Die Zukunft der Deutschen in Ungarn – Epilog zur Ödenburger Volksabstimmung (Teil 2)

Von Alfred von Schwartz

 

Nur die Wahrheit kann uns heilen.

Vorbemerkung der SB-Redaktion

Unser Leser Patrick Rieckmann aus dem Ödenburger Land wies vor einigen Monaten auf ein interessantes historisches Dokument hin, das drei Monate nach der Volksabstimmung in Ödenburg und vor genau 100 Jahren publiziert wurde. Auch wenn manche inhaltlichen und sprachlichen Formulierungen auf den Menschen der Gegenwart befremdlich wirken, stellt Alfred von Schwartz’ Schriftstück eine wichtige Quelle dar, um Denkweisen und historische Vorgänge besser zu verstehen. Diesen Essay veröffentlichen wir in vier Teilen. Wegen der Veröffentlichung dieses Beitrages wurde das Bleyer‘sche Sonntagsblatt zeitweise vom Innenministerium verboten.

Teil 2

Auch auf künstlerischem Gebiete ist die Wandlung eine augenscheinliche. In den sechziger Jahren wurden in Ödenburg neue Kirchenbauten und stilvolle Restaurierungen unserer alten Kirchen künstlerisch durchgeführt. Wie unsere alten Bürgerhäuser und die sehr zahlreichen Grabmäler unserer Friedhöfe aus der Barockzeit bezeugen, muss hier eine ganz bedeutende Bildhauergilde existiert haben. Auf dem Gebiete sowohl der geistlichen als auch der profanen Musik wurde Hervorragendes geleistet. Das Theater besaß künstlerische Tradition und Niveau. Die herrlichen alten Möbel, die noch heute in vielen Bürgerfamilien vorhanden sind, zeigen, auf welch hoher Stufe das Kunstgewerbe stand.

Heute überall Verfall! Die öffentlichen und privaten Gebäude zeigen Fabrikstil und Kitsch. Die Auflassung der deutschen Lehrerseminare hatte den rapiden Rückgang der Musikpflege zur Folge. Seitdem das deutsche Theater nur nach Ostern spielen darf, zeigt sich die interessante Erscheinung, dass das Niveau auch des ungarischen Theaters merklich zurückgegangen ist. Zu meiner Jugendzeit (unter den Direktoren Komjáthy, Szendrői und Somogyi) waren die ungarischen Vorstellungen ganz exzellent. Seitdem aber die ungarische Gesellschaft vom Oktober bis Ostern spielt und keine deutsche Konkurrenz zu fürchten hat, lässt sich jeder Theaterdirektor gehen – ein Beispiel, von welch wohltätigem Einfluss die Konkurrenz auch auf künstlerisch-nationalem Gebiete sein kann.

Aber nicht nur die Dinge haben sich verändert, sondern auch die Menschen. Oder besser gesagt: Weil die Menschen anders geworden, sind es auch die Dinge. Nie hätte ich gedacht, dass sich im Laufe weniger Jahrzehnte die Psyche der Menschen so verändern könnte, wie es bei uns geschehen ist. Ich will mich vor jeder Übertreibung hüten und bedenken, dass vielleicht für jeden Menschen eine Zeit kommt, da er mit Meister Anton ausruft: „Ich verstehe die Welt nicht mehr!“ Auch im objektiven Sinne muss man zugeben, dass seit 1848 oder 1870 die europäische Welt bedeutende seelische Wandlungen erfahren hat. Die großen Evolutionen auf technischem und wirtschaftlichem Gebiete sind an den Menschen nicht spurlos vorübergegangen und vielleicht noch weniger gewisse philosophische Systeme, die erst in unserem Zeitalter zur praktischen Auswirkung gelangten. Wer selbst vor dem Weltkriege Weimar suchte, wird es gewiss nicht in Hamburg oder Berlin – und wahrscheinlich in ganz Deutschland nicht mehr gefunden haben. Trotzdem ist es zweifellos, dass bei uns die große Veränderung in Gesittung und Kultur aufs Engste mit dem Wechsel der Sprache zusammenhängt. Der Beweis ist einfach: Dort, wo man bei uns die deutsche Sprache aufgab, sind Weltanschauung und Lebensauffassung total anders geworden, während sie in jenen Kreisen, wo man an dem Deutschtum festhielt, im Großen und Ganzen dieselben geblieben sind.

Es ist natürlich ungeheuer schwierig, die Unterschiede in Lebensanschauung, Gesittung usw. festzustellen, ohne ungerecht zu werden oder in Übertreibung zu verfallen. Menschen sind wir alle und gerade die köstlichen und wertvollen Dinge im Leben haben die merkwürdige Eigenschaft unmessbar und unwägbar zu sein. Ich könnte wohl darauf hinweisen, doch es würde die mir gezogenen Grenzen überschreiten, dass ich bei meinen Kollegen und Jugendgenossen, bei meinen Neffen und Nichten, bei jungen und älteren Leuten, die von rein deutschen Eltern stammen, aber von Kindheit an in madjarischem Geiste erzogen wurden, fast alles vermisse, was mir an Sitte, Art, Gesinnung, Lebensanschauung und Betätigung vom deutschen Wesen unzertrennlich erscheint. Andererseits müsste ich ihnen wohl manche schöne Eigenschaft und Tugend gutbuchen, auf die sie als Deutsche kaum Anspruch erheben könnten. Aber da ist es wieder höchst seltsam, dass gerade bei jenen, die die nationale Eigenart nicht mit der Muttermilch eingesogen haben, auch die nationalen Tugenden nicht recht zur Blüte gelangen. Meist sind sie unausgeglichen, bizarr, übertrieben und chauvinistischer als die der Vollblutmadjaren. Es ist wie mit der Pflanze, die im ungewohnten Boden ungewöhnliche Blüten treibt. Ich glaube, dass das Wahrwort Goethes vom höchsten Glück der Erdenkinder im gesteigerten Maße auch für den Staat Geltung hat. Was ist denn eine Nationalität anderes als eine Persönlichkeit im Staate?! Diese Persönlichkeiten sollten nicht nur nicht gehemmt und erstickt, sondern gerade im Interesse des Staates gehegt und gepflegt werden, eben weil sie das Wertvollste im Staate selbst darstellen. Mir fällt es gar nicht ein, in meinem Garten nur die Rosen oder nur die Kirschbäume stehen zu lassen und alle anderen Blümlein und Obstbäume auszurotten. Im Gegenteil! Ich freue mich umso mehr, je mehr Arten und Gattungen ich ziehen kann. Das ist nicht nur schön, sondern auch praktisch und vernünftig. Die ganze Idee des extremen Nationalismus und Chauvinismus ist eitel und unwahr, gerade wie Freiheit, Gleichheit und andere Schlagworte: Ideen, deren Mutter übertriebene Eigenliebe und deren Vater nacktes Machtgelüst ist. Was soll denn die nationale Homogenität für Vorteile bieten? Sind – um bei dem früheren Vergleich zu bleiben – homogene Staaten weniger der Verwucherung und Verwilderung einerseits oder der Überfeinerung und Erschlaffung andererseits ausgesetzt als polyglotte? Gewiss nicht! Man denke doch an Frankreich, an Italien, an Spanien! In Zucht und Ordnung müssen sie gehalten werden, keine Pflanze darf die andere im Wachstum behindern. Das ist die ganze – Staatskunst.

Ich glaube also nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, dass der Staat sich auch dann schadet, wenn er selbst die höhere Kultur der einen Nationalität der anderen aufzwingt. Wenn er aber die Nationalität mit höherer Kultur vernichtet um der minderen willen, dann ist dies ein Verbrechen. Und das ist der Fall des Deutschtums in Ungarn!

Infolge der politischen und kulturellen Farbenblindheit des Nationalismus haben wir heute noch gar keinen rechten Begriff von den spezifischen Eigenschaften der verschiedenen Nationalitäten. Radetzky nannte die Kroaten die besten Soldaten der Welt, aber es ist sicher, dass dieses tüchtige Volk auch noch andere hervorragende Tugenden besitzt. Was wissen wir über die Slowaken? Dass sie den Tschechen nicht verwandt sind, das ist jedem klar, der dieses biedere, treue Volk (nämlich die Slowaken) je gesehen. Ich hatte vor Jahren öfters Gelegenheit die an hohen Feiertagen in Tyrnau (dem slowakischen Rom) zusammenströmenden Slowaken zu beobachten und ich muss gestehen, dass ich nirgends – auch nicht in Rom – so edel geschnittene Männerprofile sah wie dort. Ein Volk, das solch einen Typus hervorbringt, ist unbedingt zu Großem berufen, denn ein Zulukaffer wird nie ein Römerprofil haben.

Wie Natur und Geschichte den extremen Nationalismus ad absurdum führen, dafür nur einige flüchtige Beispiele: Napoleon – der Inbegriff der gloire de la patrie – war kein Franzose, sondern Korse. Und seine Muttersprache war nicht Französisch, sondern Italienisch. Der große Empereur hatte zwar den Kontinent bezwungen, aber die französische Sprache nie ganz beherrscht! – Welch ein großer Deutscher Friedrich der Große gewesen, ist bekannt. Er hätte am liebsten die französische Sprache zur Staatssprache in Deutschland gemacht. – Der größte ungarische Dichter war ein Serbe und hieß ursprünglich nicht Petőfi, sondern Petrovics. – Dass Dürer der größte deutsche Bildkünstler ist, wird niemand bezweifeln. Dagegen muss es zum mindesten als strittig bezeichnet werden, ob Dürer germanischen oder madjarischen Ursprungs ist. Dürers Vater stammte nämlich aus dem kleinen, heute schon verschwundenen Dorfe Ajtós bei Großwardein resp. Gyula. Ajtó heißt nun Tür, und das „s“ am Ende hat im Ungarischen dieselbe adjektivale Bedeutung, wie das „er“ im Deutschen. Tatsächlich schrieb sich Dürers Vater noch in Nürnberg, wohin er als Goldschmiedegeselle einwanderte, „Thürer“ und sein Wappen hatte eine Tür im Felde. Selbstverständlich beweist dies alles noch nicht die madjarische Abstammung, denn wie an vielen ungarischen Orten, könnte ja auch in Ajtós eine deutsche Ansiedlung gewesen sein. Aber höchst seltsam ist es, dass das Bild von Dürers Vater in den Uffizien (natürlich vom berühmten Sohne gemalt) ganz madjarische Züge aufweist!

Ähnliche Beispiele ließen sich noch viele anführen. Welche Verheerungen die madjarisierende Tendenz der letzten fünfzig Jahre in dem deutschen Kulturstand unserer Gegend ausübte, darüber ließen sich Bände schreiben. Ich will nur ein Moment herausheben, weil dasselbe hervorragende politische Bedeutung gewann. Dadurch, dass die Mittelschulen die deutsche Sprache vollkommen ausschlossen, wurde der fast unglaublich erscheinende Zustand hervorgerufen, dass unsere gesamte sogenannte Intelligenz, welche vor fünfzig Jahren fast rein deutsch war, heute der deutschen Kultur entschieden entfremdet ist und in politischer Beziehung in extrem madjarisch-chauvinistischem Fahrwasser segelt. Unter den jüngeren Elementen der Intellektuellen in Westungarn gibt es heute vielleicht kaum 100 Männer, die für deutsche Kultur überhaupt noch ein Verständnis haben. In der Landbevölkerung ist es anders. Dort konnte schon aus praktisch-technischen Gründen die Madjarisierung nicht in dem Maße durchgeführt werden. Der wenig tiefgehende Einfluss unserer Volksschule einerseits und der konservative Sinn unserer Landbevölkerung andererseits bewirkten, dass die Madjarisierung auf dem Lande ohne irgendwie bedeutsame Wirkung gewesen ist.

Dieser Zustand hat in politischer Beziehung die verderbliche Wirkung, dass eine kompakt deutsche Bevölkerung von 300.000 Seelen von kaum einigen hundert madjarischen Beamten regiert und administriert wird. Tatsächlich hat die deutsche Bevölkerung also keine beziehungsweise eine ihr in wichtigen Beziehungen wesensfremde politische Vertretung. Nachdem die außerbeamtlichen Intelligenzkreise – weil in rein madjarischen Mittel- und Hochschulen herangebildet – für die deutsche Kultur überhaupt nicht in Betracht kommen und andererseits der nur Volksschulbildung besitzende Mann – auch wenn er die ungarische Sprache genügend beherrscht und über die nötige Intelligenz verfügt – aus angeborener Scheu vor den „Studierten“ sich gern im Hintergrunde hält, konnte und kann es geschehen, dass die kulturellen Postulate und Wünsche der deutschsprachigen Bevölkerung offiziell überhaupt nicht zur Kenntnis der Regierungskreise gelangen, ja selbst von der Diskussion in der Presse ausgeschlossen sind. Wenn jemand heute unsere Behörden und Funktionäre vom Obergespan angefangen bis zum letzten Dorfnotär befragte, welche Wünsche unsere deutsche Bevölkerung in völkischer oder kultureller Beziehung hegt, so wird er auch jetzt noch ausnahmslos die Antwort erhalten: „Ilyen kívánságok sem hivatalosan, sem magánúton tudomásunkra nem jutottak!“ („Solche Wünsche sind weder amtlich, noch auf privatem Wege zu unserer Kenntnis gelangt!“) Das Allermerkwürdigste ist nun, dass diese Auskunft loyal und wahr ist! Die westungarische deutsche Bevölkerung war und ist in völkisch-politischer Beziehung so passiv, dass es fast den Anschein hat, als ob sie es nicht der Mühe wert fände oder aber nicht den Mut und die Kraft fühle, ihre Wünsche auszusprechen und auf deren Erfüllung zu bestehen.

Woher diese Passivität, die fast krankhaft erscheint? Ich glaube, dass dieselbe hauptsächlich zwei Ursachen hat. Wie schon oben erwähnt, konnten unsere Vorfahren nicht jenen Überblick haben, den wir heute besitzen. Sie sahen vielleicht diese ganze chauvinistische Bewegung als eine vorübergehende Erscheinung an. Sie gedachten wahrscheinlich des Umstandes, dass Ungarn durch 900 Jahre keinen Chauvinismus kannte, sondern im Gegenteile gerade seine deutschen Staatsbürger auf das Beste behandelte und ihnen mannigfache Privilegien schenkte. Und dann hatten es unsere Vorfahren im Achtundsechziger Gesetze und in zahllosen feierlichen Deklarationen gerade der liberalen Regierungen schwarz auf weiß verbrieft, dass jede Nationalität Ungarns die Möglichkeit der freien Pflege ihrer Sprache und Kultur in Familie, Schule und Öffentlichkeit besitze.

Die andere Ursache scheint mir in der Scheu des Deutschen zu liegen, seine heiligsten Gefühle – und dazu zählt er auch Liebe und Treue zu Heimat und Vaterland – offen zur Schau zu tragen oder gar damit zu prunken. Es ist ihm die Vaterlandsliebe etwas so Selbstverständliches, dass er davon so wenig spricht wie über die Liebe zu den Eltern oder die Treue zur Gattin usw.

Dies ist ja überhaupt ein germanischer Wesenszug – im Gegensatze zu den Romanen oder den Madjaren. Ich erinnere mich nicht, bei Shakespeare auch nur einmal das Wort „Vaterlandsliebe“ gelesen zu haben. Und auch das Wort „Vaterland“ kommt kaum vor. Und wer hat je sein Vaterland mehr verherrlicht als Shakespeare! Man denke nur an die berühmte Prophezeiung in Richard dem Zweiten! Bei den Deutschen ist das Wort auch nicht sonderlich beliebt, was schon dadurch erhellt wird, dass meistens das Fremdwort „Patriotismus“ gebraucht wird. Wie anders bei den Romanen oder Madjaren! Eine Geschichtsstunde, eine Jugendfeier oder irgendeine Veranstaltung und Zusammenkunft, bei der das Wort Vaterlandsliebe nicht mindestens zehnmal gebraucht wird, ist einfach undenkbar. Andere Übertreibungen z. B. die Madjarisierung der Familiennamen und dergleichen haben die Deutschen in Ungarn nicht als patriotische Überschwänglichkeit, sondern einfach als Pietätlosigkeit empfunden. Nebenbei sei bemerkt, dass sich in den Zeiten nach Goethe auch in Deutschland manches geändert hat. Maßhalten besonders bei den heiligsten Gefühlen scheint man in Deutschland auch schon verlernt zu haben. Für den, der geschichtlichen Sinn hat, ist es nicht ohne Interesse zu beobachten, wie gerade der Chauvinismus die Völker gleich, das heißt monoton und uninteressant macht. Wenn man in Ungarn reist, so wird man in jeder Stadt ein Kossuth-, Széchenyi- oder Deák-Denkmal oder zumindest einen Platz oder eine Straße mit diesen Namen finden. In Italien ist im kleinsten Flecken ein Victor Emanuel-, ein Garibaldi- oder ein Cavour-Denkmal. In Deutschland aber heißt es Bismarck, Moltke oder Kaiser Wilhelm der Erste. Unsere Vorfahren waren etwas behutsamer in der Verewigung. Dafür aber haben ihre Denkmäler den Vorzug, dass sie tiefen Eindruck machen. Und das scheint mir die echte Dankbarkeit zu sein.

Ich fasse das Ergebnis obiger Darstellung kurz zusammen. Unsere intellektuellen Kreise, worunter ich alle jene verstehe, die eine Mittelschule absolvierten, sind fast ohne Ausnahme im chauvinistischen Lager. Die deutsche Landbevölkerung und das deutsche städtische Volk – soweit es nur Volksschulbildung hat – stehen dem Madjarentum gleichgültig, ja an vielen Orten mit passiver Resistenz gegenüber. Dass dies an und für sich ein politisch unhaltbarer, ja gefährlicher Zustand ist, bedarf keiner weiteren Ausführung.

Aber auch in kultureller und gesellschaftlicher Beziehung ist dieser Zustand verhängnisvoll. Die breitesten Volksschichten nehmen an der Betätigung madjarischer Kultur nicht teil, von der Pflege deutscher Kultur aber sind sie gleichfalls ausgeschlossen, da die hierzu notwendigsten Behelfe (Mittelschulen, Präparandien usw.) fehlen. Unser deutscher Bauernstand, der der Welt Liszt und Hyrtl schenkte, ist seit fünfzig Jahren kulturell entschieden zurückgegangen. Es ist eben totale Ebbe in der deutschen Kultur Westungarns eingetreten und das Burgenland ist heute ein verwildertes und verwuchertes Dornröschenland. Die Meinung vieler erfahrener Offiziere und Beamter über den „buta német paraszt“ ist daher durchaus nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Aber wer darf sich darüber verwundern? Jedes Volk muss verrohen, wenn man ihm die Schule raubt. In gesellschaftlicher Beziehung macht sich gegenseitige Zurückhaltung bemerkbar. Das Vereinsleben, besonders die ehemals blühenden deutschen Gesangsvereine stagnieren.

Während eben die deutschen Vereine bei jedem Anlasse ein oder mehrere ungarische Lieder bringen, fällt es den ungarischen Vereinen gar nicht ein, ein deutsches Kunstwerk vorzuführen. Heftigere Zeitungspolemiken zwischen den zwei Volksstämmen kommen schon seit Jahrzehnten nicht vor. Die Deutschen hüten sich davor, als „unpatriotisch“ angesehen zu werden. Dabei ist noch ein ungemein interessanter Umstand zu erwähnen. Es wurde schon oben deutlich gemacht, dass die gesamte gebildete Jugend in einer extrem-chauvinistischen Ideenwelt lebt. Trotzdem ist es höchst selten, dass ein geborener deutscher Ödenburger in der Beamtenklasse bei der Stadtverwaltung dient. Bei dem Komitat kommt dies überhaupt nicht vor. Ja, unsere jungen Leute aus urdeutschen Familien, denen der Chauvinismus in Mittelschule und Hochschule eingeimpft wurde, kehren überhaupt selten in ihre Heimat zurück. Es scheint, als ob ihnen die Heimat nicht genug patriotisch sei. Sie finden keinen rechten Zusammenhang mehr mit dem Volke, das in Stadt und Land deutsch geblieben. Andererseits sind es nicht wenige, aber meist schon ältere Leute, die die Abneigung vor dem Chauvinismus zum Ergreifen des Wanderstabes bewog. So blieb das Feld der Politik fast gänzlich den „Dahergelaufenen“ überlassen, die wahrlich nicht bescheiden davon Besitz ergriffen.

Das in Zahlen sichtbare Resultat madjarischer Nationalitätenpolitik ist folgendes:

Im Jahre 1892 (Frühere Daten stehen uns momentan nicht zur Verfügung.) zählte man in der Stadt Ödenburg

Deutsche 17.300

Madjaren 8.100

Im Jahre 1914 zählte man:

Deutsche 17.000

Madjaren 15.000

Während also die Deutschen sich in 22 Jahren überhaupt nicht vermehrt haben, sondern an Zahl zurückgegangen sind, haben die Madjaren sich um das Doppelte vermehrt. Selbstverständlich nicht so sehr durch natürlichen Zuwachs oder Zuwanderung, sondern so, dass ein großer Teil des deutschen Nachwuchses (eben die „Gebildeten“) ins madjarische Lager überging! Dass dabei oft ein kleiner „Druck“ nicht vermieden wurde, dafür spricht das folgende Erlebnis: Als ich im Jahre 1912 vor dem Matrikelführer erschien und derselbe meine Personalien aufnahm, gab ich als Muttersprache selbstverständlich die deutsche an. Der Standesbeamte war darüber nicht wenig erstaunt, worauf ich wiederholte, dass meine Muttersprache tatsächlich die deutsche sei. Der Beamte meinte darauf, dass man den Begriff Muttersprache auch so auffassen könnte, dass darunter jene Sprache zu verstehen sei, die man am liebsten spreche. Als ich darauf betonte, dass auch in diesem Falle die deutsche meine Muttersprache sei, fing er an, von patriotischen Motiven usw. zu sprechen und es gelang mir erst mit der energischen Bemerkung, dass ich mir Belehrungen in puncto Patriotismus verbitten müsste, der Diskussion ein Ende zu machen. Wenn nun der Matrikelführer mir – einem Lateiner – gegenüber, derlei Kapazitierung wagt, so ist es plausibel, wie viel er bei den ungebildeten Leuten wagt und erzielt. Selbstverständlich war das Vorgehen des Beamten kein eigenmächtiges, sondern ein von der Oberbehörde gewünschtes und inspiriertes. Tatsächlich haben auch die Formulare zur Volkszählung einen Vermerk enthalten, wonach unter Muttersprache auch jene verstanden werden könne, die man am liebsten spricht. Wenn man doch bedenken würde, wie durch solche „Künsteleien“ der Sinn für Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Volke geschwächt und der Wert der viele Millionen verschlingenden Volkszählungen und statistischen Erhebungen beeinträchtigt, ja – fast illusorisch gemacht wird.

Zu welchen Auswüchsen der Chauvinismus führt, das möge sich aus folgender Begebenheit erhellen: Es dürfte zu Anfang des Jahrhunderts gewesen sein, als ein „dahergelaufener“ Advokat – im Hauptberufe Wucherer – den Antrag im hiesigen Gemeinderate stellte, dass der habsburgische Doppeladler vom Stadtturme [heute: Feuerturm; d. Red.], dem charakteristischen Wahrzeichen nicht nur der Stadt, sondern – man kann sagen – des ganzen Burgenlandes entfernt werde, da es doch unmöglich sei, dass eine ungarische Stadt über sich den österreichischen Adler dulde. Der Adler wurde von einem Kaiser Leopold, der auch apostolischer König Ungarns gewesen, als Auszeichnung der Stadt geschenkt. Man sollte nun glauben, dass ein solcher Antrag (ganz abgesehen von der Person des Antragstellers) sofort ins Grab der Lächerlichkeit eingescharrt worden sei. Denn jedermann weiß doch, dass selbst in dem so patriotischen resp. chauvinistischen Italien gerade in den größten Städten und an den schönsten Palästen die fremdländischen Wappen und Wahrzeichen – z. B. die Lilie der Bourbonen und das „M“ der Hohenstaufen – dutzendweise zu sehen sind. In Ödenburg kam es aber anders. Der Antrag wurde von der madjarischen Partei mit Begeisterung begrüßt. Auf deutscher Seite hüllte man sich in tiefstes Schweigen, denn niemand wollte in den Geruch kommen, vielleicht gar österreichfreundlich zu sein. Dass der Antrag nicht durchgeführt wurde, war nur dem Umstande zu verdanken, dass infolge der Höhe des Turmes die Kosten der Abnahme des Doppeladlers ganz außergewöhnlich groß gewesen wären. Der Antragsteller aber gab bald darauf einen merkwürdigen Beweis seiner patriotischen Begeisterung. Als er nämlich genug zusammengewuchert hatte und den Boden offenbar schon zu heiß fand, verließ er nicht nur Ödenburg, sondern auch Ungarn und verzehrte im Auslande die fetten Renten seiner patriotischen Tätigkeit.                                                   Ende Teil 2, Fortsetzung folgt

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wahlurne.jpg

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