Vertriebenenenkelin Susanne Fretsch aus Zwickau gewährt Einblick in die Nachkriegsgeschichte Heimatvertriebener in der DDR
SB: Sie und Ihr Mann sind Nachfahren ungarndeutscher Heimatvertriebener – was wissen Sie über die Herkunft der Familie?
SF: Meine Großeltern Josef und Elisabeth März wurden 1923 und 1926 in Magotsch/ Branau geboren. Das Dorf war überwiegend deutsch besiedelt. Sie haben dort ihre Kindheit und Jugend sehr glücklich und behütet verbracht. Beide Urgroßelternpaare waren Bauern, betrieben Landwirtschaft und verfügten über Hof, Weingarten, Vieh und zahlreiche Felder. Mein Großvater sollte als ältester Sohn (er hatte noch drei Geschwister) den Hof der Familie übernehmen. Meine Großmutter war das mittlere von drei Kindern der Familie Stier. Das Zusammenleben mehrerer Generationen war ein fester Bestandteil des Lebens. So haben es mir die Großeltern berichtet und gern und oft vom Leben in ihrer Heimat erzählt: über die verschiedenen Bräuche und Traditionen übers Jahr hinweg, Fasching im Dorf, Osterbräuche, das Bestellen der Felder, die Ernte, gemeinsames Schlachten und feiern im Herbst, Körbe flechten im Winter, was mein Großvater von seiner Großmutter gelernt hat.
Der Zweite Weltkrieg und der Dienst in der deutschen Armee waren ein Einschnitt im behüteten Leben. 1946 wurde die Familie meines Großvaters enteignet und ist bei der Schwester meines Großvaters in der Scheune untergekommen, die provisorisch als Wohnraum hergerichtet wurde. 1947 heirateten meine Großeltern schon in diesen sehr dürftigen Verhältnissen. Im Mai 1948 wurde die Familie März, mit einem der der letzten Transporte aus ihrer Heimat vertrieben. Die Familie meiner Großmutter, Familie Stier – mittlerweile auch enteignet – stand eigentlich nicht auf der Liste zur Aussiedlung, ist freiwillig gefolgt, um den Familienverbund mit der Tochter nicht aufzugeben.
Man kam über das zentrale Lager in Pirna nach Zwickau in Sachsen, wo mein Großvater Arbeit im Uranbergbau bei der Wismut AG bekam. Die Familie versuchte als Großfamilie zusammenzubleiben, wohnte anfangs auf engstem Raum mit vier Generationen zusammen. Nach und nach fand man sich in der neuen Umgebung zurecht, lebte aber anfänglich immer in der Hoffnung, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Da zwei Schwestern meines Großvaters in Magotsch geblieben waren, gab es Kontakt dahin. Später, als das dann möglich war, gab es Besuche in Ungarn. Im Sprachgebrauch meiner Großeltern ist Ungarn immer das „Drinnen“ und Deutschland das „Draußen“ geblieben.
SB: Gut 50.000 Deutsche aus Ungarn kamen ab 1947 in die SBZ – was hat die Erlebnisgeneration über diese Zeit berichtet?
SF: Über die Vertreibung selbst wurde wenig gesprochen – und wenn, dann nur auf Nachfrage. Zu stark war das noch mit Schmerz und Trauer verbunden, vermute ich. Gesprochen wurde über den schweren Anfang: über die ärmlichen, sehr beengten Verhältnisse, die Ablehnung durch die ansässige Bevölkerung, Flöhe und Mäuse in den dürftigen Unterkünften sowie über den Hunger nach dem Krieg, der ja Vertriebene und Einheimische gleichermaßen traf.
Später, als ich älter wurde und gezielter Fragen stellen konnte, habe ich das eine oder andere über den Transport nach Deutschland erfahren: über die Fahrt im Viehwaggon, die Quarantäne und Aufteilung in Kategorien nach Arbeitsfähigkeit und die Weiterreise nach Zwickau. Meine Großeltern waren da frisch verheiratet, meine Großmutter war mit meiner Mutter schwanger. „Wir haben unsere Hochzeitsreise im Viehwaggon gemacht“, hat meine Oma ein oder zweimal bitter bemerkt.
SB: Inwiefern war der ungarndeutsche Hintergrund Teil des Alltags?
SF: Für mich als Kind war die Präsenz der Großeltern ein Geschenk. Meine Großmutter versorgte mich und meinen großen Bruder, während die Eltern zur Arbeit gingen. Ich habe keine Kinderkrippe kennen lernen müssen und konnte, bis ich alt genug für den Kindergarten war, bei ihr zu Hause sein, im Garten spielen und wurde liebevoll umsorgt. Die ungarndeutsche Küche war dabei ein fester Bestandteil meiner Kindheit: Pörkölt, Krumbeereschnitz und Nockerli, Faschiertes, Schupfnudeln mit Mohn, Strudel mit Mohn, Quark, Apfel gefüllt – habe ich geliebt und es gab immer eine Suppe vorweg.
Durch den Dialekt, den meine Großeltern sprachen, war ihnen die Herkunft immer anzuhören und dadurch stets präsent. Gerechnet haben die Großeltern auf Ungarisch, da sie es so in der Schule gelernt hatten. Auch den Glauben habe ich von meinen Großeltern und Eltern vorgelebt und weitergegeben bekommen. Er hat ihnen in schweren Zeiten Halt und Kraft gegeben. Die Orte der Kindheit und Jugend meiner Großeltern habe ich schon in meiner eigenen Kindheit kennen gelernt. Oft war ich mit meinen Eltern in den Sommerferien bei den in Magotsch gebliebenen Verwandten zu Gast. Einmal gab es auch eine Reise direkt mit den Großeltern. Da haben sie mir die Orte, an denen sie aufgewachsen sind, ganz direkt gezeigt.
SB: Wie würden Sie und Ihr Mann sich definieren?
SF: Unser ungarndeutscher Hintergrund ist für uns beide ein fester Bestandteil der eigenen Geschichte. Die Erinnerung an die liebevolle Fürsorge der Großeltern ist mit der ungarndeutschen Herkunft, dem demütigen Fleiß – mit dem sie täglich für alle da waren – dem unbedingten Einstehen für die Familie, dem katholischen Glauben ganz unmittelbar verknüpft und uns sehr wertvoll.
SB: Sie haben erwähnt, dass die Familie weiterhin den Kontakt zu den Daheimgebliebenen pflegte? Wie entwickelte sich das im weiteren Verlauf?
SF: Die Besuche bei den in Magotsch gebliebenen Schwestern meines Großvaters und deren Familien habe ich bereits erwähnt. Ich habe einige Großcousins und Großcousinen in Ungarn. Leider ist die Sprache eine so starke Barriere, dass ein Austausch mit dieser Generation leider nicht möglich war, wenn nicht von den Alten gedolmetscht wurde. So ist der Kontakt nie stark gewesen und irgendwann ganz abgebrochen. In diesem Sommer haben wir gemeinsam mit unseren Söhnen die Dörfer unserer Großeltern und die letzte noch lebende deutsch sprechende Cousine meiner Mutter besucht. Das war sehr herzlich und der Abschied auch sehr traurig. Sie ist 83 Jahre alt und ein Wiedersehen vielleicht nicht mehr möglich.
SB: In der DDR durften die so genannten Umsiedler keine landsmannschaftlichen Vereinigungen gründen – gab es trotzdem Formen der Kontaktpflege unter Heimatvertriebenen?
SF: Die Ungarndeutschen, die auf gleichen oder ähnlichen Wegen nach Zwickau gekommen waren, haben einen engen Freundeskreis gebildet, auch ohne dass dafür eine Vereinigung nötig gewesen wäre. Nicht wenige waren direkt aus Magotsch wie meine Großeltern. Das gemeinsame Schicksal verband sie miteinander genauso wie der katholische Glaube. Man traf sich am Sonntag zur Heiligen Messe in der Kirche, feierte Geburtstage und Hochzeiten zusammen und trauerte auch gemeinsam, wie man es von zu Hause aus der Dorfgemeinschaft gewohnt war. Gerade in den Anfangsjahren des Neubeginns „in der Fremde“ waren diese freundschaftlichen Verbindungen ein wichtiger, tragender Halt über den Zusammenhalt in der Familie hinaus.
SB: Nun wächst mittlerweile die dritte, vierte Generation heran – was bedeutet für sie die alte Heimat Ungarn?
SF: Ich denke, dass unsere Kinder nur noch wenig Bezug zur Heimat ihrer Urgroßeltern haben. Diese Generationen haben sie so bewusst nicht mehr selbst erlebt. Sie konnten sie auch nicht von ihrer Heimat erzählen hören. Das ist schade, aber doch der Lauf der Zeit. Das Interesse dafür ist jedoch da.
Unsere Tochter hat während ihrer Abiturzeit eine größere Arbeit zur Vertreibung der Deutschen aus Ungarn erstellt und sich damals auch sehr intensiv mit der eigenen Familiengeschichte befasst. Das hat uns sehr gefreut und ihr einen wichtigen Baustein ihrer eigenen Familiengeschichte mitgegeben. Nicht zuletzt aus dem Wunsch heraus, den Kindern etwas davon zu zeigen, haben wir in diesem Sommer auch eine Reise nach Ungarn unternommen.
SB: Seit einigen Jahren findet eine gegenläufige Migrationsbewegung in Richtung Ungarn statt – Deutsche lassen sich in Ungarn nieder. Wissen Sie etwas darüber (über Freunde, Bekannte)?
SF: In unserer Familie gibt es niemanden, der wieder in die alte Heimat gezogen wäre, jedoch gab es vor vielen Jahren in unserer Pfarrgemeinde ein älteres Ehepaar, das in den 90er Jahren wieder in sein altes Heimatdorf zurückgegangen ist. Im Sommer haben wir in Fünfkirchen einen älteren Herrn getroffen, der selbst Vertriebener und nach Jahren in Deutschland nun wieder nach Ungarn gezogen ist.
SB: Frau Fretsch, vielen Dank für das Gespräch!
Mit Susanne Fretsch aus Zwickau sprach Richard Guth.