Von Armin Stein
Während ich auf YouTube alte Videos durchstöberte bin ich auf eine seltene Perle gestoßen:
https://www.youtube.com/watch?v=5w16q87-P-M
Gedreht 1983 bietet der in etwa halbstündige Dokumentarfilm einen Einblick in die Folgen einer Ära großen Wandels für das Ungarndeutschtum der Tolnau und Branau. Dargestellt wird, wie die Bevölkerung aus den Dörfern in die regionalen Zentren und Städte strömt, wie alte Gemeinden aufgerüttelt und entfremdet werden, wie die letzte Generation, die noch den traditionellen Lebensstil vor dem Krieg pflegte, alleine bleibt, ohne familiären Kontakt im Alltag. Es wird aufgezeigt, wie bis dahin von Ungarndeutschen umgebene Menschen plötzlich zu “Deutschen” unter “Ungarn” (Madjaren) werden, und wie dies den Sprachgebrauch in den betroffenen Haushalten beeinflusst. Dieser Film wird bald auch eine eigene Filmkritik erhalten, zuerst möchte ich jedoch über meine eigene Familiengeschichte schreiben und wie der Sprachgebrauch sich innerhalb meiner Familie in den letzten Jahrzehnten verändert hat.
Meine Familie stammt aus Kleindorog/Kisdorog, ein für die Region recht typisches kleines Dorf, das bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges fast ausschließlich deutschsprachig war. (Auch der Altbischof von Fünfkirchen, Michael Mayer, ist gebürtiger Kleindoroger – in der Weihnachtsausgabe des Sonntagsblattes können Sie ein Gespräch mit dem ehemaligen Oberhirten, der im Januar seinen achtzigsten Geburtstag feiern wird, lesen, Red.). Der örtliche Dialekt, “Tarakrisch”, wurde in der Familie und unter Freunden gesprochen, Ungarisch benutzte man nur beim Arzt oder beim Geschäftemachen außerhalb des Dorfes. Mit dem Ende des Krieges und den Wirren der Nachkriegszeit wurde die deutsche Sprache im öffentlichen Raum verboten, was den Sprachgebrauch der verschiedenen Generationen auf verschiedene Weise betraf: Während die älteren Generationen weiterhin untereinander “tarakrisch” reden konnten, so mussten die Arbeitenden und Schüler ungarisch sprechen, wenn sie nicht daheim waren. Doch auch das wirtschaftliche Umfeld veränderte sich, erst die Enteignungen und später die Kollektivierung des Landbesitzes führten zu einer Verschlechterung der Einkommensperspektive in den einst blühenden, agrarisch geprägten Regionen.
Dieser dramatische Wandel der Lebensweise verschonte auch meine Großmutter nicht, da sie in der Hoffnung auf einen besser bezahlten Arbeitsplatz nach Stuhlweißenburg/Székesfehérvár zog, wo sie bei Videoton Fernseher montierte. Nach einigen Jahren kehrte sie nach Kleindorog zurück, um zu heiraten und eine Familie zu gründen, Arbeit jedoch konnte sie in Kleindorg nicht mehr finden, weshalb sie, als Laborantin des regionalen Bäckereiverbandes, täglich nach Bonnhard/Bonyhád pendelte. Dieser Prozess des wirtschaftlichen Verkümmerns der ländlichen Gegenden betraf natürlich nicht nur Ungarndeutsche, da es aber für Ungarndeutsche oft auch mit dem Verlust der Möglichkeit im Alltag deutsch zu sprechen verbunden war, hatte er umso schwerwiegendere Konsequenzen.
Meine Großmutter bekam in den Jahren nach ihrer Hochzeit zwei Töchter, die die frühen Jahre ihrer Kindheit in Kleindorog verbrachten, jedoch bald in das regionale Zentrum Bonnhard umzogen. Zwar ist Bonnhard ein Zentrum des Ungarndeutschtums, aber da die Unterrichtssprache ungarisch war und es hier mehrheitlich ungarischsprachige Kinder gab, entwickelte sich schnell eine Situation, in der man nur zu Hause, miteinander deutsch sprechen konnte, was dazu führte, dass es allmählich bequemer wurde sich auf Ungarisch zu unterhalten. Dies führte dazu, dass der “tarakrische” Dialekt nicht mehr an die Generation meiner Eltern weitergegeben wurde.
Selbstverständlich brach der Kontakt zwischen den in Kleindorog gebliebenen “Älteren” und der nach Bonnhard gezogenen Familie nicht ab, er wurde lediglich sporadischer, als aus Zusammenleben Wochenendbesuche wurden. Dieser Zerfall des alten Netzwerkes von Bekannten und Großfamilie führte auch zwischen den Generationen zu Spannungen. Die Generation, die auf dem Dorf blieb, sprach unter sich ja “Tarakrisch” und sah Ansprachen auf Ungarisch als unerwünscht an, während die Jugendlichen bereits vermehrt Ungarisch benutzten und den Dialekt meist zwar passiv verstanden, aber dem nicht mächtig waren.
Man kann sich nun die Frage stellen, ob dies das Ende der Geschichte ist, ein Aus mit Sprache und Identität. Jedoch kam es nicht so, wie sich das manch ein Parteifunktionär in den 1950er Jahren erträumt hat. Schon vor der Wende entstanden erste Strukturen der ungarndeutschen Minderheit, die sich nach der Wende und durch die Vereinfachung des Kontaktes zu den deutschsprachigen Mutterländern weiterentwickelten. Jedoch muss einem auch klar werden, dass das Alte niemals wiederkehren wird. Die meisten Dialekte sind schon ausgestorben oder am Aussterben und haben keine echte Verwendung im Alltag, wie an so vielen Orten der Welt werden in Kürze auch die letzten Dialekte des Ungarndeutschtums aussterben. Die Ungarndeutschen der Gegenwart und Zukunft werden (auch) Hochdeutsch sprechen, wenn auch mit Elementen und Relikten aus dem Dialekt des Heimatortes der Familie. Auch das sprachliche Umfeld wird aller Voraussicht nach unverändert bleiben, denn fast alle Ungarndeutschen leben in Situationen, wo deutsch höchstens zu Hause und im Deutschunterricht gesprochen wird, da die intakten Dorfgemeinschaften verschwunden sind, was den Erhalt der Identität erschwert und die Aufgabe der Identitätsbildung einzig auf die eigene Familie überträgt.