Groß-Bieberau als Wurzel der Fruchtbarkeitsmagie (Kötsching 21)

Groß-Bieberau als Wurzel der Fruchtbarkeitsmagie (Kötsching 21)

Fallstudie über die Kirchweihbräuche in der hessischen Sekundärgemeinde Kötsching/Kötcse (Teil 21)

In der Entstehung von manchen Kirmeszeremonien spielen manchmal nur bestimmte Abwanderungsorte der alten deutschen Heimat eine besondere Rolle. Den Forschern verursacht die Entdeckung dieser Quellengebiete eine nicht einmal unlösbare Aufgabe. Ein donauschwäbischer Ort stellt sich nämlich aus den Ansiedlergruppen aus mehreren Gebieten, Gemeinden des ehemaligen Deutschland zusammen. Es kommt oft vor, dass die Forschung die Frage nach Woher, Warum, Wohin und Wie auf Schwierigkeiten stößt und findet nicht immer die richtige Lösung. Nach der Analyse auf dem Gebiet der Folklore müssen wir zu unserer ursprünglichen Fragestellung zurückkehren: Warum ist im Kötschinger Gedächtnis nur ein Herkunftselement – nämlich das Groß-Bieberauer – in Erinnerung geblieben? Wir sind während unserer Forschungen aus den Erzählungen von Johann Tefner, meines väterlichen Großvaters, ausgegangen. Er sagte immer: „Wir sind aus dem Biebergau gekommen und unser alter Vater war da draußen »bíró«, d. h. Dorfschultheiß, bedienstet. So viel, heute schon bedauerlich, aber nur so wenig. Den Irrtum hat es noch weiter vertieft, dass der Autor dieses Artikels, ein Sechszehnjähriger, die Worte Gau, und Au verwechselt bzw. missverstanden hatte. Und was die Lage noch erschwert hatte, ist, dass er da Kötschinger Familiennamen gefunden hat, Familien, die sich tatsächlich in Kötsching niedergelassen haben. Oder aus den umliegenden Dörfern, wie z. B. aus Ober-Ramstadt, die seine Bewohner unter dem Schleier der Nacht, illegal, ohne Erlaubnis verlassen hatten. An der Arbeit der Kötschinger Dorfmonographie um 1996 haben wir die dortigen Kirmesbräuche studiert und spekulativ sind wir sogar in die jüngere Steinzeit zurückgegangen. Auf der Basis eines Verhörens: Biebergau-Bieberau.

In diesem Zusammenhang müssen wir auf jeden Fall auf die Familie Storck/Stark eingehen, genauer noch auf Johann Konrad Storck, der die von seinem Schwiegervater Wendel Schuchmann geerbte Mühle dem jüngeren Bruder Jacob übergeben (verkauft?) hatte und der nach Warschad/Varsád bzw. Gallas/Kalaznó auswanderte. Niemand weiß, warum er sich in der Mercy-Gutsherrschaft nicht wohl gefühlt hatte; es ist möglich, dass es ihm hier wegen der früher erwähnten Missbräuche materiell nicht gut genug ging. Tatsache ist aber, dass er sich in Kötsching samt Familienangehörigen niedergelassen hat, wo er auch – viele Nachkommen hinterlassend – starb.

Konrad Storck war ein bedeutender Mann. Laut der Aufzeichnungen des Bischofs Laky 1814 war er jener wohlhabende Bürger, der der Kirchengemeinde zu einer Glocke verhalf. Laky beschreibt die Geschichte folgendermaßen: „Diese kleine Glocke, wie man sagt, habe ein wohlhabender Bürger, namens Konrad Stark, gießen lassen, und auch bezahlt, mit der Bedingung, dass ein jeder seinen Teil ihm im Laufe der Zeit abbezahlen müsse. Nach der Meinung von einigen sei auf eine Seele eine Poltura186 entfallen, andere wissen aber über 4 Kreutzer.” An der Glocke ist eine lateinische Inschrift zu lesen: „Gloria in excelsis Deo 1740.”

Lakys Bemerkung, dass Konrad Storck sich für einen reichen Bürger hielt, der imstande war, dem Glockengießen ein Darlehen zu gewähren, lässt verschiedene Schlüsse zu. Seine ursprüngliche Heimat Groß-Bieberau hätte er eigentlich gar nicht verlassen müssen, er arbeitete dort als Müller und als ältester Sohn war er außerdem der Begünstigste innerhalb des Erbfolgesystems der Familie Storck. Doch er ist aufgebrochen, weil er zu denjenigen Menschen gehörte, bei denen Unternehmungs- und Abenteuerlust stärker ist als das Genießen der Vorteile alltäglicher Mittelmäßigkeit. Er zählte sich zu jenen Männern, die – wie viele unter den ersten karlianischen Kolonisten auch – die Verhältnisse zu Hause als zu einfach empfunden hatten und die ihr Talent und ihre Vorstellungen anderswo erproben und verwirklichen wollten. Bei ihm war die Auswanderung viel mehr eine Sache der Berufung als eine Existenzfrage. Nach manchen Quellen konnte er auch lesen und schreiben, aufgrund dessen er kaum seinesgleichen in der damaligen Welt der Leibeigenschaft fand, gleichzeitig wurde durch diese Fertigkeit seine geistige Überlegenheit hervorgehoben. Menschen dieses Schlages werden, wohin sie auch kommen, über kurz oder lang reich und nehmen meistens eine zentrale Rolle in der Gesellschaft ein, um die dann irgendwelche soziale Gruppierungen entstehen. Wir wissen, dass er mit dem von seinem Bruder erhaltenen Geld nach Ungarn gekommen ist und er übte auch in Kötsching den Beruf des Müllers aus. Diese Stellung gewährte zumindest, dass er materiell besser da stand als manche Grundbauern und Kleinhäusler. Das aus Bieberau mitgebrachte Vermögen vermehrte sich solcherart und es kann gesagt werden, dass jedes Vermögen immer wieder Menschen von reichen Familien abhängig macht, die anderen Geld verleihen können und dies auch tun. Diese soziale Gruppierung verharrt selten im Zustand des Wirtschaftlichen, sondern sie wandelt sich meistens in Bindungen kulturellen, konfessionellen, also geistigen Charakters. Die Gesellschaft von Kötsching bildete sich zur Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer stark geschichteten Agrargesellschaft um. In der Konskription der Wesprimer Diözese wird ersichtlich, dass die wirtschaftlich mächtigeren Familien nicht ausschließlich eine sogenannte „äußere” Dienerschaft angestellt hatten, worunter man das von den umliegenden Dörfern und Pußten „hereingelockte” Gesinde verstand, sondern auch die ärmeren Elemente des Dorfes, die schwäbischer Herkunft waren, und die als Tagelöhner oder Hausdiener im Dienste reicherer Häuser standen. Manchmal dienten bei einem Grundbauern zwei bis drei mittellose Familien. Warum hätte sich also nicht ein Bieberauer Kern um die Familie Storck gruppieren können, welcher einen maßgeblichen Einfluss auf die Leitung der Kirchengemeinde auch in konfessionellen Angelegenheiten hätte nehmen können? Bedauerlicherweise finden sich über die sozialen Machtverhältnisse, wie über die „Clanbildungen” kaum mehr Belege. Wir riskieren die folgenden Behauptungen, einerseits um die Belege zu bewahren, andererseits in der Hoffnung, dass in diesem wichtigen Bereich die Forschungen weiterbetrieben werden. Im nächsten Teil greifen wir daher zu den analogen Beispielen in den anderen Kolonistendörfern zu.

Laut Recherchen von Katharina Wild wird Kirmes in Süd-Transdanubien sehr häufig im November gefeiert. Die kirchlichen und weltlichen Autoritäten verlegten dieses Fest aus praktischen Gründen in eine Zeitperiode zwischen Ende Oktober und Mitte Dezember, wenn in der Landwirtschaft nicht mehr gearbeitet wurde, also in Ruhe gefeiert werden konnte. In den untersuchten Gemeinden der drei Komitate wird Kirmes zwischen dem 28. Oktober und dem 19. November insgesamt 21-mal gefeiert. So stellt sich die Frage, ob die Kolonisten Kötschings den Brauch der Novemberkirmesse von ihrem vorherigen (primären) Wohnort hätten herüberbringen können? Das Problem in Zusammenhang mit dieser Frage besteht darin, dass die Orte, aus denen die Kötschinger Kolonisten stammen, nämlich die Tolnau und die Branau, zu ganz anderen Zeitpunkten Kirmes feiern, und dort, wo diese Kirmestermine im November sind, sind die Gemeinden katholisch, deswegen können sie nicht die Abstammungsorte Kötschings sein.

Es ist vorauszusetzen, dass die Kerbait in Kötsching teilweise eine Übernahme und ein Weiterleben des Groß-Bieberauer Sankt-Martinstages sein soll. Die deutsche Fachliteratur bringt sehr viele Belege dafür, dass diese in Deutschland üblichen Veranstaltungen früher zahlreiche Fruchtbarkeitsmotive enthielten. Das Besondere in Kötsching ist der etwa 20 Meter große Kreis im evangelischen Kirchhof – der vom Volk immer noch „Platz” genannt wird – dieser, wie jener magische Kreis in Groß-Bieberau mit einem Durchmesser von 50 Meter können nach unserer Auffassung in Zusammenhang stehen. Der Marsch an einer Kreislinie – ähnlich wie in Moratz/Mórágy – läuft um einen nicht mehr vorhandenen Kirmesbaum, dessen prähistorisches Vorbild der Menhir der Kaplaneiwiese in Groß-Bieberau oder eines anderen Menhirs (?) irgendwo in Deutschland sein könnte.

Wenn also Konrad Storck eine Glocke seiner Kirchengemeinde vorstrecken konnte, warum hätten dann seine ebenso vermögenden Nachkommen um 1797 an der Bestimmung des Kirchweihetages keine Rolle spielen sollen? Warum hätte sich diese Bieberauer Gruppe mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen können, und so die Tradition des Sankt-Märtenstages am Leben erhalten können. Die Zahl, der Ort der Feiertage und die mit diesen verbundene liturgische Ordnung waren auch noch im vorigen Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. Durch den Konflikt am Pfingstmontag 1829 ist klar ersichtlich, dass sich die Kirchengemeinde und die Dorfvorsitzenden – wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt (100 Jahre nach der Dorfgründung) – mit den Veränderungen im kirchlichen Feiertagssystem nicht abfinden wollten. Die alten und verkrusteten Traditionen loszuwerden wäre 30 Jahre früher, zur Zeit der Kirchenerrichtung, sicherlich noch problematischer gewesen. Wir sehen uns also zu der Frage veranlasst, ob das Fest am 21. November gleichzeitig das Einweihefest der 1745 abgerissenen Holzkirche gewesen ist? (Fortsetzung folgt.)

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