Von Dr. Jenő Kaltenbach
Ungarn war schon immer ein ziemlich nationalistisches Land. Das hat mit seiner Geschichte zu tun. Als Nationalismus noch eine progressive Idee war, zur Zeit der Französischen Revolution, war Ungarn gewissermaßen Teil des Habsburgerreiches, also konnte man das Nationalgefühl nicht voll ausleben. Man hat seitdem ein Gefühl von Mangel, ja ein Gefühl von Unvollkommenheit. Schuld daran waren natürlich die Habsburger, auch wenn der österreichische Kaiser sich (fast) immer zum ungarischen König krönen ließ, war also der legale und legitime Herrscher des Landes. Der unvollkommene Nationalismus dauerte an, ja wurde noch intensiver nach der Trianon-Tragödie wegen der verlorenen Landesteile und eigentlich auch unter Kádár wegen der Abhängigkeit von der Sowjetunion.
Es gab eine Art Pause darin nach der Wende, aber nicht als Überzeugung, nur aus dem Kalkül, dass man schnell in die EU kommt und dann wird man natürlich sofort genauso wohlhabend wie die Westler. Es stellte sich aber ziemlich schnell heraus, dass dieser Traum unrealistisch ist, die ungarische Gesellschaft unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der westlichen. Diese Enttäuschung ebnete dann den Weg für Leute wie Orbán zurück zum „altbewährten“ Nationalismus. Dadurch wurde Ungarn (gemeinsam mit Polen) immer mehr ein Fremdkörper in der EU, was natürlich seitens der EU erst Kritik, Mahnungen, dann Sanktionen auslöste. Die Orbán‘sche Antwort darauf war die weitere Intensivierung des altbekannten ungarischen Nationalismus, das Gefühl allein und missverstanden zu sein, das Opfermythos.
Nationalismus geht aber nicht ohne Feinde, Sündenböcke, die man hassen kann. Traditionell sind das einerseits die Juden, vor allem für die Ultrarechten, andererseits die Deutschen für Otto-Normalverbraucher.
Der Antisemitismus kann man aber heutzutage, zumindest offiziell, schon wegen Netanjahus Israel und der EU, nicht öffentlich ausleben, also erfindet man in Person des reichen jüdischen Philanthropen George Soros, auf hinterhältige Art Und Weise, einen neuen Bösewicht.
Mit den Deutschen ist es auch nicht mehr so einfach, wie es zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg war. Damals konnte man sie noch als Faschisten, Landesverräter abstempeln, gegen sie eine beispiellose Hetzkampagne in der Presse lostreten. Dies war nicht ohne Vorbilder. Es gab auch schon in der Horthy- Epoche unter der ungarischen Intellektuellen und Politiker reichlich Antideutsche jeglicher Art. Paradebeispiele sind z. B. der Politiker Endre Bajcsy-Zsilinszky oder der Schriftsteller Dezső Szabó. Ihr Hass richtete sich nur nicht direkt gegen Hitlers Drittes Reich, sondern vor allem gegen die Ungarndeutschen. Es kursierten die verrücktesten Gerüchte und Anschuldigungen, z. B. dass sie Transdanubien an das Dritte Reich anschließen wollen.
Heute kann man als EU-Partnerland nicht unmittelbar eine antideutsche Kampagne führen. Man ist allzu sehr auf das EU- Geld und an die deutsche Investoren angewiesen. Letztere werden sogar von der Orbán-Regierung hofiert, weil ohne sie Orbáns „Reich“ schnell pleite wäre und er könnte seine Oligarchen nicht „beschenken“. Die Ungarndeutschen werden auch nicht von offizieller Stelle angegriffen, man will ja das Image der sog. beispielhaften Minderheitenpolitik, mit Blick auf die Madjaren jenseits der Grenze, nicht beschädigen. Also macht man es auf eine subtilen Art. Man „beauftragt“ damit Einrichtungen wie das Petőfi Irodalmi Múzeum, mit dem ergebenen Regierungsdiener Szilárd Demeter, einem waschechten Nationalisten an der Spitze, und dann kommt schon irgendwie eine Talkshow zustande, in der die Diskutanten ziemlich offen über antideutsche Ressentiments philosophieren.
Das und manch anderes hat sogar eine Reaktion an der Seite der sonst so braven LdU und ihres deutschen Abgeordneten ausgelöst, obwohl Letzterer im Parlament kaum von den Abgeordneten der Regierungsfraktion zu unterscheiden ist.
Was die Zukunft bringt, weiß ich natürlich nicht. Theoretisch gibt es zwei mögliche Szenarien. Das positive wäre eine endgültige Westorientierung, das negative der Austritt aus der EU und ein Anschluss an den neuen von Russland dominierten „Ostblock“, gemeinsam mit den „Kipcsaken“. Falls Orbán noch lange bleibt und die EU-Gelder weniger werden, ist die letztere Variante wahrscheinlicher.
Ungarn war schon immer eine Art Fähre, wie der große ungarische Dichter Ady gesagt hat, also pendelt man ständig zwischen dem Ost- und Westufer, ohne zur Ruhe zu kommen.
Nicht gerade vielversprechende Aussichten, aber ich bin ja, wie manche sagen, ein unverbesserlicher Pessimist.