Irrationales Verhalten ist das Wenigste, was wir jetzt brauchen – Gedanken rund um COVID-19

Von Prof. em. Dr. Josef Bayer

Heutzutage kann man schwer umhin, über die neue globale Pandemie, ihre unmittelbaren und weiteren Folgen zu schreiben. Sie bestimmt unseren Alltag, weckt tiefe Angst um unsere Gesundheit, weckt Kummer um eine stagnierende Wirtschaft, die Lähmung sozialer Kontakte und um die soziale Sicherheit. Viele verlieren Arbeit und Einkommen, unzählige Unternehmen schließen, Luftverkehr und Tourismus sind blockiert. Die weltweite Ausbreitung auf allen Kontinenten – die Zahl der Infizierten beläuft sich Anfang September 2020 schon auf über 25 Millionen, die der Toten nähert sich an die eine Million – die Pandemie schockiert Gesellschaften und wirft beunruhigende Fragen bezüglich der weiteren Entwicklung unseres menschlichen Daseins auf. Außer wirtschaftlichen Einbrüchen droht vielerorts auch eine neue Hungersnot wegen mangelnder Versorgung.

Es ist erstaunlich, dass bei all jenen großen wissenschaftlichen Fortschriften, auf die wir stolz sind, so ein winziges Unwesen wie das neue Corona-Virus – nur halbwegs lebendig, auf der niedrigsten Stufe der biologischen Evolution stecken geblieben, wo nur der Mechanismus der puren Reproduktion wirkt – uns in Verlegenheit bringen kann. Es erinnert uns erneut daran, wie abhängig unsere ganze menschliche Existenz letztlich von unserer natürlichen Umwelt ist. Viele behaupten sogar, dass die jetzige Epidemie eine Folge der Umweltzerstörung ist, die sich seit der Industriellen Revolution immer mehr ausbreitet.

Aber auch früher sind schon breite und sogar tödlichere Pandemien bekannt gewesen aus der Geschichte, welche schockartige gesellschaftliche Einbrüche verursachten. Oft sind ganze Zivilisationen zerfallen, deren Menschen nicht immun gegen fremde Krankheiten gewesen waren bzw. sind. Diese wurden meist von Händlern oder Eroberern verbreitet – so wie die Pest oder wie der Pocken in Amerika, dem viele Millionen Ureinwohner zum Opfer gefallen sind. Seit der voranschreitenden Globalisierung, mit ihrem täglichen riesigen Warenverkehr und breiten Strömen reisender Menschen, ist die globale Ausweitung solcher Seuchen fast unausweichlich. Man fragt sich, wieso keine der altbekannten Seuchen wiederkehrt. Die Antwort liegt in der Wissenschaft und ihrer Anwendung in der modernen Medizin. Impfungen haben viele Epidemien wie auch andere schwere Krankheiten verhindert, und wo neue, unbekannte Krankheitserreger – Viren oder Bakterien – auftauchten, wurde früher oder später ein Impfstoff erfunden, um vorbeugende Immunisierung und Heilung zu erzielen. Unlängst passierte dies z.B. gegen Ebola, von Viren infizierte verschiedene Typen von Grippe (wie die SARS), das HIV, Zika-Virus und etliche andere.

Als die neue, zuerst in China aufgetauchte Covid-19-Pandemie im Frühjahr ausbrach, las ich wieder Daniel Defoes „Die Pest zu London“. Das Buch bietet eine distanzierte, kühle, gleichsam mitfühlende Beschreibung des Ablaufs der Pest aus dem Jahre 1665 und erzählt detailliert, wie eine Gesellschaft auf die tödliche Seuche reagiert. Es überraschte mich, wie ähnlich Menschen des modernen Zeitalters auf die jetzige Pandemie reagierten. Die Menschen verleugneten zunächst die Wahrheit, schenkten keinen Glauben den Nachrichten über die drohende Verbreitung der Pest. (Jetzt sind besonders viele (un)verantwortlich Politiker an solcher Haltung schuld.) Blitzschnell tauchten Wunderheiler auf, die mit verschiedenen, selbst erfundenen Heilmitteln hausierten, die angeblich einen vor dem Unheil verschonten und freilich gar nichts taugten. Als die Pest begann, groß ihre Opfer einzufordern, versuchten einige anfangs sich in ihren Häusern zu versperren, was sich als völlig nutzlos erwies. Andere wollten schnell die Stadt verlassen, aber dazu entbehrten freilich viele die nötigen Mittel. (Später war das auch nicht mehr möglich, denn die umgebenden Dörfer die Stadt unter bewaffnete Blockade, also eine Art Quarantäne gestellt haben.) Die Behörden haben ziemlich schnell auf die Notlage reagiert, haben Haussperren verordnet und zur Kontrolle einen Wachdienst aufgestellt. Die Seuche hat damals wie heute die Ärmsten am härtestem getroffen. Die drohende Hungersnot hat die Armen dazu gezwungen, gefährliche Aufgaben wie Wegschaffung und Beerdigung der Leichen in Massengräben, Wachdienst und Verteilung der aus den umgebenden Dörfern angelieferten Lebensmitteln zu übernehmen, wobei dann auch die meisten früher oder später der Pest zum Opfer gefallen sind.

Die Angst vor der Seuche stürzt Menschen oft in Verzweiflung, und die Verwirrung über die begleitende soziale Krise bringt die Wiederkehr von Wunderheilern und abergläubischer Verschwörungstheorien mit sich. Das ist eine fast unausweichliche, natürliche soziale Reaktion – aber verantwortliche Regierungen und eine faktentreue öffentliche Information und Kommunikation in den Medien können trotzdem einer ausbrechenden Panik entgegenwirken und Menschen für rationales Handeln gewinnen. Heute gibt es in den meisten entwickelten Ländern ein funktionierendes Gesundheitssystem, wissenschaftliche Forschungsinstitute für Medizin und Epidemien, die es früher nicht gab. Bei der allgemeinen Verwirrung wird leicht vergessen, dass uns vor dieser Pandemie und ihrer schrecklichen Folgen letztlich nur die Wissenschaft und die moderne, wissenschaftsbasierte Medizin retten kann. Ohne sie wüssten wir nicht einmal die Auslöser dieser Krankheit. Virologen erkannten den Krankheitserreger, und Epidemiologen wissen auch aus Erfahrung, wie man auf solche Epidemien am besten reagieren muss. Ihre wichtigste Warnung heißt: möglichst frühe Erkennung, Isolation der Kranken und Kontaktverfolgung, um die rasche Verbreitung der Epidemie zu unterbinden. Empfohlen wurde die Nutzung der Schutzmaske, die Vermeidung von Massenveranstalten usw. Wo diese Maßnahmen nicht eingehalten werden, dort würden die gleichzeitig auftretende massenhafte Infektion das Gesundheitswesen überlasten, und die rasche Verbreitung der Seuche würde äußerst schwer unter Kontrolle gehalten.

Die offizielle Statistik der Epidemie widerspiegelt klar den Unterschied in der Antwort einzelner Regierungen und Gesellschaften auf die Gefahr. In China, Vietnam, Süd-Korea, Japan wurde die Gefahr sehr ernst genommen, die erwähnten Prinzipien eingehalten, und die Verbreitung der Epidemie konnte deshalb eingedämmt werden. Die Situation sieht dagegen in Ländern, wo die Gefahr von offiziellen Seiten heruntergespielt wurde, und der Skepsis gegen Wissenschaft groß war, viel düsterer aus. In den Vereinigten Staaten, wo Donald Trump sich lustig machte über die neue “Influenza” aus China, übertrifft jetzt die Zahl der Betroffenen bereits sechs Millionen, und die Zahl der Toten nähert sich an die Zweihunderttausend, gefolgt von Brasilien, mit über 4 Millionen Betroffenen und etwa 126.000 Toten. Dort sträubte sich der rechtsradikale Staatspräsident Bolsonaro lange Zeit gegen die Anerkennung der Gefahren und der Einführung der nötigen Maßnahmen, solange, bis er selbst zum Opfer gefallen ist (allerdings konnte er die Krankheit überstehen, ebenso, wie Boris Johnson in England, der anfangs ebenfalls die Gefahr heruntergespielt hatte.)

Der Zustand des Gesundheitswesens bedingt freilich auch die Widerstandsfähigkeit gegen die Pandemie. Bemerkenswert ist auch, dass heute wie einst, die Krankheit mehr Opfer aus den Kreisen der ärmeren Schichten zieht. In dicht besiedelten, in schlechteren und hygienisch weniger versorgten Wohnvierteln werden proportional viel mehr Leute krank. Indien, das bevölkerungsreichste Land der Erde, ist ebenfalls sehr hart getroffen, mit über 4 Millionen Infizierten und über 70 tausend Tote. Es wäre trotzdem falsch zu glauben, dass Entwicklungsländer generell schlechter auf die Epidemie reagierten als die reichsten Länder. Senegal reagierte z.B. sehr früh und gut auf die Gefahr und konnte so die Verbreitung von Covid-19 unter Kontrolle halten. Kleine Länder mit relativ homogener und solidarischer Bevölkerung können besser mit der Epidemie umgehen als große und heterogene. (So stehen Neu-Seeland und Island an erster Stelle in der Covid-19 Global Responds Index der Zeitschrift Foreign Policy.)

Die Solidarität verlangt nicht nur Beihilfe für Menschen in Not, sondern auch die Einhaltung von Vorsorge-Methoden wie die Nutzung von Schutzmasken im öffentlichen Raum. Diejenige, die sich dagegen protestieren und aus missverstandenen Freiheitsrechten sich weigern, Maske vor dem Mund aufzusetzen, gefährden ihre Mitmenschen und verdienen es, spöttisch als “Covidioten” genannt zu werden.

Die Pandemie wird noch eine Weile bei uns bleiben, solange kein Impfstoff dagegen entwickelt und produziert wird. Die zweite Welle breitet sich eben aus. Eine irrationale Haltung dagegen ist das Wenigste, was wir brauchen. Faktentreue Informierung, Vertrauen an die Wissenschaft, gesellschaftliche Solidarität und politische Verantwortung sind vonnöten, um die globale Pandemie zu überwinden und uns auf ihre Folgen vorzubereiten.

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