Ich bin Josef Szarvas, 73, geboren in Semlak nahe Nadlac/Nagylak. Mit knapp 11 Jahren durfte ich mit meiner Familie – im Rahmen einer Familienzusammenführung – zu meinen Großeltern nach Österreich auswandern.
Zur Vorgeschichte: Rumänien hatte bis Sommer 1944 ein enges Militärbündnis mit dem Deutschen Reich. Die wehrfähigen deutschen Männer wurden überwiegend in die deutsche Armee eingezogen, auch unser Vater. König Michael I. setzte am 23. August 1944 den Regierungschef Antonescu ab und Rumänien verbündete sich sofort mit den Alliierten und hier speziell mit Russland. Damit war die in Rumänien lebende deutsche Volksgruppe mit einem Schlag angefeindet und lief Gefahr, beim Vormarsch der Roten Armee (von Ost nach West) misshandelt und sogar nach Sibirien verschleppt zu werden.
Am 14. September 1944 erschien ein deutscher Wehrmachtsoffizier begleitet von drei Soldaten in Semlak. Einer der Soldaten war Martin Schütt aus Semlak. Sie hatten von ihrem Vorgesetzten in Wien den Auftrag bekommen, nach Semlak zu fahren und die deutsche Bevölkerung zur Flucht zu bewegen. Der heranrückenden russischen Armee waren Gerüchte über Misshandlungen, Vergewaltigungen und mögliche Verschleppung von Deutschen vorausgeeilt.
Am 15. September 1944 setzte sich der Flüchtlingskonvoi mit ca. 80 Pferdewagen mit deutschen Familien Richtung Westen in Bewegung – mit dabei meine Großeltern Maria und Josef Schäffer und meine Mutter Eva Szarvas geb. Schäffer. Es waren aber praktisch nur Beriner (Ostsemlak) dabei. Die Gubaschen (Westsemlak) waren der Meinung, dass sie nicht flüchten müssen, weil sie mit den Nazis nix am Hut hatten – das rächte sich allerdings im Jänner 1945, als viele der daheimgebliebenen Gubaschen nach Sibirien verschleppt wurden. Nicht alle überlebten dieses Abenteuer.
Georg Schmidt (der Mann meiner ersten Lehrerin in der Volksschule in Semlak) hat die Geschichte der Flucht der Semlaker mit Berichten von Zeitzeugen der Flucht niedergeschrieben. Ende Dezember 2018 bekam ich diese Fluchtgeschichte zugespielt und wusste sofort: Den Weg der Semlaker Flüchtlinge werde ich mit dem „Bizigli“ (Fahrrad, Red.) nachfahren – das wurde für mich eine Herzensangelegenheit. Die Umsetzung dauerte aber, auch wegen der Coronakrise, bis Sommer 2024. Mein Freund Bernhard begleitete mich – ein zweiter Freund musste krankheitsbedingt absagen.
Das Abenteuer beginnt
Durch die `Banater Post` wusste ich, dass ´Spier Transporte` aus Ingolstadt Personen und Pakete nach Rumänien bringt – „Biziglis“ auch, wie Herr Spier mir versicherte.
Am Freitag dem 19. Juli 2024 um 23.30 h beginnt unser Abenteuer am Westbahnhof in Wien. Ein alter, weißer Sprinter fährt vor. Es steigen sechs Erwachsene und zwei große Hunde aus. Herr Spier (sein Großvater wohnte auch in Semlak und dessen Bruder war der `Palwira´ unseres Großvaters) und seine Helfer schafften es, unsere Fahrräder und unser Gepäck noch in dem hoffnungslos überfüllten Laderaum unterzubringen. Jetzt konnte es endlich losgehen!
Am Samstag um 5.50 h Ortszeit erreichten wir Semlak und luden vor der Evangelischen Kirche AB in der ´Großen Gasse´ aus. Begrüßt wurden wir bei unserer Ankunft von einem herrlichen blutroten Sonnenaufgang. Pünktlich um 7 Uhr trafen wir bei meinen Freunden Cristina und Radu Tomut ein, die uns mit einem feinen Frühstück begrüßten.
Nach einer kleinen Dorfrundfahrt bis hinunter zur Marosch fuhren wir auch an meinem Elternhaus in der „Newrscht Gass“ vorbei (Semlak 430 – heute ´Strada Nemteasca 90`), wo ich meine Kindheit verbrachte. In dieser Gasse (früher die „Daitschenstroß“) ist auch die Semlaker Torwartlegende Helmut Duckadam aufgewachsen.
Und jetzt ging es los auf der Fluchtroute: Vorbei an der alten Mühle und dem Friedhof fuhren wir auf der ehemaligen `Sandstraße´ Richtung Norden, überquerten die Landstraße, passierten die letzten Sonnenblumenfelder und näherten uns Deutsch-Pereg. Hier hatte der Konvoi 1944 über einen Feldweg die unbewachte ungarische Grenze überquert. Das trauten wir uns jedoch nicht! Wir fuhren über Kleinpereg/PereguMic – bis zum Etappenziel des ersten Tages – nach Alt-Petschka/Pecska. Cristina Tomut hatte uns in Alt-Petschka bei „Emanuela Apartment“ ein sehr schönes Apartment gebucht. Zum Dank luden wir Cristina und Radu am Abend ins Restaurant „Terasa Sofia“ ein – die Mititei (Mici) waren hervorragend.
Mit dem Wetter hatten wir großes Glück – bis auf den NW-Wind. Wir hatten durchwegs heiteres Wetter mit bis zu 34°. Die Prognose hatte noch eine Woche vorher bis zu 40° vorausgesagt. Tatsächlich hatte es eine Woche vor unserem Start in Semlak 41.9° (im Schatten).
Am Sonntag war unser erstes Ziel Turnu. Hier überquerten wir die rumänisch-ungarische Grenze und holten in Battonya das Frühstück nach. Dann radelten wir weiter über Tótkomlós und Mezőhegyes bis Orosháza. Bei der (telefonischen) Suche nach einer passenden Übernachtungsmöglichkeit komme ich drauf, dass die Ungarn kaum gängige Fremdsprachen beherrschen. Auf meine Frage „Sprechen Sie Deutsch oder do you speak English?“ bekomme ich immer die Standardantwort: „Nem, magyarok!“ Aber hier in Orosháza ergänzte die Vermieterin: „Si unpuzin de romaneste!“ Na also! Das ging auch! Im Restaurant des „Zigeunerbades“ (!) gab es hier sogar eine Speisekarte auf Rumänisch.
Ich hatte entdeckt, dass es in Orosháza eine Mol-Tankstelle geben soll. Also machten wir uns auf die Suche. Von meinen vielen Fahrten durch Ungarn wusste ich, dass es bei Mol-Tankstellen einen herrlichen Cappuccino gibt – wie in Italien. Das ist noch immer so – und war jeden Tag ein „must have“!
Wir starten die 3. Etappe mit einem Frühstück bei der `Mol´! Die Etappe führt uns auf tollen Radwegen immer wieder durch herrliche, große, blühende Sonnenblumenfelder nach Szentes und dann weiter über die Theiß nach Csongrád und Kiskunfélegyháza.
Am 4. Tag fängt alles wie üblich mit herrlichem Wetter an. Wir fahren über Jakabszállás bis Orgovány. Einige Kilometer später versinkt die Asphaltstraße buchstäblich im Sand, einem feinen lockeren Sand wie z.B. an der italienischen Adria in Jesolo. Hie und da quält sich ein PKW im Schritttempo durch diesen losen Sand. Radfahren ist praktisch unmöglich – wir schieben die Räder. Soweit das Auge reicht – überall tiefer Sand!
Nach 6 km erreichten wir endlich wieder Asphalt und belohnen uns in Akasztó mit kühlen Getränken, um anschließend unsere Fahrt auf einem herrlichen Radweg nach Solt fortzusetzen. Nach wenigen Kilometern überqueren wir die Donau und erreichen nach 102 km Dunaföldvár. Bei der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit landen wir in „Rozmaringos Udvarház“ (Rosmarins Herrenhaus) – einer museumsähnlichen Panzió mit einem römischen Garten. Unser Abendessen genießen wir in der „Halászcsárda“ mit einem herrlichen Blick auf die Donau.
Der Semlaker Flüchtlingstreck gönnte sich nach der geglückten Überquerung der Donau in Németkér (Kier) und in Pusztavám (Pußtawam im Schildgebirge) jeweils eine mehrtägige Pause. Man fühlte sich westlich der Donau schon einigermaßen sicher vor der Roten Armee. Und man hatte auch die leise Hoffnung, dass es der deutschen Armee gelingen würde, die Rote Armee zurückzuschlagen. Dann wollte man natürlich gleich wieder nach Hause zurückkehren. Diese Hoffnung ging leider nicht auf.
In diesen beiden Dörfern lebten damals jeweils über 2.000 Deutsche – die Mehrzahl wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges vertrieben. Diejenigen, die aber einen ungarischen Familiennamen annahmen, konnten angeblich bleiben. Ich war mir sehr sicher, in Google auf Spuren dieser Deutschen zu stoßen. Aber leider … zu meiner Enttäuschung fand ich gar nichts.
Am Mittwoch, unserem 5. Tag am Rad, starten wir Richtung Kier und landen nach 2 km Asphalt auf einem Feldweg mit mehreren cm tiefem Staub (wie seinerzeit im Sommer in Semlak). Das Fahren mit dem Rad ist schwer, aber doch möglich. Wir rutschen im tiefen Staub ordentlich hin und her und kommen dann endlich nach 13 km vor Kier wieder auf festen Boden.
In Kier ließ ich eine ältere Frau mit ihrem Urenkerl über die Straße und grüßte sie mit „Jó napot!“. Sie lächelte mich an und erwiderte „Grieess Gott“! Und sie ergänzte noch: „bissi daitsch!“ Für eine Unterhaltung reichte es jedoch nicht. Sie zeigte mit der Hand aber auf das `Községháza´ (Gemeindehaus) und sagte immer wieder: „da! da!“ Eine jüngere – deutschsprechende – Frau im Gemeindehaus verband mich dann mit ihrer ehemaligen Deutschlehrerin, Frau Agnes Szauer (ihre Urahnen kamen aus Aschaffenburg), einer Hobbyhistorikerin. Agnes hatte vor kurzem ein Haus im Ort gekauft. Bernhard und ich besuchten Agnes bei unserer Weiterfahrt und Agnes wollte alles über meine Familie und die Flucht wissen. Beim Rundgang durch das Haus habe ich dann festgestellt, dass dieses Haus (und auch noch andere im Ort) gleich angelegt war wie die Häuser bei uns in Semlak. Die „fedderst Stub“ war z.B. eine Kopie von jener meiner Tante in Semlak.
Froh über diese nette Begegnung radelten wir weiter und kamen nach Cece, einem Zentrum des mittelungarischen Melonenanbaus.
Um die Mittagszeit machte uns jetzt täglich ein heftiger Wind aus NW zu schaffen. Es kostete uns viel Kraft, dagegen anzukämpfen. Bei der Unterkunftssuche hatten wir in Kalóz und Aba kein Glück, also mussten wir – trotz des starken Windes – bis Stuhlweißenburg weiterfahren – bis wir nach 101 km im Hotel Szarcsa endlich ein Zimmer – sogar mit Wellness – fanden. Bernhard und ich beschlossen, hier einen Ruhetag einzulegen und unsere strapazierten Muskeln mit einer Massage zu verwöhnen.
Gut erholt setzen wir am Freitag – dem 7. Tag – unsere Tour fort und kommen sehr bald ins mittelungarische Hügelland. Auf dem Radweg geht es über Bodajk hinauf nach Moor und wenige km weiter nach Pußtawam. Andreas Gottschick – 93 (ein Zeitzeuge) ‑ kann sich noch gut erinnern, dass die Semlaker hier 14 Tage geblieben sind und den Einheimischen bei der Kukuruz-Ernte geholfen haben. Einige Männer haben auch in der örtlichen Kohlengrube geholfen. Andreas Gottschick war damals 13 Jahre alt und besuchte in diesen zwei Wochen die örtliche Volksschule. Er kann sich auch gut erinnern, dass es in Pußtawam einen evangelischen und einen katholischen Ortsteil gab. Die Katholiken wollten die Zugeteilten (evangelische Semlaker) nicht in ihre Häuser lassen.
Auf „gut Glück“ gehe ich hier ins „Polgármesteri Hivatal“ – das Bürgermeisteramt – und treffe auf eine Sekretärin und auf Tibor Gerlinger, den Vorsitzenden der ´Deutschen Nationalitätenverwaltung` in Pußtawam. Minuten später treffe ich auch auf den Bürgermeister Mihaly Csordás – und alle drei sprechen Deutsch!!
Bernhard und ich werden vom Bürgermeister zum Kaffee eingeladen und dabei erzählt uns Tibor (in einem Mix aus Schwäbisch/Wienerisch), dass die ´Deutsche Nationalitätenverwaltung` in Pußtawam das Kindergarten- und Schulwesen im Ort vom ungarischen Staat übernommen hat und 90 Kindergartenkinder und 130 Schüler (in 8 Klassen) betreut. Und das sogar mit einem sehr großzügigen Schlüssel für Lehrer/Schüler: ein Lehrer für acht Schüler, weil der Unterricht zweisprachig geführt wird! Schulsprache ist natürlich ungarisch, aber alle Schüler verlassen die Schule mit sehr guten Deutschkenntnissen. Ich bin hocherfreut, dass wir auch in Pußtawam deutsche Spuren gefunden haben. Wir radeln weiter über Bokod und Kisbér, wo wir wieder einmal keine Unterkunft finden. Also geht es weiter bis nach Pannonhalma (Martinsberg) – 101 km. Beim Telefonat mit einer Vermieterin und meiner Frage „deutsch oder englisch“ bekomme ich zur Antwort „magyar e un poco d´italiano“! Also verhandeln wir auf Italienisch – und landen in einer sehr schönen Panzió.
Am Samstag dem 27.7. fahren wir nur bis Pápa (48 km), weil wir nicht sicher sind, auf der Strecke nach Pápa noch eine Unterkunft zu bekommen.
Der Sonntag – Tag 9 – beginnt wieder sehr heiß und extrem windig. Wir radeln über Vág und Beled bis Csapod und legen hier nach 55 km eine Pause bei Bier & Radler ein. Wir laden dabei auch die Akkus wieder auf, damit wir weiter mit voller Kraft gegen den starken Wind fahren können.
Nach 77 anstrengenden km erreichen wir Hegykő und kommen in der Panzió „Marben“ (mit Swimmingpool) unter. Am Abend bekomme ich dann endlich meine „rántott libamáj“ – die gebackene Gänseleber! Herz, was willst du mehr?
Finale am Montag dem 29.7 – Tag 10! Es ist wieder wolkenlos. Vor dem Start decken wir uns noch ordentlich mit „paprikakolbász“ ein. Dann geht’s los auf schönen Radwegen Richtung Ödenburg. In Agendorf/Ágfalva machen wir zum letzten Mal in Ungarn eine Trinkpause.
Wir überqueren später bei Loipersbach die österreichisch/ungarische Grenze – ohne es zu bemerken. Über Bad Sauerbrunn radeln wir zum Bahnhof Wr. Neustadt. Das ist das vorläufige Ziel. Die restliche Route über Baden – St. Pölten – Krems – Amstetten bis Neuhofen/Ybbs wollten wir im Oktober 2024 zu dritt fertig fahren. Wegen dem Jahrhunderthochwasser im Herbst 2024 – Niederösterreich versank im Wasser – haben wir die letzten Etappen auf Mai 2025 verschoben.
Mein Resümee: Wir erlebten in 10 Tagen hautnah mit, wo meine Familie auf der Flucht unterwegs war. Wir radelten durch tolle Landschaften und hatten auch heute nach 80 Jahren die Probleme mit Sand und tiefem Untergrund – wie auch der Flüchtlingskonvoi. Die Fluchtroute führte ja fast ausschließlich über Nebenstraßen, um eventuellen Militärfahrzeugen auszuweichen. Ich habe Dinge – oft sehr emotional – erlebt, mit denen ich nicht rechnen konnte. Ich bin wider Erwarten in Kier und Pußtawam auf deutsche Spuren gestoßen. Und ich habe durch diese Tour Kontakt mit einem der letzten Zeitzeugen, ´Gottschick Andreas bácsi`, bekommen. Er war immer wieder mal bei meinen Eltern und Großeltern zu Besuch – ich wusste aber nicht, dass er damals bei der Flucht der Semlaker dabei war. Mein Bruder Konrad und ich haben nie erfahren, warum mein Großvater nach dem Krieg in Österreich geblieben ist – er hatte bei seiner Flucht doch eine Landwirtschaft zurückgelassen. Und mein Großvater konnte nicht wissen, dass der rumänische Staat 1947 alle Agrarflächen verstaatlichen würde.
Herr Gottschick wusste eine Antwort darauf – aber das ist eine andere Geschichte.
