Wenn die Glocken läuten

Wenn die Glocken läuten

Es ist morgens 6 Uhr, und die Glocken läuten in meinem neuen Heimatort. Es ist 20 Uhr, und die Kirchenglocken ertönen wieder, diesmal aber ein bisschen länger. Die Kirchentöne rufen bei mir verschiedene Kindheitserinnerungen hervor, weil sie genauso wie die in Pari/Pári, der Tolnauer ungarndeutschen Gemeinde, läuten, wo ich meine Sommerferien mit meiner Uroma und meinen Großeltern verbracht habe. Meine Verwandten waren arbeitstüchtige, früh aufstehende Menschen, deshalb waren sie schon in der Sommerzeit auch am Abend früh im Bett. Als Kind hatte ich damals keine freie Wahl, meine Bettzeit selber zu bestimmen, folglich landete ich immer früh dort. Da ich fürchtete, alleine im Zimmer zu schlafen, schlief ich immer bei meiner lieben Uroma. Wir sprachen noch lange am Abend und ich befragte sie über ihre Kindheit. Es war für mich eine Mystik, als sie darüber erzählte, welche Traditionen in Pari gefeiert wurden und wie schön sich die unverheirateten Mädchen anzogen, welche Tracht sie trugen. Aber als die Glocke läuteten wurde es im Zimmer still, festlich. Die Festlichkeit des Moments war von den durch die Jalousien hereinkommenden Lichter gekrönt. Es war still. Es war ruhig. Es war still und ruhig, weil meine Uroma betete. Sie betete und ich schloss mich ihr auch an und die Stille wurde vom Beten unterbrochen. Ich befragte meine Uroma über ihre Gebete und staunte darüber, als sie mir sagte, auf Deutsch beten zu wollen. Da ich in der Grundschule Deutsch lernte, wagte ich den Schritt, das deutsche Gebet ins Ungarische übersetzen zu wollen. Aber ich musste als Kind gestehen, dass ich kein einziges Wort verstand. Heute weiß ich den Grund auch, weil in der Parier ungarndeutschen Mundart zu Gott gesprochen wurde. Als Kind war ich ein bisschen enttäuscht, aber diese Momente habe ich für immer in meinem Herzen geschlossen. Ich lag im Bett in der Stube und in dem hereinbrechenden Licht stellte ich mir die Kindheit meiner Uroma vor. Sogar war ich eifersüchtig, dass ich all diesen reichen Brauchtum verpasst habe. Ich bin zu spät geboren.

Jedes Mal, wenn die Glocken in meinem neuen Heimatort in Österreich ertönen, denke ich an diese Momente, an die Zeit der Geborgenheit, an die unendliche Liebe meiner Uroma zurück. Ich bin wieder das kleine betende Mädchen im Bett voller Träume und ich fühle mich glücklich, all diese wertvollen Momente miterlebt zu haben und in einer Gemeinde wohnen zu dürfen, deren Glocken jedes Mal meine Kindheit hierherzaubern..

Damals war ich zwar traurig, dass ich nur auf Ungarisch beten konnte, aber mit meinen Kindern beten wir mittlerweile nicht nur auf Ungarisch, sondern auch auf Deutsch und ich fühle mich erfüllt, da ich an meine Uroma denke, die bestimmt stolz auf uns vom Himmel herabschaut.

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