“Svabahba mennek“

Erster Teil des SB-Interviews mit Ehrennadel-in-Gold-Trägerin Agnes Szauer

 

SB: Als erstes würde ich am liebsten über die Ehrennadel mit dir reden. Also was bedeutet dir

       die Auszeichnung? Wie war das Gefühl, sie zu bekommen?

A.Sz.: Es war ein sehr schönes Gefühl, ehrlich gesagt. Ja, ich war schon überrascht, weißt du!? Ich bin lange weg von der ungarndeutschen Gemeinschaft, ich bin nicht mehr so aktiv drin wie früher. Wo man mich angerufen hat, dass ich die Ehrennadel bekomme, war ich schon überrascht. Da hat man mir das nicht verraten, wer mich vorgeschlagen hat. Später hat es sich herausgestellt, dass es die Kierer waren und dann war die Freude umso größer, muss ich ehrlich sagen, weil das sie initiiert haben, die haben mich vorgeschlagen, sich die Mühe gemacht, das hat mich sehr glücklich gemacht. In Kier/Németkér gibt es eine neue Vorsitzende der deutschen Selbstverwaltung. Ihr Vorgänger war da 25 Jahre lang, ihm ist es wahrscheinlich nicht eingefallen. Die Neue ist erst seit einem Jahr im Amt, es hat mich gefreut, dass sie das auf sich genommen hat. Das war schon ein gutes Gefühl.

SB: Das ist dann eine nette Geste zum Antritt der neuen Vorsitzenden gewesen.

A.Sz.: Ja, sicher! Sie tanzt seit langem mit in der Tanzgruppe. Mit der Tanzgruppe bin ich sehr oft auf Veranstaltungen im In- und auch im Ausland. Vor vielen Jahren habe ich zum Beispiel einen Haufen Glasnegative in die Hand gedrückt bekommen, diese habe ich eingescannt und bearbeitet, habe daraus einen Vortrag gemacht, also Dias, Fotos, Geschichte von Kier, kleine Geschichtchen aus und über Kier und die ‚abgelichteten‘ Personen. Bei diesen Vorführungen machen Tanzgruppe und Chor mit. Ich habe die Auswahl  gemacht und der Chor singt immer wieder zum Themenkreis passende deutsche Lieder. Die Tanzgruppe führt die Tracht bzw. Tanzstücke vor. Das haben wir paar Mal aufgeführt, das hat sowohl den Teilnehmern als auch mir sehr viel Spaß gemacht. In den letzten Jahren haben wir dann auch noch mehrere Gedenkveranstaltungen zusammen gemacht – die eine anlässlich der Vertreibung der Deutschen, also vor allem zum Gedenken der größten Vertreibung (in) 1946. Am 5. Juni passierte es: Mehr als tausend Leute sind auf einmal rausgeschmissen worden. Ich habe die Tänzer angesprochen, ob sie mitmachen würden und sie haben aufs Erste sofort zugesagt. Das Ganze habe ich initiiert und auch organisiert, weißt du, das war ein sehr gutes Gefühl, dass die jungen Leute alle mitgemacht haben: 30 Leute – wie damals in einem Waggon – unter anderem noch Ältere aus dem Chor nahmen die Rolle der Vertriebenen auf sich – in authentischen Kleidern mit Bündeln und Koffern in der Hand. Später im Jahr 2018 haben wir dann die 200-Jahr-Feier der Einweihung der Kirche gehabt, an der auch alle – Sänger wie Tänzer – teilgenommen haben; es ist erfreulich, dass sie mitmachen. Ich glaube – oder hoffe – dass der Vorschlag der Vorsitzenden von ihnen auch unterstützt wurde.

SB: Du hast auch gerade gesagt, dass du auch die jüngere und auch die ältere Generation da mit einbeziehen konntest – das bindet auch so schön gleich in meine nächste Frage ein. Ich habe mir deinen Lebenslauf angesehen. Ich habe auch einige Sachen über dich im Internet gefunden. Es gab auch eine Sendung in „Unser Bildschirm“ mit dir und über dich. Du bist Nationalitätenpädagogin, Lokalpatriotin, warst Nationalitätenpolitikerin. Aber wie würdest du dich selbst beschreiben?

A.Sz.: Weißt du, das ist schwer zu beantworten. Ich habe fast immer dasselbe gemacht, Armin, das muss ich sagen. Ich habe die Pädagogische Hochschule in Fünfkirchen absolviert. Nach dem Studium bin ich dann zurück in mein Heimatdorf gegangen. Mein Professor, Dr. Szende, hat gesagt, man kann nicht so verrückt sein, dass man in seine eigene Heimat zurückkehrt. Niemand wird in seiner Heimat Prophet werden. Und ich, wie so ein braves Mädchen, habe gesagt: „Aber ich habe das meinem Direktor versprochen“. So nachhinein kann man sagen, das war ein bisschen lächerlich. Aber irgendwie habe ich das Gefühl gehabt, das bin ich ihm schuldig, ich habe ja zugesagt, ich habe mein Praktikum dort gemacht und er hat mit mir gerechnet. Und warum auch nicht? Dann war ich vier Jahre dort, habe eben eine Klasse bis zur achten Klasse begleitet. Und jedes Jahr hat mir der Professor Szende einen Vorschlag, ein Angebot gemacht: Ich soll diese Stelle annehmen, ich soll mich da bewerben, da und da. Ja, so selbstsicher bin ich ja nicht gewesen, die ersten hab ich nicht wahrgenommen – und sowieso – ich habe mir das schon immer so vorgestellt, ich werde Lehrerin, warum sollte ich jetzt was anderes anfangen oder versuchen? Dann im dritten Jahr kam das Angebot mit Ödenburg – und da habe ich schon das Gefühl gehabt: „Ja, jetzt habe ich Kier ausprobiert und jetzt könnte ich ein Stück weitergehen“. Meine Eltern haben gemeint: „Mensch, aber warum so weit weg? Um Gottes willen!“ Damals war das am Ende der Welt für uns in der Tolnau. Der Verkehr war auch umständlich…

SB: Aber letztendlich hast du dich doch beworben…

A.Sz.: Ich habe mich beworben, da hat man eine Deutsch-Russisch-Lehrerin gesucht, ich habe diese Fächerkombination gehabt und es war damals schon eine sogenannte Nationalitätenausbildung. Ich habe gedacht, warum nicht, das kann ich auch machen. Ich habe mich dort wohlgefühlt, habe mich eingearbeitet, habe wirklich viel gemacht, viel-viel Neues auch – und zum Glück habe ich gute Kollegen gehabt. Ich habe nie große Bedenken gehabt; wo ich welche gehabt habe, da bin ich einfach nicht hingegangen. Ich war 15 Jahre an der Hochschule. Ich habe viele Leute begleitet, Projekte gestartet, Partnerschaften initiiert.

SB: Was du erzählt hast, ist recht interessant, weil man schön sieht, dass es auch Gewissensentscheidungen waren, wie du deine Karriere aufgebaut hast, dass du immer dorthin gegangen bist, wo du das Gefühl hattest etwas bewirken zu können.

A.Sz.: Ursprünglich war es vorgesehen, dass ich in Kier als Lehrerin für Deutsch-Russisch arbeite. Während meiner Zeit in Ödenburg war ich noch immer mit einem Fuß in Kier. Mein Vater verstarb mit 56 Jahren unmittelbar danach, als ich in Ödenburg angenommen wurde, so reiste ich fast jedes Wochenende nach Hause. Die letzten 10 Jahre habe ich sogar ein Haus dort … ich hänge sehr an Kier. Nicht, weil es so interessant ist, sondern weil es halt Kindheit, Familie und Erinnerungen sind.

SB: Diese Gefühle kann ich nachvollziehen. Das bleibt, wie’s aussieht auch in anderen Generationen so…

A.Sz.: Ja, ich glaub schon. Viele aus meiner Generation fühlen nicht so, aber ich habe noch Freunde von der Kindergartenzeit, muss ich ehrlich sagen. Und nun…? Ich glaube, du hast auch eine Frage gestellt mit Identität – und da habe ich nachgedacht, woher das wohl kommt.

SB: Genau! Ich habe gefragt, wie es kam, dass du über eine solch starke Identität und Sprachkenntnisse verfügst?

A.Sz.: Alle meine Freunde waren schwäbischer Abstammung, ausgenommen einen Stockungarn. Mit allen haben wir noch heute Kontakt. Wir wissen voneinander, treffen uns auch ab und zu. Das ist auch interessant, dass wir diese Freundschaften weiter gepflegt haben. Solange die Eltern gelebt haben, haben wir uns auch in Kier getroffen, obwohl – ausgenommen einen – wir  alle schon weg aus Kier sind. Wir hingen alle an dem Dorf und an der gemeinsamen Kindheit. Wir sind gemeinsam in den Kindergarten gegangen und dann kam die Schulzeit. Weißt du, wir waren alle anständige und gute Schüler. Irgendwie haben wir das mit auf den Weg bekommen von den Eltern: anständig sein, brav sein, lernen. Ich würde nicht sagen, dass wir zielstrebig gelernt haben, sondern es hat sich halt so gehört. Du hast gelernt, du hast mitgemacht – wir haben an Wettbewerben, an Fachzirkeln und Veranstaltungen teilgenommen. Und das ist alles so eine Gemeinschaft oder Mannschaft gewesen… Damals habe ich das in der Schule so empfunden: Wir sind die Schwabenkinder, die nach dem Unterricht da geblieben sind, zu der Deutschstunde und zur Religionsstunde. Untereinander haben wir uns gut verstanden. Unsere Eltern waren zwar keine engen Freunde, aber jeder wusste von jedem etwas, sie kannten sich alle gut. Also die Identität war nicht geprägt und nicht offen formuliert, aber das war in uns drin. Weißt du, wir haben fast die gleichen Familiengeschichten gehabt. Meine Mutter, ihre Familie wurde von der Vertreibung sehr hart getroffen. Erst musste ihre Schwester mit Mann weg, beim zweiten Mal kam die Mutter mit ihrer Mutter auch dran. Der Großvater, der Szauer-Großvater hat das irgendwie verrichten können, dass sie nicht raus mussten. Die waren zwar auch auf der Liste und die Kommission war bei ihnen und hat ein Inventar auflegen wollen. Dann ist der Großvater zum Gemeindehaus gerannt und hat das erledigt. Wie? Das weiß ich nicht. Er hat sogar einen Zettel mit Stempel und Unterschrift bekommen – damit wurde es bestätigt, er stünde nicht auf der Liste. Die waren beide Schwaben, meine Eltern, alle Verwandten waren Schwaben, also die Schwester von meiner Mutter oder die Schwester von meinem Vater, wenn die gekommen sind, haben sie untereinander deutsch geredet. Also es war in mir drin, dass wir halt Schwaben sind, aber in Kier hast du damit nicht geprotzt. Ich habe immer gesagt, in Kier hat das höchste Amt ein Schwabe erreicht, der als Brigadier in der LPG gearbeitet hat. Verstehst du? Alle anderen Posten haben Ungarn besetzt, die Schwaben sind nicht dazu gekommen. Die Schwaben haben harte Schicksalsschläge erleben müssen. Also nicht nur meine Mutter, aber die anderen auch, die haben sich überhaupt nicht getraut aufzumucken.

SB: Wie hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung von Kier nach der Vertreibung verändert?

A.Sz.: Ja, das war schlimm. 1945 kamen schon von der Tiefebene die ersten Familienoberhäupter aus Endrőd, Gyomaendrőd heißt die Ortschaft heute, damals waren es zwei Ortschaften. Da hat man die Leute angeworben. Wortwörtlich! Die sollen nach Kier bzw. Transdanubien kommen, weil da haben die Schwaben das Dorf verlassen, und, und, … du kennst die Geschichten. So sind die Ersten 1945 im Sommer schon gekommen, sie wurden herumgeführt im Dorf und durften sich die Häuser auswählen. Das heißt, 1945 im August hat man die ersten Schwabenfamilien aus ihren Häusern rausgeschmissen, es wurde eine Inventur gemacht, alles genauestens aufgeschrieben, was sie besitzen, was sie da lassen müssen. 1946 kam es dann zu der ersten Vertreibung, das war im Mai, da waren – man sagt es so –  solche auf der Liste, die im Volksbund waren. Der harte Kern ist schon 1944 im Herbst in organisiertem Rahmen nach Deutschland mit den letzten Soldatenzügen…

SB: Geflüchtet?

A.Sz.: …raus. Vor den Russen geflüchtet! Kimlinger und Kierer fuhren mit dem Zug aus Cece (Nachbargemeinde) Richtung Deutschland ab. Sie haben dann in Dresden die Bombardierung miterlebt. Und sie sind, das waren so 40-45 Leute, zurückgekommen im Sommer 1945 nach Kier. Die waren zum Teil die Ersten, die 1946 im Mai mit denen aus Kimling/Dunakömlőd wegmussten. Eine lange Liste war kurz vor der zweiten Vertreibung schon rausgehängt und die 1047 Menschen mussten am 5. Juni weg. Dank einem mitfahrenden Pfarrer stehen uns die genauen Listen zur Verfügung. Mehrere hundert Leute mit einem einzigen Zug sind aus Kier wegtransportiert worden! 1947, am 1. September, an einem Montag kam es zu der unerwarteten dritten Welle. Also einen Tag nach den Wahlen am 31. August, Sonntag, da man groß getrommelt hat in Kier, die Schwaben müssten keine Angst mehr haben, es wird nicht mehr zur Vertreibung kommen. Am Abend ist die Jugend – so auch meine Mutter – sogar zum Ball gegangen. Und nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe kamen die Polizisten, haben das Dorf umringt, es kamen Lastkraftwagen und die Polizisten haben schön akribisch der Reihe nach alle abgeklappert im Dorf, die auf der Liste standen und haben sie aufgefordert sich innerhalb von zwei Stunden fertigzumachen mit ihrem Gepäck. In der Nacht sind noch viele geflüchtet. Die Kierer haben sehr gute Kontakte gehabt zu den Donaufeldburgern gehabt, sie sind auf Umwegen Richtung Donaufeldburg/Dunaföldvár geflüchtet. Laut Erzählungen sind circa 270 Leute in Donaufeldburg untergekommen. Die haben sich dort irgendwas gesucht, meist ein Zimmer oder eine Scheune oder sowas. Die anderen, wie meine Mutter auch, die sind geflüchtet in den Wald. Zum Bahnhof nach Nagydorog sind so ca. 120 Leute gebracht worden, sie sind in die Ostzone gekommen. Es waren insgesamt 1800 Einwohner, die das Dorf haben verlassen müssen. Das ist eine riesengroße Zahl, wenn man bedenkt, dass die Einwohnerzahl 1941, also nach der Volkszählung, bei nahe 3000 lag, dann kannst du dir vorstellen, was der Rest, diese paar Hundert haben anfangen können.

SB: Leider schon…

A.Sz.: Da kamen in diesen Jahren aus Gyomaendrőd ganz, ganz viele Familien (172 mit 780 Familienmitgliedern). Das waren meist sehr arme Leute, die keinen Besitz gehabt haben. Meine Mutter hat immer so bisschen kritisch und zynisch gesagt, also die haben Kinder gehabt und einen kleinen Wagen, aber nichts anderes. Den Gyomaendrődern hat man gesagt, wenn sie der Partei beitreten, der Kommunistischen Partei, dann erhalten sie den Besitz der Schwaben. Die sind ganz grob vorgegangen…

SB: Es muss ein wahres Trauerspiel gewesen sein.

A.Sz.: Die haben gesagt, also das Haus, das Haus, das Haus möchte ich, will ich haben! Und es ist sogar vorgekommen, dass die Schwaben noch im Haus waren und die Ungarn schon drin waren. Oder, wie ich das schon erwähnt habe, hat man im August 1945 damit angefangen, die Leute aus den Häusern rauszuschmeißen. Eine liebe, alte Freundin, die ist 92 Jahre alt, hat erzählt, dass sie fröhlich vom Weingarten gekommen war, als man ihr in der Straße gesagt hat, beeil dich, die Kommission ist schon bei euch. Sie hat damals nicht mal gewusst, was das ist. Sie ist Jahrgang 1928, sie war gerade mal 17 geworden. Sie kam an und die Kommission war hinten im Hof und im Stall und hatte vom Pferdewagen bis zu den Pferden alles schon auf die Liste gesetzt. Ihr ist es ganz schlecht geworden, vor lauter Verzweiflung umarmte sie den Birnbaum im Hof. Und die Mutter hat sie dann grob angeschrien – wahrscheinlich hat sie andeuten wollen, dass man dafür jetzt keine Zeit habe – und hat zu ihr gesagt: „Komm ne (nur), Liska, wir müssen packen!“ Und dann haben sie durch die vorderen Zimmerfenster einige Sachen rausschmuggeln können, Bettwäsche und so was. Die Familie musste zu der Tante ziehen. „Stell dir vor, Agi, da war schon der Ungar mit dabei, der in unser Haus hat einziehen dürfen. Der Vater – das ungarische Familienoberhaupt – war schon da. Er ist schon im Haus geblieben, jedoch ist seine Familie erst später nachgezogen. Mein Vater ist dann in der Nacht noch rein und hat vom Dach ein paar Sack voll Mehl und Mais runtergeholt und der Ungar saß mucksmäuschenstill im Zimmer drin und hat sich nicht zu rühren getraut“ – fügte Liska noch dazu. Aber es gab auch noch schlimmere Sachen. Die Deutschen waren noch im Haus, sie wussten zwar, dass sie raus müssen, sie waren aber noch daheim, als der Ungar angekommen ist. Er ist reingegangen, hat sich umgeschaut und hat so richtig lauthals den Deutschen angeschrien: „Warum haben Sie so große Stallungen hier gebaut? Hätten Sie doch das Haus neu bauen können!“ Dann hat der Deutsche gesagt: „Hätten sie noch zwei, drei Jahre gewartet, dann hätte ich das Haus auch geschafft.“ Bis Ende 1946 sind rund 1000 „neue Einwohner“ eingetroffen!

SB: Inmitten so viel Chaos und Verwirrung, wer ist im Dorf geblieben?

A.Sz.: Wer ist geblieben? Vor allem die Ärmeren! Nach Donaufeldburg sind auch die geflüchtet, die was hatten – die was haben befürchten können. 1947 sind auch die Vertriebenen aus der Slowakei angekommen, bis 1948 waren es 60 Familien (170 Personen), von denen sind später mehrere zu Verwandten in andere Gemeinden weitergezogen. Zum Teil waren sie auch mit den ihnen zugewiesenen Häusern nicht zufrieden – es waren ja meist schon die ärmeren Häuser, die reicheren waren ein Jahr vorher schon vergeben. Meine Mutter hat ihren Vater schon 1943 verloren, das heißt, sie waren mit ihrer Mutter 1947 im Haus ohne Mann und für sie war das Leben wichtig – also sie sind geflüchtet. Meine Mutter hat es mir so erzählt: “Agi, wir haben die Werktagskleider angezogen und nicht die Sonntagskleider, die noch vom Vortag am Kleiderhaken hingen. Es war Montag in der Früh, ich habe meine Mutter angezogen (Anm. die Oma war Invalide) und wir sind in den Wald und haben alles dagelassen im Haus“. Mein Großvater war in Amerika, dort hat er sein Vermögen verkauft und ist zurückgekehrt. Mit dem Geld hat er sich in Kier ein Haus, einen Gemischtwarenladen und eine Milchhalle gekauft. Vor lauter Aufregung und riesengroßer Angst haben die zwei Frauen nur um ihr Leben gebangt – an nichts anderes gedacht. Sie haben die Kasse im Geschäft dagelassen. Und dann haben sie noch Goldketten gehabt, die der Großvater mitgebracht hat aus Amerika. Alles haben sie dagelassen. Alles! Und bis sie dann wieder zurückgekommen sind ins Haus, da sind paar Monate vergangen. Da war das Haus leer, Möbel und andere Gegenstände sind verschwunden, die Leute haben es geplündert.

SB: Hast du Vermutungen, wer für die Plünderungen verantwortlich war?

A.Sz.: Es ist ganz egal, wer das gemacht hat, wahrscheinlich war alles zugelassen. Meine Familie hat dann von nichts gelebt – praktisch. Meine Mutter war Schneiderin. Ihre Mutter hat gekocht und meine Mutter hat dann genäht. Tag und Nacht! 1953 hat sie geheiratet. Dann haben meine Eltern beantragt, das Haus zurückkaufen zu dürfen… das Haus, was eigentlich der Familie meiner Mutter gehörte.

SB: Lass mich dich kurz unterbrechen. Eine Frage stellt sich mir bei der ganzen Geschichte: Wussten denn die Menschen in Kier, wo sie hinkommen würden? Also war es weit verbreitet, dass, wenn sie ausgesiedelt werden, dass sie in die Ostzone kommen?

A.Sz.: Nein, nein, nein! Auf keinen Fall! Die ersten Transporte sind in die amerikanische Zone gekommen. 1945 im Januar ging es ja zur „kleinen Arbeit“ in die Ukraine. Das haben die Leute gewusst, dass diese Mädchen bzw. auch Männer nach Russland verschleppt worden sind und sie fürchteten sich vor diesem Schicksal. 1946 war es eindeutig, dass die Kierer gedacht haben, dass sie nach Russland kommen, unterwegs haben die Aufseher, die sie begleitet haben, das waren Polizisten, die haben – eine Frau hat das so formuliert – dann so schön magyaris gesagt: “Svabahba mennek“. Sie meinten Schwabach bei Nürnberg. Da sind sie zum Teil hingekommen. Da war so ein Verteilerbahnhof und da hat man sie Richtung Norden und Osten verteilt. Die Kierer haben nicht gewusst, was dieses „Svabah“ sein sollte, weißt du?

SB: Natürlich, ohne Atlas und Google Maps.

A.Sz.: Das hat ihnen auch nichts gesagt. Und 1947 auch auf keinen Fall. Die haben gar nicht gewusst, wohin es geht. Die Männer sind früher aus dem Dorf rausgekommen, sie haben den Ersten Weltkrieg mitgemacht. Die haben dem Ortsnamen nach gewusst, dass es jetzt Richtung Tschechoslowakei – Tschechien – geht und Richtung russische Zone. Die nach Westdeutschland im Jahr 1946 gekommen sind, die haben es gewusst, dass es in Kier zu der nächsten Welle gekommen ist.

SB: Hat die Information die Kierer erreicht?

A.Sz.: Stell dir vor… Wie die Information gegangen ist, weiß ich nicht, aber ich habe so ein kleines Tagebuch von einem Kierer gelesen, er hat es in Schwabach geschrieben: „1947, September, es ist wieder zur Aussiedlung gekommen in Kier…“. Die wussten es anscheinend. Dann kam es zur Kontaktaufnahme und solange es ging, siedelten viele aus der Ostzone zu den Kierern in der Westzone über, einige wurden sogar schwarz über die grüne Grenze geschmuggelt.

SB: War es nicht ein Grund für das Verstecken der Kierer, dass sie diesem Schicksal entrinnen wollten?

A.Sz.: Ja, die haben ihr Hab und Gut behüten wollen, weißt du? Wie gesagt, waren die, die flüchteten, eher wohlhabend. Die haben einen Pferdewagen beladen, einige schon nach Donaufeldburg Waren geliefert, es geschah im Sommer, Spätsommer, August. Sie haben nicht damit gerechnet, dass sie auch auf die Liste kommen, doch haben sie sich gefürchtet, weil sie ihre Häuser schon verlassen mussten. Wer weiß, wie sie dann doch bleiben konnten, haben sie die Notare oder die anderen bestochen? Ich weiß nicht, gesprochen wurde früher darüber nie. In den letzten Jahren hatte ich immer das Gefühl, offen war da niemand zu mir; auf die Fragen kamen meist keine ehrlichen Antworten. Ich meine heute, sie haben einfach ihr Hab und Gut nicht da lassen wollen. Sie haben viele Felder gehabt und ein Haus… aus dem Haus sind sie rausgeschmissen worden, aber doch hofften sie, dass sie ihre Felder noch behalten können. Dann war aber auch dieser Traum vorbei, die Felder haben die neuen Hausbesitzer bekommen. Haus und Hof, Hab und Gut!

SB: Sie hatten noch die Hoffnung gehabt, ihren Besitz irgendwie zurückzuerhalten. Sie dachten, dass es nur eine vorübergehende Maßnahme ist, oder?

A.Sz.: Absolut! Sie haben im Geheimen gearbeitet, dort bei Donaufeldburg in ärmlichen Verhältnissen unter ständigem Druck gelebt – manche waren 10 Jahre da. Nach 10 Jahren sind sie zurück nach Kier, haben sich ein Haus gekauft. Fürchterlich, nicht? Die, die nach Deutschland gekommen sind, die haben auch fest damit gerechnet, dass sie zurückkommen. Die haben sich regelmäßig getroffen. Weißt du, Katholiken gehen ja in die Kirche, in die Messe, und dann haben sich die Männer immer versammelt und sich beraten: „Also was meinst du? Kommen wir noch heim?“ Die haben mindestens zwei, drei Jahre lang fest damit gerechnet, dass sie zurückkommen. Es kann ja nicht sein, dass ihre Heimat sie verstoßen hat! Es waren ja zum Teil solche, die sich als Ungarn bekannt haben und lediglich die Muttersprache als deutsch angegeben hatten. Die haben sich in Ungarn wohlgefühlt. Die haben keine Probleme gehabt und es waren, wie gesagt, nicht so viele Volksbund-Anhänger unter ihnen – was auch kein Problem gewesen wäre, wenn sie das gewesen wären – aber nicht zu viele Deutsche waren Mitglieder im Volksbund. Die meisten haben sich keine Gedanken darüber gemacht, sie dachten: “Warum auch nicht? Wir sprechen ja alle Deutsch.“. Den Ungarn gegenüber waren sie nicht feindlich gesinnt. Da waren wenig Ungarn, die ins Dorf gekommen sind, aber die wurden alle „eingedeutscht“.

SB: Du hast erwähnt, dass es wenig Leute im Volksbund gab. Wie sieht das mit der HűHa- Bewegung aus? Hatte die viele Mitglieder in Kier?

A.Sz.: Überhaupt keine.

SB: Überhaupt keine?

A.Sz.: Nein, nicht das ich wüsste! Die Bewegung hat Kier wahrscheinlich nicht erreicht. Die Kierer sind bis nach Tolnau/Tolna gekommen, dort sind sie immer eingezogen worden, die Männer. So haben sie mit Tolnau/Tolna Kontakt gehabt: Bochart/Sárbogárd, Badeseck/Bátaszék… Von der Treuebewegung habe ich keine Informationen.

SB: Noch eine letzte Frage zu diesem Thema, wie war die Situation mit den Kriegsgefangenen des Dorfes?

A.Sz.: Die, die nach 1947 heimkehrten, waren – meines Wissens – nur ein paar, die sind aber untergetaucht, denn sie wollten zu ihren Eltern nach Deutschland. Und die hat man dann an der Grenze erwischt. Zum Teil sind sie ins Gefängnis gekommen, andere sind geflüchtet und haben sich hier im Dorf aufgehalten. Manche sind später zurückgekommen von der Gefangenschaft bzw. von Malenkij Robot, die meisten sind in Kier geblieben. Die in Tiszalök eingesperrt waren, die sind nach Deutschland. In Tiszalök waren die, die sich freiwillig in die SS gemeldet haben bzw. die dann 1944 zwangsweise rekrutiert worden sind. Aus Tiszalök ist niemand nach Kier zurückgekehrt.

SB: Vielen Dank für das Interview!

Das Interview bereiteten vor und führten Brigitta Sziklai und Armin Stein.

Bildquelle:https://www.teol.hu/cimke/szauer-agnes/

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