Erinnerungen eines Ungarndeutschen (Teil 6.1)

Von San.-Rat Dr. Johannes Angeli

Vorwort

So manches kann der Mensch erleben, wenn er über 80 Jahre alt wird, lebte er aber in den letzten acht Jahrzehnten, dann umso mehr. Umso mehr auch, wenn er als Auslanddeutscher vertrieben wurde und schließlich aus der DDR geflohen in der BRD wieder eine neue Heimat gefunden hat! Vor Jahren hat mein damals 12-jähriger Sohn gelangweilt gestöhnt: „Ach Papa, bei dir war wenigsten noch was los.” Da konnte ich nur antworten: „Du weißt doch gar nicht, wie glücklich Du sein kannst, in dieser guten neuen Zeit leben zu können.” Keineswegs handelt dieser Rückblick – um mit Goethe zu sprechen – von „Dichtung und Wahrheit“, sondern von Wahrheiten aus den „Erinnerungen eines Ungarndeutschen“.

Gern hätte ich auf so manche mir aufgezwungene Ereignisse lieber verzichtet, aber die Weltpolitik und ihre Folgen haben den kleinen Mann – hier den kleinen 10-jährigen Jungen -mitgerissen, ob er wollte oder nicht. So wurden viele meines Namens aus dem kleinen ungarndeutschen Dorf vom Winde verweht – vom Winde der Weltgeschichte in alle Himmelsrichtungen.

Wie es mir erging, will ich aus der Sicht eines kleinen Jungen, eines Jugendlichen, eines Familienvaters und schließlich als zurückblickender Rentner aufschreiben – aufschreiben für die, die Ähnliches durchlebten, die uns vielleicht nur verstehen wollen oder gar nur für die Enkel unserer Zeit und unserer Familien.

Teil 6.1: Wieder über Ungarn nach Deutschland – die Flucht 1989 (Teil 5 ist in Nr. 3/2021 erschienen)

Die Ironie der Geschichte, wie ich sie betreffs meines Namens zum Abschluss des letzten Teils beschrieb, setzt sich, wenn man so will, in einer anderen Form fort. Ironie schon deshalb, weil ich wieder über Ungarn nach Deutschland kam – bedingt durch weltgeschichtliche Umwälzungen, diesmal auf die Seite Deutschlands, die mir bei der Vertreibung 1948 verwehrt wurde (siehe Teil 3, Vertreibung) – wieder hinein in eine fremde Umgebung, wieder mit dem festen Willen zur Integration und zum totalen Neuanfang! Diesmal aber nicht als Kind, als 10-jähriger Junge, sondern als erwachsener Mann, wieder mit Familie, mit viel Mut und vollem Risiko!

Heute frage ich mich so manchmal: War das kopfloses Risiko oder der Pioniergeist der Ahnen, die mit ihren Ulmer Schachteln nach Südosten zogen oder der Pioniergeist der zahlreichen Auswanderer nach Amerika, die ebenfalls mit Kind und Kegel nach Westen zogen, um sich ein neues, freieres Leben aufzubauen? Oder war es nicht die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, dass sich dieses verkrustete politische System nie ändert und man ihm nur entfliehen kann, – „mit den Füßen dagegen abstimmen”-, um es so zum Wanken zu bringen?

Was das damals eine gewaltige Umwälzung und ein tiefer Umbruch für Land und Leute war, sollte man doch noch aus eigenem Erleben ein wenig nacherzählen.

Als im Mai 1989 Ungarn begann, den Stacheldrahtzaun zu Österreich demonstrativ abzureißen, war mir sofort klar, jetzt ist das Ventil vom rumorenden „Dampfkessel DDR” geöffnet, jetzt setzt eine Fluchtbewegung über Ungarn gen Westen ein. Auch ich, auch wir wollten dabei sein!

Warum ich? Eigentlich ging es mir als Zahnarzt in einer staatlichen Einzelpraxis (im Erdgeschoss Praxis, Wohnung darüber in einem Einfamilienhaus) doch relativ gut, d. h. ich konnte mich politisch abseits halten, hatte mein festes monatliches Gehalt, mein staatlich zugeteilter Versorgungsbereich umfasste immerhin rund 4000 Einwohner – eigentlich heute unvorstellbar bei der technischen Ausrüstung und den zahnlabortechnischen Möglichkeiten.

Es ist hier vielleicht notwendig deutlich herauszustellen, was eigentlich die wichtigsten Beweggründe für den Sturm dieser Menschenmasse über Ungarn in Richtung Westen war, zumal ich mir in Ost und West irrige Vorstellungen über Fluchtgründe anhören musste – besonders oft von Leuten, die das Innenleben der DDR nicht leben mussten, weil sie – nach Bundeskanzler Helmut Kohl – „auf Grund der Gnade der Geburt” außerhalb aufwuchsen oder noch zu jung beziehungsweise noch nicht geboren waren.

Da war vor allem der psychische Schock, der einem Bürger der DDR mit der Errichtung der Mauer am 13. 8. 1961 zugefügt wurde. Hatte man vorher mehr oder weniger das Gefühl, eine winzige Wahlmöglichkeit zu haben, beschlichen einen jetzt das Gefühl und die Angst: Hier bist du nur eingesperrt, hier kommst du nicht mehr raus. Ja, Du darfst diesen so genannten „Antifaschistischen Schutzwall” nicht mal als das bezeichnen, was er ist, sondern Du musst die Lügenpropaganda über dich ergießen lassen und eventuell sogar „nachplappern”, aber keinesfalls darüber einen politischen Witz erzählen, diese kursierten als Frustabbau zahlreich, denn eine Verletzung dieses Tabuthemas bedeutete Gefängnis und politische Verfolgung – erst recht bei Fluchtversuchen (so genannte „Republikflucht”) waren 2-3 Jahre Gefängnis obligatorisch, falls man nicht vorher schon an Mauer und Grenze erschossen wurde. Dieses Gefühl der „ewigen” Mauer hat sich so eingebrannt, dass man heute, 60 Jahre später, nicht glauben kann, dass dieses Bollwerk der Schande schon länger gefallen ist, als es je bestand. Ich gebe denen Recht, die zu dem Jubiläum des Mauerfalls schrieben: „Der Mauerbau war der Anfang vom Ende der DDR.“ Viele Menschen gingen in die innere Emigration, zogen sich, soweit sie es konnten, zurück, zurück in „sichere” Freundes- und Familienkreise.

Wer seinen Beruf liebte und ihn nicht nur als Broterwerb, sondern als Berufung ansah, litt unter der schreienden Inkompetenz und Unfähigkeit von Vorgesetzten und Kreisärzten, die nur dank ihrer Partei- (SED-) Zugehörigkeit mit den Jahren immer zahlreicher in leitende Positionen kamen und mehr Wert auf politische Aktivitäten (politisierende Wandzeitung, Kollektiv der sozialistischen Arbeit, allmorgendliche SED-”Zeitungsschau”, sozialistische Jugendarbeit u.v.a.) als auf fachliche Leistung und Ausbildung legten.

So mancher – wie ich auch – wich deshalb aus in so genannte Staatspraxen, wo er allein – meist im ländlichen Raum – oft wohl mit hohem Patientenaufkommen (bei mir z. B. ein fest zugeteiltes Einzugsgebiet von 4000 Patienten), aber relativ frei von politischen Schikanen, sich nur seinen Patienten widmen konnte.

Durch die obligatorische fünfjährige Facharztausbildung und durch die zahlreichen, ständig laufenden Fortbildungskurse an den verschiedenen Universitäten der DDR waren alle Kollegen/Kolleginnen, die sich ernsthaft darum bemühten, bestens ausgebildet und auf dem neuesten Stand der deutschen und internationalen Zahnmedizin.

So las ich auch kontinuierlich „Westfachliteratur”, zu der ich über einen Patienten, dessen Verwandter in der BRD Zahnarzt war, Zugang bekam. Dabei versuchte ich manches mit meinem – zum Glück noch vorhandenen – privaten Zahntechnikermeister „nachzubauen”, „nachzuerfinden” mit vorhandenen DDR-Mitteln.

Aber was nützt das! Nur einige erschreckende Beispiele: Zahngold gab es keins; die Silber-Palladium-Legierung-Zuteilung pro Quartal reichte für eine kleine Brücke; eine einfache Modellgussprothesen-Fertigstellung dauerte bei den Laborkapazitäten ein Vierteljahr (!); selbst Amalgam wurde vierteljährlich zugeteilt. War man fleißig (siehe Patientenzahl), reichte es nicht über drei Monate, die restlichen defekten Zähne konnte man nur provisorisch versorgen, musste im neuen Quartal diese wieder gegen Amalgam austauschen – damit fehlte am Quartalsende erst recht wieder Amalgam – ein sich aufschaukelnder Teufelskreis! Ein deprimierendes Arbeiten! Man stopfte – wie in der gesamten Wirtschaft der DDR – das eine Loch und riss ein anderes auf.

Für mich war noch ein sehr wichtiger Grund, meine junge Familie nicht diesem politischen System weiter auszuliefern. Selbst wenn ihr nicht mehr drohte, so einem stalinistischen Druck wie ich am Gymnasium (siehe Teil 4) ausgesetzt zu sein, war ja schon die Auswahl für das Gymnasium (Oberschule DDR) zweitrangig von den Schulnoten abhängig, sondern erstrangig vom prozentualen Anteil am Bevölkerungsdurchschnitt; d. h. da der prozentuale Anteil der Intelligenz in der DDR im Null-Komma-Bereich lag (ca. 0,8 %), konnten somit laut staatlicher Vorgabe nur Null-Komma (0,8 %) der Schüler der Klasse auf höhere Schulen. So wollte das politische System ständig durchmischen, keine Eliteklassen entstehen lassen und – ein wichtiger Aspekt – die derzeitigen „Intelligenzeltern” zum politischen Wohlverhalten gegenüber dem Staat und der politischen Macht zwingen, ja erpressbar machen.

Mein über Jahrzehnte gewachsener Hass gegen diesen verlogenen Staat sollte ich nun weiter unterdrücken und vor allem meine Kinder diesem System ausliefern? Nein, das sollte ein Ende haben! Auch sollten endlich ein Ende haben unsere Träume, wie auch die vieler DDR-Bürger von Urlaubsreisen in alle Welt hinaus; Schiffsreisen waren praktisch utopisch, wer in Januar noch keinen Urlaubsplatz sicher hatte – selbst mit einfachen Ansprüchen –, dem war „Balkonien” sicher. Wie groß war der Jammer so mancher zum Höhepunkt der Corona-Epidemie, als sie nicht im Ausland Urlaub machen konnten! Das war in der DDR Dauerzustand! (Sehen wir mal ab von den wenigen Kontaktreisen ins sozialistische Ausland, z. B. nach Ungarn, oft unter primitiven Gegebenheiten, siehe Teil 5!)

Wer würde nicht verzweifeln an einem Staat, der ständig verspricht und auf den Sieg des Sozialismus vertröstet, aber nicht die einfachsten Dinge des Lebens erfüllen kann? Pkw mit 12-jähriger Anmeldung, Farbfernseher nur aus Ost-Berlin mit Beziehung und viel Geld (rund 7000 Mark der DDR), kaum Telefonanschlüsse, geschweige denn Fax, Kopierer, Camcorder, Videorekorder – alles Artikel, die in den Intershop-Läden der DDR für D-Mark einem vor die Nase gehalten wurden? Wer die begehrte D-Mark hatte, bekam alles, auch Handwerker, Fliesen und Baumaterial, sogar Pkw über Genex. Wer noch so fleißig arbeitete, aber kein „Westgeld” (auch „Gute” genannt) hatte, war nur wütender Zuschauer, es sei denn, er war bei der Stasi und wurde teilweise mit DM „entlohnt”.

Kein Wunder, dass im Laufe der 80er Jahre die Hatz nach der D-Mark immer heftiger wurde, ja, verwerfliche Züge annahm bis hin zu einem Umtauschkurs von 1 zu 10 und noch höher (in den 1980ern lag der offizielle Kurs bei 1 zu 7, Red.). Kein Wunder, dass die Demonstranten nach der Wende riefen: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr!”

So wurde der Staat, ein Land immer weiter demoralisiert. Ist nicht auch die ein Drittel höhere Suizidrate in der DDR gegenüber der BRD in diesen Jahren ein Fingerzeig für die Hoffnungslosigkeit? Die Jugend sah keine Perspektive und Entwicklung mehr und die Älteren waren endgültig frei jeglicher Illusion und jeglichen Glaubens, dass sie noch positive Veränderung erleben könnten.

Ein Land, das propagandistisch behauptet, hinsichtlich der Wirtschaftsleistung an 10. Stelle in der Welt zu stehen, aber nur in der Lage war – unter vielen anderen Dingen – Südfrüchte (Bananen, Apfelsinen) mit Zuteilung zu Weihnachten und zum 1. Mai anzubieten, hatte jegliche Glaubwürdigkeit verloren.

Dazu fällt mir eine lustige Episode ein, die wunderbar das DDR-System charakterisiert. Am 1. Mai, dem „Kampftag der Werktätigen” (staatlicher O-Ton), fand die übliche 1. Mai-Demonstration statt und alle örtlichen Betriebe und Einrichtungen waren indirekt gezwungen, mit Fahnen und Losungen/Plakaten daran teilzunehmen. Ganz vorn die Musikkapelle, dahinter die Honoratioren, die Schulklassen und dann die Gruppen der einzelnen Abordnungen – so ging es durch die endlosen Straßen des Ortes. So kamen wir auch an der örtlichen einzigen Lebensmittelverkaufsstelle (einem Dorf-Konsum) vorbei. Davor stand stolz im blütenweißen Kittel der Verkaufsstellenleiter und neben sich eine große Tafel mit der demonstrativen Aufschrift: „Nach der Demonstration gibt es Bananen!” Der Zug ging weiter, aber – oh, Schreck! – die Demonstranten wurden immer weniger. Einer nach dem anderen sprang ab und lief in Richtung Verkaufsstelle. Am Schluss kam auf dem Sportplatz des Ortes, wo der Abschluss der Demo mit den üblichen geschwollenen politischen Reden geplant war, nur noch die Blaskapelle mit den Honoratioren an. Die anderen standen in einer riesigen Schlange vor dem Dorfladen, um die langersehnten Bananen (eine pro Familienmitglied) zu ergattern. Heute kann man herzlich darüber lachen, aber gibt es was Schöneres, das die DDR und die politische Einstellung der Bevölkerung besser charakterisiert, – ja, karikiert -, als diese 1. Mai-Episode?

Nun bleibt mir nur zu hoffen, dass ich einigermaßen die wichtigsten Fluchtgründe für die vielen aus der DDR Flüchtenden im Jahre 1989 und auch davor verdeutlichen konnte.

Sehr interessant fand ich auch hierzu das Interview, das der ehemalige Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse, am 13. August 2021 der HNA, unserer Regionalzeitung, gab, anlässlich seiner Teilnahme an der Gedenkveranstaltung der Adam-von-Trott-Stiftung in Bebra-Imshausen (nur ca. 20 km von unserem Wohnort entfernt). Hier nur die wichtigsten Passagen zum Thema:

In der DDR hat man sich immer mit der Frage befasst, ob man weggeht oder dableibt.”

Trotzdem hatte ich in der DDR immer das Gefühl nicht richtig zu Hause zu sein, nicht wirklich dazuzugehören.”

Der Mauerfall war für mich eine Art Explosion meines Lebens, wie ich sie mir bis 1989 gar nicht hatte vorstellen können – (…) ein Grundgefühl des Glücks, der Befreiung.”

Mit diesen Zitaten aus dem Interview möchte ich verdeutlichen, wie auch andere Zeitzeugen dieser Zeit (Wolfgang Thierse ist rund 7 Jahre jünger als ich) diesen Staat DDR und das Leben darin empfanden. Es lag also immer an dem Einzelnen, ob er weiter hoffte oder resignierte, ob er da blieb oder floh.

Nun aber wieder zurück zu unserem persönlichen Fluchtgeschehen! Sofort begannen unsere systematischen Vorbereitungen zur Flucht über Ungarn. Sprechen konnten wir mit niemandem darüber – ja, meine Frau und ich sprachen, aus Angst vor „Abhörwanzen” im Telefon und im Wohnraum, nur in der freien Natur und natürlich keinesfalls vor den Kindern über unsere Planung. Es mag heute vielleicht als überzogene Vorsicht anmuten, aber zur Verdeutlichung nur noch folgendes Erlebnis. Im Rahmen eines Kuraufenthaltes war ich ca. 10 Jahre zuvor – zu meinem Seelenglück nur drei Tage – mit dem stellvertretenden Stasi-Chef des Bezirkes Schwerin (heute Land Mecklenburg-Vorpommern) im selben Doppelzimmer einquartiert. Abgesehen davon, dass ich krampfhaft nach unverfänglichen Gesprächsthemen suchte, plauderte er fröhlich wichtigtuend aus dem „Nähkästchen” der Staatssicherheit.

Aufgrund der zahlreichen in die BRD geflüchteten Ärzte wurden im gesamten Bezirk Schwerin alle Ärzte in Gefährdergruppen (Fluchtkandidaten) je nach Alter, Familienstand, Familienverhältnissen, politischer Einstellung, Westbindung, Westverwandtschaft, politischem Engagement u. a. eingeteilt und je nach ihrer Gefährdergruppe mehr oder weniger intensiv überwacht – und das mit durchschlagender Aufklärungsquote oder deutlicher Enttarnungsquote von potentiellen Fluchtkandidaten („Republikverräter”).

Das wurde z. B. auch unserer Hausärztin aus Lützen zum Verhängnis. Man überwachte ihren Brief- und Telefonverkehr und weil sie mit Tochter und Schwiegersohn (auch Ärzte) nachweislich fliehen wollte, kamen sie und ihre Kinder „obligatorisch” für zwei Jahre ins Gefängnis und die Enkel in fremde „Obhut”.

Ein einziges Ehepaar, beste Freunde, weihten wir im Laufe des Sommers 1989 ein und begannen die für uns allerwichtigsten Wertgegenstände und Erinnerungsstücke abends in deren Tiefgarage zu transportieren. Einen anderen Teil deponierten wir separat im Haus (im Wartezimmer), den wollten wir z. T. mit unserem Auto noch mitnehmen und den Rest am vorletzten Tag, – dem geplanten Abschiedstag von meinem Vater, den wir keinesfalls psychisch schon davor belasten wollten -, bei ihm unterbringen. Mein Cousin aus St. Iwan bei Ofen/Pilisszentiván war gerade zu Besuch bei uns, der nahm schon mal die erste Autofuhre mit nach Ungarn und kam ein paar Monate später mit einem weiteren Verwandten wieder, um nun mit zwei Pkw einen größeren Transport nach Ungarn vorzunehmen. Wer schon mal einen Haushalt oder ein ganzes Haus ausgeräumt hat, weiß, was das für ein stressiges Unterfangen ist. Aber heimlich und versteckt, immer mit der Angst im Rücken entdeckt zu werden, – das kann wahrscheinlich nur der nachfühlen, der selbst so etwas durchmachen musste. Schlussendlich waren Haus und Wohnung so verändert, dass wir niemanden – auch nicht gute Bekannte und alte Freunde – in die Wohnung ließen, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Wenn jemand am nun abgeschlossenen Gartentor klingelte, krochen wir geduckt ans Fenster und öffneten nur, wenn es ungefährlich für unser Vorhaben war; ja, das ging in den letzten Wochen sogar so weit, dass wir am Abend kein Licht einschalteten, um unsere Anwesenheit zu verbergen. Dieser Zustand war stressiger und vor allem psychisch belastender als die teilweise heimliche Auflösung unseres Haushaltes. Seit dieser Zeit wissen wir auch, dass wir für Spionage- oder Agententätigkeiten vollkommen ungeeignet wären.

Um meinen Fortbildungswillen zu demonstrieren und um die Patienten von Praxis und Haus fernzuhalten, habe ich noch schnell einen Keramikkurs an der Universität in Leipzig belegt, denn Unis und Fortbildungseinrichtungen hatten diese Möglichkeiten, und waren meist durch BRD-Importe auf dem neuesten labortechnischen Stand, während wir Zahnärzte „draußen” noch im „Kunststoffzeitalter” steckten. Bezeichnend für die zahnärztliche Versorgungslage damals in der DDR ist auch das Beispiel, dass eine meiner Kurspatientinnen aus Dresden (!) mit der Eisenbahn nach Leipzig anreiste, um so zu einer Keramik-Frontzahnkrone zu kommen. Durch diesen vierwöchigen Kurs war das Wartezimmer obendrein unbenutzt und konnte so als unser „Zwischenlager” für alles, was wir noch mitnehmen wollten, genutzt werden.

Den Höhepunkt dieses Nervenkrieges oder Fluchtkrimis hatten wir aber noch vor uns. Ungarn war inzwischen wieder visumspflichtig „zum Wohle und Schutze der DDR-Bürger” erklärt und praktisch abgeriegelt worden. Nun spielte dieses diabolische System seine letzte Trumpfkarte aus: Ich bekam ein Visum, sogar mit Pkw, meine Frau und die Kinder keins! Begründung: „Die Sicherheit meiner Frau und der Kinder ist in Ungarn nicht mehr gewährleistet.” Im Grunde genommen nahm man meine Frau und meine Kinder in Geiselhaft, um meine Rückkehr aus Ungarn abzusichern. Wir protestierten bis zum obersten Leiter des Pass- und Meldewesens der Kreisstadt, ich wies auf meine zahlreiche ungarische Verwandtschaft hin und auf die Siberhochzeit meines Cousins, die wir uns als Begründung für das Visum ausgedacht hatten. Alles half nichts, der „allmächtige hörige Staatsdiener” blieb stur – meine Frau weinte Nächte durch. Das Pokerspiel ging bis zum letzten vorletzten Tag unserer geplanten Abreise. Wir aber wollten noch unbedingt vor dem 40. Jahrestag der DDR mit all seinem Rummel und versuchter Gesichtswahrung des Systems weg sein, weil wir, gemäß der „Jubelgesänge” von Egon Krenz und anderen Regierungsmitgliedern, „chinesisches Vorgehen” wie auf dem „Platz des Himmlischen Friedens” in Peking danach befürchteten. Und wenn russische Panzer wie am 17. Juni 1953 wieder aufgefahren wären, wäre es auch mit dem Erfolg dieser Revolution der Deutschen vorbei gewesen. Nur Michail Gorbatschow und – welch ein Witz der Geschichte – ein bisschen dem senilen ZK und Politbüro der DDR war es zu verdanken, dass es anders und so glücklich für uns Deutsche ausging. Wer was anderes behauptet – und das werden immer mehr -, kennt nicht das kommunistische System eines totalitären Staates und redet sich die Geschichte und ihren Ablauf nur schön.

Das musste hier eingefügt werden, um einigermaßen zu verstehen, warum noch zu dieser Zeit DDR-Bürger über Flüsse und bundesdeutsche Botschaften flohen, durch Wälder krochen und durch Seen wateten oder in Lagern in Ungarn unter schwierigsten Bedingungen ausharrten. – Welch eine Panik und welch ein Sturm der Hoffnungsvollen hatte ein ganzes Land erfasst! Hier und jetzt ereigneten sich Umwälzungen, die Deutschland, Europa und die Welt innerhalb von Tagen und Wochen so verändert haben, wie wir es in 40 Jahren DDR nicht zu träumen wagten.

Noch eine Episode oder gar Kriminalstory aus dieser aufregenden Zeit, die aufzeigt, dass neben der verdienstvollen damaligen Regierung Ungarns auch die ungarische Bevölkerung die Fluchtbewegung der Ostdeutschen aktiv unterstützte: Wie ich schon beschrieb, kam mein Cousin mit einem weiteren Verwandten und dessen Auto zwecks Transportfahrten nach Ungarn am letzten Wochenende vor unserem geplanten Fluchttermin. Dieser andere Verwandte hatte hilfsbereit Wochen vorher einen, ihm völlig unbekannten DDR-Flüchtling mit seinem Pkw bis zur ungarisch-österreichischen Grenze gebracht. Nach dessen gelungener Flucht bat ihn dieser telefonisch in Ungarn, er möge doch seiner Frau bei Dresden persönlich mitteilen, sie möge in die Prager BRD-Botschaft flüchten. Kaum bei uns angekommen, wollte er diese Nachricht schnellstmöglich überbringen. Das Ganze war mir in Kenntnis der Stasiaktivitäten der DDR von vorneherein suspekt. Ich fuhr wohl mit, bestand aber darauf, nur in seinem Auto mitzukommen, um bei Komplikationen möglichst keine Spur zu uns zu legen. Bei abendlicher Dunkelheit fuhren wir ca. 80 km zur besagten Ehefrau. Kurz vor dem Ort sagt er mir, dass der Ehemann aus der BRD seiner Frau telefonisch mitgeteilt habe, dass er (mein entfernter Verwandter) an diesem Abend mit einer wichtigen Botschaft kommen würde. Ich bin bald im Auto explodiert! Wie kann man so naiv bei der kontinuierlichen Stasiüberwachung von West-Ost-Telefonaten und „fluchtgefährdeten” Personen überhaupt sein!? Für einen Ungarn vielleicht möglich, für einen „stasierfahrenen” DDR-Bürger undenkbar!

Um zu retten, was noch zu retten war, stieg ich am Ortseingangsschild aus und ließ ihn alleine zur besagten Ehefrau weiterfahren. Als er zurückkam und wir wieder zurückfuhren, fiel mir sofort auf, dass zwei Pkw auf einem angrenzenden Feldweg (!) die Lichter einschalteten und hinter uns herfuhren. Gleich was wir unternahmen, ob wir schnell, langsam fuhren oder in einem Ort vor einem Schaufenster anhielten, – sie waren immer hinter uns her und auf den spätabendlichen leeren DDR-Straßen leicht zu erkennen. Schließlich blieben wir auf der Fernstraße stehen und stiegen komplett aus dem Auto aus. Die Verfolger, inzwischen nur ein Auto, rasten an uns vorbei und nach ca. 50 Metern riss der Fahrer sein Auto nach Rennfahrermanier ohne zu rangieren mit quietschenden Reifen in einem Ruck herum, kam uns entgegen, fuhr aber mit seinem mit mehreren Männern besetzten Lada langsam an uns vorbei.

Was nun? Ich traute mich nicht nach Hause, um meine Identität nicht zu verraten. Ratlos parkten wir vor dem Bahnhof der Kreisstadt und suchten nach eventuell unterm Auto angebrachten Signalgebern. Inzwischen Mitternacht geworden blieb uns nichts anderes übrig: Wir fuhren zurück zu uns nach Hause – und siehe da, von den Verfolgern war nichts mehr zu sehen!

Erst heute ist mir bewusst, dass die Stasiverfolger nur den Auftrag hatten, zu verhindern, dass mit dem ungarischen Pkw die Ehefrau des Geflüchteten nach Prag zur Botschaft mitgenommen wird. Als es denen klar wurde – wie auch immer-, dass wir die Frau nicht dabei hatten, ließen sie von uns ab.

Doch damals war ich total am Boden zerstört und sagte zu meiner schon ungeduldigen wartenden Ehefrau, dass wir unsere Flucht und ihr Visum vergessen können. Eine verzweifelte Nacht war die Folge. Zum Glück kam es doch anders, aber was für eine zusätzliche psychische Belastung! Aber heute und im Nachhinein: Welch eine engagierte und lobenswerte Tat eines ungarischen Bürgers gegenüber fluchtwilligen DDRlern.

Einen Tag vor unserer geplanten Flucht war meine Frau wieder beim Leiter des Passwesens einbestellt. Zu so einem Termin geht man hin wie zu einem Gottesurteil, zumal nach dieser nächtlichen Autoverfolgungsjagd! Nun der Bescheid dieser perfiden Person: Er hätte eine gute und eine schlechte Nachricht – meine Frau bekomme mit den Kindern auch das Visum, aber die ČSSR-Grenzen und -Straßen sind für Pkw der DDR gesperrt. Wir waren erstmal geschockt! Aber es blieb uns noch das Flugzeug nach Ungarn. So stark war unser Drang zur Flucht, dass wir auch mit zwei Koffern (Fluggepäckstücken) geflohen wären – nur weg und sofort! Wer stand deshalb am nächsten Morgen um 6 Uhr vor dem Reisebüro der DDR in Leipzig, weil es nur dort Flugscheine gab? Natürlich wir – und staunten nicht schlecht, als sich der von uns befürchtete Ansturm auf Flugtickets nicht einstellte. Misstrauisch geworden, rief ich unter falschem Namen nach 8 Uhr von einer öffentlichen Telefonzelle aus die Bezirksdirektion der Volkspolizei/Passwesen in Leipzig an und – siehe da – es stellte sich zu unserer Freude heraus, dass man durch die ČSSR mit Pkw reisen konnte, wenn man dafür das nötige Visum hatte. Hurra, das hatten wir!

Parallel dazu mussten wir eine weitere, bewusst aufgebaute Schikane nehmen. An der Grenze zur ČSSR wurden – gleich ob in der Eisenbahn oder im Auto – Eltern mit schulpflichtigen Kindern, die – wie wir – außerhalb der offiziellen einheitlichen Ferienzeit der DDR ohne genehmigte Schulfreistellung waren, trotz Visum grundsätzlich zurückgewiesen. Mit Müh und Not erschwindelte ich von der Schuldirektorin diese Freistellung, aber der miese Typ von der Passmeldestelle hatte uns diese Genehmigung bewusst einbehalten. Nun hatten wir wieder nichts in den Händen. Ich wusste aber, dass die Klassenlehrerin einen Schreibmaschinen-Durchschlag hatte (Fotokopie kannte die DDR ja nicht!). Abends hin zu ihr und nach langem Beschwatzen und Lügen, die nur einem Systemerfahrenen einfallen konnten, rückte sie den Durchschlag heraus – ein Gefühl, als ob ich die zweite Promotion erhielte.

Abends noch die Fahrt zu meinem verwitweten Vater nach Lützen, den wir erst jetzt in unser Vorhaben einweihten! Wir alle waren uns bewusst, dass das ein Abschied für immer sein konnte, einerseits auf Grund des Alters (76 Jahre) meines Vaters und andererseits wegen der Rachebestimmung der DDR, so genannte „Republikflüchtige” erst nach 10 Jahren wieder einreisen zu lassen. Was hatte er nicht schon alles in seinem Leben (siehe vorherige Teile!) durchmachen müssen, nun auch noch das! (Wer konnte auch ahnen, dass wir ihn so bald nachkommen lassen konnten.)

Schnell nach Hause, Wartburg bis unter das und auf dem Dach vollgepackt und am nächsten Tag – erst am Mittag vom nun abgeschlossenen Lehrgang in Leipzig zurück – ging ab die Fahrt zu den neuen Ufern, ins neue Leben. Hinten im Auto, auf Bettzeug gebettet, die Kinder; der Sohn gerade ein Jahr alt, wurde bei laufender Fahrt gewindelt, obendrein hatte er noch die Windpocken und Fieber; die Tochter erst sechs Jahre alt als umsichtiges Kindermädchen und vorn ein Fahrer im Vollgasmodus, als ob der Teufel hinter uns her wäre!

An der Staatsgrenze der DDR weit und breit mit dem Auto allein mussten wir aussteigen mit klopfendem Herzen, Kofferraum auf, wegen viel Gepäck dem Polizisten einreden, dass wir im Wochenendhaus und zur Silberhochzeit das alles benötigen, – endlich kam das erlösende „Gute Fahrt”. Mit Vollgas und quietschenden Reifen ging es ab in die neue Zukunft.

Ohne Halt fuhren wir durch die ČSSR. Als wir um Mitternacht an die Donaubrücke in Komorn/Komárom kamen und inmitten der Brücke unter dem Staatswappen Ungarns hindurchfuhren, fielen all die Last, Angst und Spannung eines ganzen Jahres von uns so ab, dass wir beiden Erwachsenen wie auf Kommando ungewollt und ergriffen weinten. Nur wer Ähnliches erlebt hat, kann hier emotional nachfühlen. Es war wie beim Mauerfall am 9. November 1989 in Berlin oder an der alten Zonengrenze: Erwachsene weinten überwältigt und hemmungslos – und selbst, wenn wir heute darüber sprechen, sind wir emotional tief ergriffen – und ganz ehrlich, ich habe diese Zeilen heute nach 32 Jahren mit Tränen in den Augen geschrieben. Wie tief sich diese stressige Zeit in die Psyche und das Unterbewusstsein der Erwachsenen eingebrannt hat, kann man vielleicht auch daran erkennen, dass nach so langer Zeit Träume und vor allem Alpträume meinerseits noch heute mit Grundstück-Praxiswechsel und einem ängstlichen, unverständlichen Wieso-schon- wieder? verbunden sind.

Beim Cousin in Sankt Iwan bei Ofen mitten in der Nacht angekommen mussten wir uns erst drei Tage von diesen stressigen Monaten erholen. Die Tochter, als sie nun endlich die Wahrheit erfuhr, weinte bitterlich um ihre Freundinnen (mit einer ist sie heute noch gut befreundet) und um ihre Spielsachen, – das tat schon weh!

Auspacken, Umpacken, rein in den sicherlich überladenen Wartburg und ab ging es in Richtung Westen Deutschlands, wohin wir schon 1948 bei der Vertreibung lieber hingekommen wären (siehe Teil 3). Ende Teil 6. 1

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Suchanzeige – neuester Stand der Ahnenforschung (24. 2. 2023)

Franziscus Xaverius Angele, der Stammvater aller Angele/i von Isszimmer/Isztimér, wurde am 06. 11. 1730 in Sulmingen bei Biberach geboren. Als Eltern sind Joannes Georgius Angele und Catharina Nüsser/Niesser im Kirchenbuch angegeben. Deren Heirat und sonstige Daten konnten im Ursprungsgebiet aller Angele/i bisher nicht gefunden werden, vor allem die Anbindung an die dortigen bis 1405 dokumentierten 16 Angele-Hauptstämme des Risstales. Erbitte Hinweise unter johannes-angeli@gmx.de.

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