte Chroniker der deutschen Aussiedlung, der evangelische Pastor von Jerking/Györköny Johann Schmidt zitiert den Brief eines Angestellten des Amtes Umstadt namens Wilhelm Ludwig Sterck. Sterck berichtet darin nicht am günstigsten über die Arbeit der Agenten und hält fest, dass sie die Menschen unter verschiedenen Vorwänden zur ungarnländischen Auswanderung lockten. Sterck wisse irgendwelche Verfahren gegen sie einzuleiten und fragt seinen Fürsten, was für welche das sein sollen. Die Werber (Missarii), durch das hohe Kopfgeld angespornt, handelten meist in ihrem eigenen Interesse, was wiederum die Autorität des hessischen Staates verletzte. In der Regel warben sie in den Kneipen und auf Märkten und hängten ihre Webeplakate in den Rathäusern aus, in denen sie die Vorteile Ungarns übertrieben priesen, um auf diese Weise Klienten zu finden. Die Aushänge galten eigentlich als offene Patente, eines dieser Patente stammte auch vom Kaiser, datiert auf den 22. März 1722, das inhaltlich gesehen den früher angbrachten Entwürfen des Pressburger Landtages ähnelt, wie dem kaiserlichen Briefwechsel mit Ernst Ludwig.

Mercy Claudius verfügte jedoch auch über Patente, die unter seinem Namen erlassen worden waren. Falk und seine Genossen haben die Propaganda oft übertrieben, demzufolge gerieten einige von ihnen hinter Gitter. Ein Werber Falks saß kurze Zeit in Siegen im Gefängnis, drei Tage später wurde er aber unter der Bedingung freigelassen, dass er die Bevölkerung nicht aufrühre und er sich fortmachen solle. Nach ein gewisser Schonzeit war das Maß allerdings voll. Am 1. November 1723 bittet der Geheimrat (eigentlich der hessische Ministerrat) den Großfürsten um die Aufhebung jeglicher Agententätigkeit. Und in der Folge traten mehrere Verordnungen in Erscheinung, die die Kreisbeamten dazu aufforderten, die Werber nicht mehr länger zu dulden und sie zu ihrer Ausweisung zu zwingen.

Doch schlugen all diese Versuche fehl, denn durch die Übervölkerung in den deutschen Ländern, die eine Nahrungsmittelknappheit zur Folge hatte, durch die harten Lebensverhältnisse und durch eine Reihe von oben dargelegten Schwierigkeiten war 1722/23 die soziale Expansion – trotz verordneter Beschwichtigung von oben – nicht mehr zu verhindern und dazu gehörte auch der Auswanderungswille der Untertanen, deren Weggehen nichts anderes als ein Protest war. Und die neue Heimat in der Tolnau, Branau und in Kötsching wartete auf sie, wenn auch nicht mit einem Versorgungsniveau eines Kanaans, aber jedenfalls mit viel menschenwürdigeren Lebensverhältnissen.


                                                                                

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