Von San.-Rat Dr. Johannes Angeli
Teil 1. 2: Ein ungarndeutsches Dorf vor dem Weltkrieg
Vielleicht klingen meine letzten Ausführungen über die Isszimmerer dörflichen Strukturen sehr nach überzogenen Reglementierungen oder sogar – modern beurteilt – nach Freiheitseinschränkung des Einzelnen. Aber die Isszimmerer wussten damit umzugehen und ihre zahlreichen historisch gewachsenen Feierlichkeiten und ihre traditionellen Gewohnheiten ausführlich zu genießen.
Faschingszeit war Hochstimmungszeit. Es wurde nach alter deutscher Tradition drei Tage von Jung und Alt gefeiert. Da wurde in allen drei Wirtshäusern oft drei Tage bei Tanz mit Blasmusik und viel Wein praktisch durchgefeiert. Heim ging es nur zum Viehfüttern und zum Essen.
Nach dem 1. Weltkrieg wollte man den Fasching auf den Sonntag begrenzen, was die sinnesfreudigen Dörfler durch die Einführung der sogenannten „Lumpentage” am Montag und Dienstag bis Aschermittwoch listig umgingen. Am ersten Augustwochenende war Kirchweihfest (St. Anna). Obwohl unpassend mitten in der Erntezeit, war Hochstimmung mit Tanz und Musik in allen Gaststätten. Kirmesgemäß waren Karussells und andere Volksbelustigungen aufgebaut. Es war auch Usus, dass die außerhalb Isszimmer wohnende Verwandtschaft zahlreich anreiste. Selbst wir aus Deutschland richteten später oft unsere Urlaubsplanung für Ungarnreisen danach aus, weil man so die umfangreiche Verwandtschaft fast komplett treffen konnte. Gutes Essen und umfangreiche Verköstigungen bei selbstgekeltertem Wein waren selbstverständlich, wie auch der Gegenbesuch, wenn bei den Gästen Kirchweih war. So kann ich mich gut erinnern, dass wir alljährlich in Werischwar zur Kirmes bei Verwandten in der obengenannten Angeli-Kosn waren und bei einer dieser Gelegenheiten auch an meinen ersten, beeindruckenden Besuch im Budapester Zoo.
Höhepunkte waren auch die Hochzeiten. Da die Verwandtschaftsverhältnisse sehr weitläufig gepflegt wurden, waren die Hochzeiten mit 200 Gästen keine Seltenheit. Auch ich hatte das Vergnügen an zwei Hochzeiten dieses Formats noch Anfang der 1980er Jahre bei meinen Cousins in Ungarn teilnehmen zu können. Nach der kirchlichen Trauung wurde wohl im großen Saal an langen Tischen gefeiert und getanzt, aber im Hof unterm großen Zelt war eine Art Feldküche aufgebaut, wo zahlreiche Frauen damit beschäftigt waren zahlreiche geschlachtete Tiere aus beiden Elternhäusern (u. a. Kalb, Schwein Hammel und viel Geflügel) kochend und bratend zu verarbeiten und im Saal aufzutragen. Daneben floss der Wein aus dem eigenen Presshaus in Strömen und die Blaskapelle spielte zum flotten Tanz bis in die frühen Morgenstunden. Einfach, ein einmaliges Erlebnis!
In diese Kategorie fielen auch die Schlachtefeste, die witterungsbedingt in den Wintermonaten stattfanden und zahlreiche Gäste, meist auch Helfer aus der näheren Verwandtschaft anzogen. Das war wirklich ein Schlachtefest mit einem großen abendlichen Essen mit Wein und Gesang, so dass manchmal vom ganzen Schwein kaum noch die Hälfte übrigblieb. Kein Problem, demnächst schlachtete der nächste Verwandte und die Feier ging weiter. Geräuchert wurde sowieso nur Schinken, Speckseiten und relativ wenig Würste. Andere Konservierungsmöglichkeiten waren damals ja nicht möglich. Fleisch hat man auch in großen, hohen Emaillegefäßen (genannt Schmalztresen) schichtweise mit heißem Fett übergossen und so zeitweise konserviert. Im Sommer war hauptsächlich das junge Geflügel der Fleischlieferant und in den Herbst hinein die Enten und Gänse (unvergesslich die delikate Leber von gestopften Gänsen – bitte nicht an Tierschützer weitersagen!)
Weil wir gerade bei der Vorratswirtschaft sind: Es wurde im großen Kessel (!) Pflaumenmus eingekocht, Weißkraut und Gurken in hohen Fässern konserviert, Tomatensaft in Flaschen eingekocht, Butter gestampft, Paprika getrocknet, Obst im Backofen gedörrt, Walnüsse wurden in Mengen getrocknet, sogar Kernseife in großen Würfeln wurde produziert; aus dem Traubenfresen (Anm. d. R.: Trester/Treber) der Presshäuser wurde selbst oder in der Dorfbrennerei guter und oft hochprozentiger Branntwein gebrannt u. v. m. Ein Bauernhof in Isszimmer war ein totaler Selbstversorger.
Zucker, Kaffee („Kathreiner”), Kakao und andere Kleinigkeiten führte der örtliche Krämerladen und Mehl bezog man aus der nahen Mühle, nötige Eisenwahren aller Art fertigte direkt der örtliche Schmied, so dass man keine Versorgungsprobleme kannte. Auch gab es eine örtliche Molkerei, in der die Milch gegen Entlohnung gesammelt und in die Stadt geliefert wurde. Daneben gab es aber noch – mehr oder weniger – Tischler, Schneider und Schuhmacher meist für Kleinreparaturen. Solche Handwerker gingen oftmals aus der bäuerlichen Kinderschar hervor.
Wurden daneben Kleider, Schuhe, Textilien aller Art u. Ä. benötigt, wurden – meist im Herbst – die Pferde eingespannt, ein paar Säcke Getreide aufgeladen und aufging es nach Stuhlweißenburg/Székesfehérvár. Wenn das Getreide verkauft war, waren die nötigen Pengős für den Großeinkauf vorhanden. Das waren auch für uns Kinder Festzeiten, denn nun gab ein Fagyi (Eis), Süßigkeiten u. ä. m.
Man könnte noch so manche Isszimmerer Festlichkeiten bzw. gemeinschaftliche gesellige Aktionen erwähnen: so das feierliche Maibaumschlagen und -aufstellen durch die jungen Burschen, das Federschleißen der Frauen, das gemeinsame Kukritz-Schälen oder Maiskolben für den Maisschober, das sonntägliche Treffen der Männer in den Presshäusern zur gegenseitigen Weinverkostung u. v. m.
Überhaupt die alljährliche Weinlese war ein besonderes Ereignis, bei dem man sich auch wiederum gegenseitig half. Der süße Most floss von der großen Holzpresse in einer Holzrinne entlang, was uns Kinder natürlich provozierte – trotz der Warnung der Erwachsenen – ständig mit kleinen Bechern zu naschen. Die Strafe folgte auf dem Fuße, wir rannten nur noch in die Büsche!
Auch die Kinder und Jugendlichen kamen bei der traditionellen Brauchpflege nicht zu kurz. Schon mit der Einschulung bildeten sich je nach Klassenstufe der bäuerlichen Jugend die Gruppen, die am Sonntagsnachmittag sich trafen und Altersgemäßes unternahmen – natürlich getrenntgeschlechtlich. Das setzte sich bis in die oberen Klassenstufen fort und bildete auch später die Männer-, Frauen- und Freundesgruppen.
Bei den Heiratsdaten in den Kirchenbüchern fällt auf, dass über all die Jahre fast regelmäßig die Braut drei Jahre jünger ist als der Bräutigam. Die Erklärung ist ganz einfach: Nach alter Sitte wurden die älteste Bauernburschengruppe mit der drei Jahre jüngeren Bauernmädelgruppe zusammengeführt. Sie trafen sich am Sonntagnachmittag reihum immer bei einem der Mädels. So wurden die künftigen Paare nach eigener Sympathie initiiert, aber erst durch elterliche Akzeptanz abgesegnet. Man mag das heute beurteilen, wie man will, aber in einem Ort und in einem Glauben, der keine Scheidung kannte, war das sicherlich der praktikabelste Weg, der auch von der beidseitigen Verwandtschaft ein Leben lang unterstützend begleitet wurde.
Die Isszimmerer konnten wohl feste feiern, tüchtig essen und trinken, aber auch sechs Tage in der Woche körperlich hart auf ihren Feldern und ihren Höfen arbeiten. Es war alles mühevolle Handarbeit, höchstens mit der Unterstützung von zwei PS (wahre Pferdestärke!) bei Pflügen, Eggen Ernten und Ernteinbringung, Dreschen, Heu- und Stroheinlagerung u. v. m. Die Getreideernte erfolgte bei oftmals großer sommerlicher Hitze auch manuell, d.h. mit Sense und Sichel, aber wenigstens mit Hilfe von Schnittern und deren Frauen. Die Helfer strömten alljährlich von den umliegenden ungarischen Dörfern nach Isszimmer. Auch beim Dreschen mit dem von Hof zu Hof ziehenden Riesentraktor, der mit langen Riemen die Dreschmaschine antrieb, halfen diese Lohnarbeiter, die auch mit Naturalien entlohnt wurden.
Im Sommer um 4 Uhr schon Viehfüttern, Kühe melken, misten, Tiere tränken, dann hinaus aufs Feld mit dem Pferdegespann, manchmal mittags, oftmals erst abends heim (wenn die Felder weit außerhalb lagen), mit Galopp nach Hause, wieder tränken, füttern und endlich sich selbst versorgen – das war ein normaler sommerlicher Tagesablauf! Unterstützung kam nur durch die dörflich fest eingestellten Schweine- und Rinderhirten. Diese trieben mit lautem Geläut und Hornsignalen sowie mit ihren Hunden die jeweilige Herde auf gemeindeeigene Weideplätze. Abends kamen die Tiere ebenso laut und getrennt wieder zurück. Niemand sollte eigentlich vom dummen Schwein und blöden Rindvieh sprechen, denn man brauchte nur das Hoftor aufmachen und jedes Schwein und jedes Rind fand den Weg zu seinem Hof und Stall.
Dass man als Junge in diesen landwirtschaftlichen Abläufen ab Kindesbeinen und erst recht als Schulkind voll integriert und beschäftigt war, versteht sich von selbst. Über das Wort „Kinderarbeit” kann ich nur lächeln. So lernte Hänschen schon früh, was Hans (Johannes) später im Leben gut gebrauchen konnte!
Ich hoffe doch sehr, dass ich dem Leser ein ungarndeutsches Dorf aus Erinnerungen und Aufzeichnungen in seinen vielen Facetten nahebringen konnte. Ich hoffe weiterhin, dass ich verdeutlichen konnte, wie eine über Jahrhunderte (seit 1751) gewachsene dörfliche Gemeinschaft fest verankert in ungeschriebenen Gewohnheitsregeln, trotz staatlicher Einflussnahme und mitten in ungarischer Umgebung funktionieren und existieren konnte und wie dieses Dorf sein eigenständiges Brauchtum gegen jahrzehntelange Magyarisierungsversuche erfolgreich behauptete. Es bedurfte schon großer weltgeschichtlicher Umwälzungen, diese deutschstämmige Enklave in wenigen Jahren so eindeutig zu verändern, wie ich in den nächsten Kapiteln schildern werde. Ende Teil 1
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Suchanzeige – neuester Stand der Ahnenforschung (24. 2. 2023)
Franziscus Xaverius Angele, der Stammvater aller Angele/i von Isszimmer/Isztimér, wurde am 06. 11. 1730 in Sulmingen bei Biberach geboren. Als Eltern sind Joannes Georgius Angele und Catharina Nüsser/Niesser im Kirchenbuch angegeben. Deren Heirat und sonstige Daten konnten im Ursprungsgebiet aller Angele/i bisher nicht gefunden werden, vor allem die Anbindung an die dortigen bis 1405 dokumentierten 16 Angele-Hauptstämme des Risstales. Erbitte Hinweise unter johannes-angeli@gmx.de.