„Wochenblatt” der deutschen Minderheit in Polen feiert 30. Jubiläum – Chefredakteur Dr. Rudolf Urban im SB-Gespräch
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SB: Ihre Zeitschrift „Wochenblatt” wurde vor 30 Jahren, in der Wendezeit, gegründet – welche Erinnerungen haben Sie/ hat die Redaktion an diese Zeit?
WB: Die Zeitung, damals noch unter dem Namen „Oberschlesische Nachrichten“, wurde erstmals am 20. April 1990 herausgegeben und zwar noch als Teil der Tageszeitung „Trybuna Opolska“, die bis vor kurzem das kommunistische Parteiblatt für die Region gewesen ist. Dementsprechend wurde die Zeitung bei den damaligen polnischen Journalisten nicht mit Wohlwollen angesehen, was auch dazu führte, dass die deutsche Minderheit schnell Wege gesucht hat, um einen eigenen Verlag zu gründen und völlig eigenständig die Zeitung herauszugeben. Der erste Chefredakteur Engelbert Mis erinnert sich in einem Interview zum Jubiläum unserer Zeitung, dass sich die Kollegen damals nicht nur verbalen Attacken ausgesetzt fühlten, sondern Gegner der Zeitung bzw. der deutschen Minderheit auch handgreiflich wurden. Schnell jedoch hat sich die Öffentlichkeit an die Existenz der bis 1989 verleugneten deutschen Minderheit gewöhnt, also auch an unsere Zeitung.
SB: War das Wochenblatt ein völlig neues Presseprodukt oder gab es einen Vorgänger, aus dem dieses hervorgegangen ist?
WB: Ja, die Zeitung war ein völlig neues Produkt, denn seit 1945 gab es keine deutsche Regionalpresse in Oberschlesien. Anders sah es in Niederschlesien aus, wo die Deutschen in Waldenburg und Breslau anerkannt waren und zumindest einige Jahre lang auch eine eigene, wenn auch parteikonforme Zeitung hatten. Die „Oberschlesischen Nachrichten“, später „Oberschlesische Zeitung“, „Schlesisches Wochenblatt“ und schließlich heute „Wochenblatt.pl“ war eine damals neue Initiative der Minderheit, die eben eine eigene Presse haben wollte. Später kamen noch, ebenfalls in Eigenregie der Minderheit, die TV-Sendung „Schlesien Journal“ hinzu, die bis heute im öffentlich-rechtlichen Sender ausgestrahlt wird, sowie diverse Radiosendungen in öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern.
SB: Was hat sich in den letzten 30 Jahren im Leben der Zeitung verändert?
WB: 30 Jahre sind eine Menge Zeit. Natürlich hat sich bei der Technik und Technologie viel getan, aber auch bei den Lesern selbst. Wie jedes Papier-Medium müssen wir heute auch online unterwegs sein, um dort unsere Leser zu erreichen. Ich glaube, viele Journalisten der Anfangsjahre unserer Zeitung hätten nicht gedacht, dass man einmal als „Zeitungsmensch“ auch Fotos, Audio- und Videobeiträge machen muss.
Was im Grunde unverändert blieb, ist die Thematik unserer Zeitung. Wir berichten von Anfang an über die deutsche Minderheit in Schlesien und anderen Teilen Polens: die Geschichte, gegenwärtige politische, kulturelle und soziale Tätigkeit sowie Zukunftspläne. In den letzten Jahren kamen noch die deutsch-polnischen Beziehungen hinzu, denen wir immer mehr Platz widmen. Ebenso unverändert blieb die Zweisprachigkeit der Zeitung. Zwar werden nicht alle Beiträge übersetzt, aber ein erheblicher Teil der Artikel erscheint sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch. Was anfangs eine Lösung für die Minderheitsmitglieder selbst sein sollte, von denen viele kein Deutsch konnten, da diese Sprache 45 Jahre lang im öffentlichen Raum verboten gewesen ist und vor allem in oberschlesischen Dörfern, wo die meisten Deutschen wohnen, nicht gelehrt werden durfte, entpuppte sich als gute Lösung, um auch an die interessierte polnische Mehrheit zu kommen. Wir wollen ja nicht nur innerhalb der Minderheit gelesen werden, sondern auch die polnischen Mitbewohner und Nachbarn erreichen.
SB: Wie sieht der Alltag beim Wochenblatt aus?
WB: Wir sind in der Redaktion drei Personen, die fest angestellt sind, hinzu kommt eine ifa-Redakteurin. Alle anderen journalistischen Mitarbeiter, mit denen ich auch unsere Korrespondenten in den anderen Regionen Polens meine, sowie unser Graphiker, der Übersetzer und die Korrekturleser sind Freie. Wenn ich alle zusammenrechne, sind wir ein Team von ca. 12 Personen, die jede Woche die 16-seitige Zeitung machen. Unsere Auflage beträgt aktuell 4400 Exemplare und die Zeitung wird sowohl an Kiosken und anderen Verkaufsstellen in verschiedenen Städten angeboten sowie über ein Abo.
Da wir in der Redaktion nicht nur die Zeitung, sondern auch die Fernsehsendung und die Radiosendungen machen, ist der Alltag oft stressig, da manchmal ein Thema „jetzt sofort” auf allen Kanälen bespielt werden muss. Aber irgendwie schaffen wir es jede Woche die Zeitung rechtzeitig in den Druck zu bekommen und unsere TV- und Radiosendungen an die Sender zu schicken.
SB: Wie Sie bereits angesprochen haben: Online nimmt einen immer größeren Platz im Leben der Menschen ein – welche Auswirkungen hat das auf das Wochenblatt?
WB: Ja, online ist ein sehr wichtiger Teil unserer Arbeit, denn wir finden vor allem dort unsere neuen Leser. Diese können wir aber nicht damit erreichen, dass wir einfach unsere Artikel auf die Internetseite stellen, deshalb gibt es dazu immer häufiger Audiobeiträge, kurze Filme oder Videointerviews. Wir versuchen uns auch an Live-Sendungen, auch wenn wir da noch etwas üben müssen. Es ist halt eine andere Art zu arbeiten, aber auch die macht unheimlich Spaß, weil man da auch immer wieder etwas Neues ausprobieren kann.
SB: Unsere Zeitung beschäftigt sich des Öfteren mit den deutschen Minderheiten außerhalb Ungarns – wie sieht die sprachliche, demografische, kulturelle und politische Situation der deutschen Minderheit in Polen aus? Mit welchen Herausforderungen wird diese konfrontiert?
WB: Die deutsche Minderheit wohnt vor allem in Schlesien, genauer in Oberschlesien. Im sog. Norden, also den Regionen Ermland-Masuren, Pommern, Westpommern, Großpolen und Lodsch gibt es zwar auch kleinere oder größere Gemeinschaften, die sich zu Vereinen und Verbänden zusammengetan haben, sie leben aber in einer wirklichen Diaspora. Wenn man nur die Angaben der Volkszählung von 2011 nimmt, gibt es in Polen ca. 140.000 Deutsche, zehn Jahre früher waren es knapp 150.000, was bedeutet, dass die Minderheit zwar schrumpft, aber nicht in einem drastischen Tempo, wie es einige erwarten würden. Von diesen Mitgliedern sind aber nicht alle deutschsprachig, auch 30 Jahre nach der politischen Wende, was einer der Schwachpunkte der deutschen Minderheit ist. Dies ist aber damit zu erklären, dass gerade die sog. mittlere Generation, also Personen, die um das Kriegsende herum geboren wurden, in einem antideutsch gesinnten Polen aufgewachsen sind und deren Eltern oft aus Angst vor Repressalien Deutsch nur untereinander gesprochen haben, die Sprache aber an die Kinder nicht weitergaben. So entstand eine große Lücke, die bis heute andauert. Die Urgroßeltern sprachen Deutsch, deren Kinder können meist diese Sprache nicht mehr, weil sie eben zu der o.g. Generation gehören und erst die Enkel und heute Urenkel lernen Deutsch in der Schule. In immer mehr Familien entscheidet man sich bewusst für die zweisprachige Erziehung, was zeigt, dass die Sprache vielleicht nicht flächendeckend gesprochen wird, aber wenn ja, dann sehr bewusst als lebendige Sprache, die zu der Region und den Menschen dazugehört.
Politisch ist die deutsche Minderheit sehr aktiv, auch wenn da vor allem die Oppelner Region, in deren Hauptstadt unsere Redaktion ist, federführend agiert. Hier nämlich regiert die Minderheit im Lokalparlament mit, stellt drei Landräte und regiert in zwei weiteren Kreisen mit, auch etwa 25 Bürgermeister unterschiedlich großer Dorfgemeinden kommen aus der Minderheit und folglich auch gibt es viele Gemeinderäte. Eine so aktive politische Tätigkeit der Minderheit gibt es in anderen Regionen nicht. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass der einzige Parlamentsabgeordnete der deutschen Minderheit aus der Oppelner Region heraus gewählt wird. Nur hier hat die Minderheit noch so viele Wähler, dass sie es immer wieder schafft, zumindest diesen einen Vertreter in den Sejm zu schicken.
Eine Herausforderung bleibt für die Minderheit vor allem die Jugendarbeit, damit auch Nachfolger da sind, wenn die heutigen Aktiven einmal in den Ruhestand gehen. In den letzten Jahren wurde aber auch die Zusammenarbeit mit der polnischen Regierung zu einer Herausforderung, denn einige Entscheidungen, die von der regierenden PiS-Partei getroffen wurden, zielen vor allem auf Vertreter anderer Nationen ab. So darf ein polnischer Richter, der auch einen deutschen Pass besitzt, nicht mehr am Gericht arbeiten. Vor zwei Jahren wollte man, dass Landräte Informationen über führende Vertreter von offiziellen und inoffiziellen Gruppierungen der Minderheiten an das Verteidigungsministerium weitergeben und nicht zuletzt kämpft die deutsche Minderheit dagegen an, dass der Deutschunterricht an öffentlichen Grundschulen in den letzten beiden Klassen verringert wird. Das ist nur ein kurzer Einblick, denn eigentlich könnte man ja über die Lage der Deutschen in Polen noch viel länger und ausführlicher sprechen.
SB: Sie haben in Coronazeiten stets über deutschsprachige Heilige Messen, im Internet übertragen, informiert – Polen gilt immer noch als eines der „katholischsten” Länder Europas – wie ist es dabei um die deutschsprachige Seelsorge bestellt (ich habe ein-zwei Messen verfolgt, man sah, wie auch in Ungarn oft, nicht rein deutschsprachige Gottesdienste)?
WB: Es ist richtig, dass die meisten Mitglieder der deutschen Minderheit zur katholischen Kirche gehören, aber wir haben auch evangelische Christen unter uns, die vor allem von der evangelischen deutschsprachigen Gemeinde in Breslau betreut werden.
Wenn es um die katholische deutschsprachige Seelsorge geht, ist offiziell alles in Ordnung. In den schlesischen Bistümern gibt es Minderheitenseelsorger, das Bistum Oppeln hat sogar in seinen Synodaldokumenten die Minderheitenseelsorge detailliert charakterisiert und Vorgaben gemacht, wie diese funktionieren soll. Praktisch sieht es aber von Pfarrgemeinde zu Pfarrgemeinde anders aus und hängt von der persönlichen Einstellung des Pfarrers, der Mehrheitsbevölkerung sowie von der Aktivität der Minderheit in diesem Bereich selbst ab. Es gibt nun im Bistum Oppeln ca. 50 Pfarrgemeinden, in denen regelmäßig (jede Woche, jede zweite Woche oder einmal im Monat) deutschsprachige Gottesdienste stattfinden, in Gleiwitz und Kattowitz sowie Breslau und „im Norden“ sind es dagegen nur einzelne Pfarrgemeinden. In der überwiegenden Mehrheit hat man sich bereits in den 90er Jahren darauf geeinigt, dass die Gottesdienste zweisprachig stattfinden, damit jeder aktiv daran teilnehmen kann. Diese Zweisprachigkeit in unterschiedlicher Ausführung ist bis heute geblieben.
SB: Wie ist das Verhältnis der deutschen Minderheit zum Mutterland Deutschland? Welche Rolle spielt die Bundesrepublik als Wirtschaftsmacht/-partner?
WB: Kritiker der deutschen Minderheit meinen, Deutschland wäre für uns nur Geldgeber, was natürlich nicht stimmt. Es ist für die Ältesten eine Art Vaterland, das sie nach 1945 verloren haben, für die Jüngeren ist es jahrzehntelang das Land gewesen, in dem Milch und Honig fließen und man dort endlich frei leben könnte. Viele haben deshalb auch in den 70er, 80er und sogar 90er Jahren den Weg nach Deutschland angetreten, sodass Deutschland auch die neue Heimat vieler Familienmitglieder der Hiergebliebenen geworden ist.
Heute ist Deutschland vor allem ein Partner in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht, denn es war die deutsche Minderheit, die unzählige Städtepartnerschaften zum Leben erweckt hat, die den deutsch-polnischen Beziehungen guttun und der Minderheit einen ständigen Kontakt zum aktuellen Kulturleben und der Sprache ermöglichen. Wirtschaftlich ist Deutschland wohl der wichtigste Partner für Polen. Viele Deutschstämmige haben früh in den 90er Jahren das Potenzial erkannt und gründeten Firmen, die bis heute auf deutsch-polnische Wirtschaftspartnerschaften bauen.
SB: Wo wird das Wochenblatt in 30 Jahren stehen?
WB: Das ist eine gute Frage… Die Welt verändert sich heute so schnell, auch die Medienlandschaft in im ständigen Wandel und wir müssen unseren Weg darin irgendwie finden, auch als kleines Nischenmedium. Ich hoffe und wünsche mir, dass wir in 30 Jahren in irgendeiner Form weiterhin auf dem Markt sein werden und über die Deutschen in Polen und die deutsch-polnischen Beziehungen berichten werden.
SB: Herr Urban, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Richard Guth.