Identitäten

Von Dr. Jenő Kaltenbach

Wie aus mehreren Texten von mir bekannt, war ich immer dafür, dass die Nationalitäten ihr Inseldasein aufgeben sollen und sich als natürlicher Bestandteil der Gesellschaft benehmen sollen, genauso wie der Bewohner einer Stadt es tut. Letzterem würde es nie in den Sinn kommen sich nur der Stadt allein zugehörig zu fühlen und nicht der ganzen Nation. Es ist für ihn ganz selbstverständlich, dass er sich nicht nur für die Probleme seiner Stadt, sondern gleichzeitig für die Dinge des ganzen Landes zuständig fühlt.

Warum ist das bei den Nationalitäten anders? Warum glauben sie, dass sie in ihrer Gemeinschaft eingeschlossen sind, es nicht verlassen können? Besser gesagt, falls sie es verlassen, müssen sie ihre eigentliche Identität aufgeben und sich als Ungarn benehmen?

Dieses Phänomen hat natürlich mit der Idee des Nationalstaates mittel- und osteuropäischer Prägung zu tun, wonach die staatliche und die kulturelle Identität zusammenfallen müssen. Diese Art von Denken ist in Ungarn besonders ausgeprägt, weil die Ungarn, als Teil des Habsburgerreiches, immer das Gefühl gehabt haben für die Bewahrung ihrer kulturellen Identität kämpfen zu müssen. Sie betrachten deswegen jedwede Abweichung von der Monoidentität als ein Zeichen des Verrats, der Untreue. Der Gedanke einer Doppelidentität ist unerwünscht. Man duldet zwar die Nationalitäten als Nischen, vor allem aus Rücksicht auf die Lage der Madjaren jenseits der Grenze, aber ein Gemeinwesen mit einer Multiidentität ist für sie nicht nur eigenartig, sie ist eigentlich völlig absurd. (Das ist natürlich keine ungarische Besonderheit, aber in Ungarn überdurchschnittlich stark ausgeprägt.)

Diese Lektion haben sich auch die Nationalitäten verinnerlicht, also kümmern sie sich nur um ihre eigenen Belange und mischen sich in die Geschäfte der Gesellschaft, ohne die Identität zu wechseln, nie ein.

Eine Art Durchbruch, zumindest formell, konnte man bei den Deutschen beobachten, als sie es geschafft haben einen eigenen Kandidaten ins ungarische Parlament zu schicken. Das Problem ist nur, dass das Verhältnis des Kandidaten zu der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, immerhin die offizielle Vertretung der ganzen Gemeinschaft, deren Kandidat er ist, völlig ungeregelt blieb, also kann er tun und lassen, was er will. So etwas wäre bei dem Kandidaten einer Partei völlig unmöglich bzw. rein rechtlich schon, aber politisch nicht. Wenn ich die Tätigkeit des deutschen Abgeordneten von außen betrachte, sehe ich kaum Anzeichen dafür, dass er sich z. B. bei seinem Abstimmungsverhalten autonom bewegen würde, vielmehr benimmt er sich als Mitglied der Regierungsfraktion. Ich habe deshalb nie über einen Konflikt, eine Meinungsverschiedenheit gelesen, was darauf hindeuten würde, dass die Landesselbstverwaltung die gleiche Einstellung hat, also fühlt sie sich auch nur kompetent für die eigene Sache, sie äußert sich aber nie zu allgemeinen innenpolitischen, geschweige denn außenpolitischen Fragen des Landes.

Bis jetzt habe ich bei meiner Publikationstätigkeit auch der oben genannten Linie gefolgt, nur typische Probleme angesprochen, die mittelbar mit den Belangen der Gemeinschaft zu tun gehabt haben. Mit diesem Schriftstück verlasse ich diesen Weg und stelle mir vor, was die ungarndeutsche Gemeinschaft zur allgemeinen Lage des Landes oder zumindest zu einigen seiner Probleme zu sagen hätte.

Jede Gemeinschaft eines Landes ist Teil des Ganzen, also ist von den Konsequenzen der Politik mehr oder weniger betroffen, also es ist selbstverständlich, dass man eine Meinung dazu hat. Vorausgesetzt, man betrachtet sich als eine Gemeinschaft von Bürgern, nicht von Untertanen, die Befehle empfangen.

Nun, es ist kaum zu leugnen, dass die Ungarndeutschen ein vitales Interesse daran haben (müssten), dass Ungarn, als Mitglied der EU, eine liberale Demokratie und ein Rechtsstaat bleiben soll. Eine Nationalität kann sich nur behaupten, wenn die Spielregeln der Demokratie respektiert werden, wenn man sich auf das Recht bzw. auf die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Justiz verlassen kann. Alle Schritte, die darauf hindeuten, dass die politische Elite ihr eigenes Süppchen kocht, nur am Machterhalt interessiert ist, den Staat diesem Ziel unterordnet, eine so genannte illiberale Demokratie einrichten will, müssten bei einer Nationalität alle Alarmglocken aktivieren.

So etwas hört man in Ungarn ausschließlich von manchen Vertretern der Roma (wobei andere wiederum im Dienst der Machthaber agieren), aber die Ungarndeutschen sagen kein einziges Wort dazu. Ganz im Gegenteil, der Herr Abgeordnete legitimiert, seitens der Ungarndeutschen, mit seiner Tätigkeit alles, was die Machthaber so treiben. Er kann auch nicht wissen, was die ungarndeutsche Gemeinschaft so denkt, darüber gibt es nämlich weder öffentliche noch geschlossene Diskussionen, und es ist ihm anscheinend auch nie in den Sinn gekommen sie gelegentlich zu fragen.

So etwas hat bei uns seit geraumer Zeit auch keine Tradition. Das Letzte, das man als solches betrachten kann, ereignete sich Anfang der Neunziger, als man gegen den Plan demonstriert hat, einen Atommülllager in der Nähe des ungarndeutsches Siedungsgebiets zu errichten. Es hatte zwar auch damals eine allgemeinpolitische Färbung, aber es war doch ein Lebenszeichen der Ungarndeutschen. (Später hat man das Lager „natürlich“ doch gebaut.)

Danach ist man wieder zu den alten Sitten zurückgekehrt und sich aus den gesellschaftlichen Diskussionen schön brav herausgehalten, weil man darauf gehofft hat bzw. hofft, dass man dafür belohnt wird, und eine bescheidene Belohnung bleibt auch meistens nicht aus, also sind alle zufrieden.

So funktioniert übrigens das ganze System Orbán, wie in den schönen alten Zeiten, in der jeder wusste, wo sein Platz ist, den er/sie nie verlassen darf.

Dieses allgemeine, allesumfassende Thema ist natürlich nur ein Beispiel. Es gibt tagtäglich eine ganze Reihe von Themen, die auch für die Ungarndeutschen diskussionswürdig wären, dazu fehlt es aber an Sachwissen, Organisation, Interesse, Wille usw., obwohl selbst die sich anbietenden Möglichkeiten nicht genutzt werden.

Na ja, so leben wir halt im schönen Ungarland.

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