Zur COVID-Lage in Ungarn
Von Richard Guth
Wir haben gehofft, dass wir das Kapitel „Corona-Nachrichten” nicht wieder aufmachen müssen. Die Entwicklung der Fallzahlen ist aber besorgniserregend, obwohl – bis auf die Maskenpflicht in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr – (noch) keine Einschränkungen staatlicherseits (wieder)eingeführt wurden.
Die Fallzahlen fingen Ende August an, massiv zu steigen, woraufhin die ungarische Regierung beschloss, ab dem 1. September das Farbensystem Grün-Gelb-Rot aufzugeben, alle Länder als Risikoländer einzustufen und das Land für ausländische Staatsbürger zu schließen und ungarischen Heimkehrern eine zweiwöchige Quarantäne aufzuerlegen (die man mit zwei negativen Tests innerhalb von fünf Tagen verlassen kann). In der Zwischenzeit wurden die Bestimmungen aber gelockert, unter anderem für Pendler, Geschäftsreisende, Sportler und Touristen aus den Plintenburg-Staaten Tschechien, Polen und der Slowakei, wo die Fallzahlen – insbesondere in der Tschechischen Republik – auch einen dramatischen Anstieg zeigen. Dies stoß auf Kritik der EU, die darin eine Diskriminierung sah. Seit kurzem werden auch ausländische PCR-Testergebnisse anerkannt, die beim Passieren der Staatsgrenze von ungarischen Staatsbürgern und Ausländern mit Bindung zu Ungarn verlangt werden können. Die Beschränkungen wurden vielfach kritisiert – Epidemologen schätzen, dass lediglich 10 % der Fälle einen ausländischen Bezug hätten und dass der Rest auf Infektionen im Inland zurückzuführen wären. Für besonders viel Kritik sorgte die Regelung, dass sich Pendler nur in einem Streifen von 30 km bewegen dürften, viele von ihnen berichteten in Internetforen und Medienberichten zufolge von der Androhung von Kündigung seitens der österreichischen Arbeitgeber, sollten die ungarischen Arbeitnehmer ihren arbeitsrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen. Bezüglich den Kontrollen berichteten Pendler von unterschiedlichen Erfahrungen, von „durchgewunken” bis hin zur Verweigerung der Einreise. Angesichts der Schließung kleinerer Übergänge vermutet man, dass dies mit Personalengpässen bei der ungarischen Polizei (die auch den Grenzschutz an den Schengen-Ausßengrenzen zu gewährleisten hat) zu tun haben könnte.
Die Zahl der Neuinfektionen erreichte mit 718 bestätigten Fällen eine Rekordmarke – selbst in der Hochphase der COVID-Pandemie im Frühjahr waren diese Zahlen deutlich niedriger: Im April lag diese in der Spitze bei 210 (10. April). Im Vergleich zum Mutterland sind diese Zahlen als hoch zu bewerten: In Deutschland fand man in den letzten 24 Stunden 1484 neue Fälle (bei einer neunmal größeren Bevölkerung). Österreich vermeldete hingegen eine ähnlich hohe Zahl an Neuerkrankten: 664 an einem Tag, jedoch bei mehr Tests als in Ungarn (knapp 15.000 Tests). Mit den 718 neuen Fällen stieg die Zahl der Infizierten auf knapp 10.100, von denen 4041 bereits als genesen gelten. 259 Patienten werden im Krankenhaus behandelt, 12 von ihnen werden künstlich beatmet. Ein chronisch kranker Patient starb an den Folgen der Krankheit. Knapp die Hälfte der Infizierten stammt aus Budapest, zwei Drittel aus den zentralungarischen Komitaten Pesth/Budapest, Weißenburg und Komorn-Gran. Die gestiegenen Fallzahlen könnten auch mit der Ausweitung der Tests zu tun haben.
Experten zufolge grassiere die Pandemie diesmal ganz stark im Kreise von Jugendlichen, so ist die Angst groß, dass sich die Schulen zu Infektionsherden entwickeln könnten. Es wurden bereits COVID-Fälle aus Schulen gemeldet, so neulich aus einer Schule in Stuhlweißenburg. Der Epidemologe und Rektor der Semmelsweis-Universität Budapest, Prof. Dr. Béla Merkely, sprach auf einer Konferenz davon, dass man in allen Komitaten einen Anstieg der Falzahlen beobachte. Er schätzt die Zahl der Infizierten auf insgesamt 100.000, von denen die meisten nicht getestet wurden. Merkely fordert deshalb die Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln, die Wiedereinführung des Zeitkorridors für Ältere im Einzelhandel und das Verbot von Tanzveranstaltungen in Clubs und Discos.
Wegen der erneuten Schließung der Grenzen befürchten Experten weitreichende Folgen für die Wirtschaft. Im 2. Quartal nahm das BIP bereits um 13,6 Prozent ab, ein im europäischen Vergleich hoher Wert. Deshalb fordern Wirtschaftsvertreter und Oppositionsparteien die Ausweitung der staatlichen Krisenzuwendungen an Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Im Radiointerview sprach Ministerpräsident Viktor Orbán heute Morgen von dem Aussprechen von Besuchsverboten in Krankenhäusern und Altenheimen, der Einführung von Temperaturmessen beim Betreten von Schulen und der Preisfixierung von COVID-Tests.
Auch wenn der Operative Stab um die Chefin des Landesgesundheitsamtes noch nicht seine Arbeit aufgenommen hat, zeigen Orbáns Worte davon, dass man in nächster Zeit mit weiteren Maßnahmen rechnen muss. Die Oppositionspartei Momentum kündigte an, einen Schattenstab einzurichten, um der Regierung Vorschläge zur Krisenbekämpfung zu unterbreiten.