Von Richard Guth
Nach fünf Jahren Dienst verlässt der deutsche Pfarrer Gregor Stratmann Budapest. Aber nicht nur die Deutschsprachige Elisabethgemeinde Budapest nimmt Abschied vom westfälischen Geistlichen, sondern auch die Ungarndeutschen, deren wahrer Freund und Fürsprecher Gregor Stratmann in den Jahren geworden ist. Das Sonntagsblatt, zu dessen treuen Lesern der Geistliche von der ersten Minute in Ungarn an gehört, führte ein Interview
mit dem 60-jährigen Deutschen.
SB: Pfarrer Stratmann, von Anfang an betonten Sie eine gewisse Verbundenheit mit diesem Land, und setzten dafür die Namensverwandschaft mit dem berühmten Arzt Ladislaus Fürst Batthány-Strattmann ein. Wie erleben Sie nun diesen Moment des „Loslassens”(ein Begriff, den Sie in Gesprächen mehrfach benutzt haben)?
GS: Vor fünf Jahren bin ich mit ganz viel Neugier und Elan hierhergekommen, habe mich sehr für diesen Raum interessiert, weniger vielleicht für Ungarn als Ungarn, sondern viel mehr für diesen Raum im geografischen Sinne. Mein Name Stratmann selbst ist sehr verbunden mit der ungarischen Geschichte, durch den Namen Batthiány-Strattmann, das hat mich eher motiviert. Jetzt am
Ende meiner Zeit, wo ich eben fünf Jahre hier bin – die Umstände, warum ich gehe, sind ja bekannt, die Bischöfe haben eine Versetzung angeordnet -, steht in der Tat – ein wenig gesättigt – das Gefühl des Loslassens im Mittelpunkt: ein Stück eben diesen Raum, diese Geschichte, diese Erfahrungen, die ich hier erlebt habe, auch jetzt loszulassen, weil ich mich auf etwas Neues hinbewege.
Diese Eingangsfrage ist eher eine philosophische Frage, an einen Philosophen, als eine, die mit einem konkreten Zusammenhang verbunden ist. Dennoch halte ich es für einen ganz wichtigen Begriff, dass wir es überhaupt lernen, loszulassen, wo wir eigentlich immer klammern. Und meine Erfahrung ist, auch in den Predigten und in den Begegnungen mit den Menschen, dass sich die Menschen schwertun, dieses Wort mit einem konkreten Inhalt zu verbinden. Es sei mir erlaubt zu sagen, dass es unheimlich wichtig wäre, dass dieser Begriff „Loslassen” ein Teil der ungarischen Geschichte, nun nicht die Geschichte dieses Raumes, wird, weil die voller Klammern, Binden, Halten, Fixieren, Zementieren und Rückschauhalten ist, und was dem ganzen Land guttäte, wäre eben das Loslassen zumindest der uralten Geschichte. Die jüngere Geschichte müsste noch aufgearbeitet werden, was ich aber
noch nicht sehen kann.
SB: Fünf Jahre Dienst in einer deutschsprachigen Auslandsgemeinde – von welchen Erfahrungen und neuen Erkenntnissen war diese Zeit
geprägt?
GS: An Erfahrungen zunächst, dass ich als Norddeutscher von der holländischen Grenze von der neueren Geschichte, der konkreten Geschichte, die sich hier ganz dramatisch abgespielt hat, im Sinne der Vertreibung der Donauschwaben, nie etwas gehört habe. Das ist in der Tat eine neue Erfahrung in meinem Leben. Das Thema „Vertreibung” zieht hingegen durch mein ganzes Leben hindurch. Ich habe sie in Südafrika erlebt, in Israel erlebt, aber dass es eine Gruppe gibt, Donauschwaben oder Ungarndeutsche, die mit Vertreibung zu tun hatten, war eine völlig neue Erfahrung für mich. Eine neue Erkenntnis? Die ist nicht neu, sondern da bestärkt sich etwas in mir, da bin ich vielleicht zu sehr Theologe: Dass menschliches Schicksal wahrgenommen werden möchte. Es geht da nicht einmal um die Wertschätzung des Leidens des Einzelnen, sondern noch um die Vorstufe des Wahrnehmens. Das ist die Erkenntnis, die durch mein ganzes Leben zieht und sich durch diese letzte Erfahrung bündelt: Wir müssen lernen, authentisch wahrzunehmen. Das ist gar nicht so einfach. Wir kommen ganz schnell mit Begriffen wie Wertschätzung und Empathie, aber davor liegt noch etwas, und das heißt ganz realistisch den Blick auf das Ereignis zu richten und wahrzunehmen, dass es Menschen gibt, mit denen man zu tun hat, die mit ihrer Biografie wahrgenommen werden müssen. Daran mangelt es in diesem Land ohne Zweifel. Es wird ja alles Mögliche gemacht: Denkmäler aufgestellt, Literatur darüber verfasst, aber zu wenig der/die Einzelne wahrgenommen. Ein eindrucksvolles Beispiel waren die letzten Wahlen, wo die Ungarndeutschen einen Vertreter wählen konnten und wo es sich ganz deutlich zeigte, wie wenig wahrgenommen wurde. Ich will es an einem Beispiel ausführen: Ich wurde mehrmals gefragt und habe dabei die Menschen stets ermuntert zur Wahl zu gehen, auch Angehörige der deutschen Minderheit, weil sie nun ein Privileg haben, diese Möglichkeit, aber, wohlgemerkt kenne ich die Feinheit der Wahlgesetzgebung nicht, ganz oft kam dann die Aussage: „Herr Pfarrer, wir haben Angst vor der Liste”: Man muss sich eintragen in eine Liste. Und diese Angst vor den Listen ist eine Angst, die sich von 1946 herrührt. Und es ist ein wunderbares Beispiel, dass man es nicht wahrgenommen hat, dass man mit den Menschen ein Konzept nicht einfach umsetzen kann, was noch viel zu sehr an Dingen rührt, die ganz anders wahrgenommen gehören. Das hat mich ziemlich betroffen gemacht, weil die Demokratie den Menschen erlauben müsste, ihren demokratischen Willen zu erkennen, aber das setzt voraus, dass die Menschen Vertrauen in die Demokratie haben, aber wenn sie das nicht haben, dann mangelt es wirklich an etwas – es ist zwar ein weiterer Gedanke, aber etwas ist mangelhaft an den Beziehungen, und das hat mit Wahrnehmung zu tun.
SB: Stichwort „Wahrnehmung”. Wir haben letztes Jahr eine Zu spit –
zung der Flüchtlingskrise erlebt, was mit Wahrnehmung oder Wahr –
nehmungsmöglichkeit oder -bereitschaft verbunden ist. Sie haben in
der ungarischen und deutschen Presse deutlich Stellung bezogen. Aber
auch in Ihren Predigten haben Sie Missstände in Politik, Kirche und
Gesellschaft angesprochen. Was betrachten Sie als die größte Heraus –
forderung im Europa der nächsten Jahre?
GS: Die größte Herausforderung besteht meiner Meinung nach aus zwei Dingen: Einmal, dass wir in Europa wirklich klären, und das hat meiner Ansicht nach die Flüchtlingskrise deutlich gemacht, was unsere Prämisse ist, und zwar das Verbindliche wieder, der verbindliche Kontext, kann man auch sagen, auf die oder den wir uns wirklich einlassen können – als Theologe würde ich wiedersagen, das hat etwas mit christlichen Wertvorstellungen zu tun, ohne die wir gar nicht können. Und da verliert sich ein Stück, weil wir Partikularinteressen verfolgen, die womöglich einen Sinn ergeben, aber nur für den Moment, aber auf eine Prämisse, auf das Ganze hin eher destruktiv, nicht konstruktiv sind. Und das Zweite scheint mir zu sein, und das hat sich für mich in diesen Jahren überdeutlich gezeigt, dass wir überhaupt lernen müssen, das Bewusstsein vom Ganzen zu kultivieren. Das wäre, auf diese Nationalgeschichte Ungarns bezogen, natürlich, dass die Nation nicht als Ganzes definiert werden kann, denn es wird immer Bewegungen geben, aber wir müssen eine Mitte haben. Was ist aber unser Bewusstsein vom Ganzen? Auch der EU-Austritt Groß-Britanniens, Brexit genannt, zeigt, dass sich die Partikularinteressen durchgesetzt haben, wo man nun vor dem Scherbenhaufen steht, denn das Ganze geriet aus dem Blickfeld. Wir müssen es auch in diesem südosteuropäischen Raum lernen, was gar nicht so einfach und sogar schmerzlich ist. Eine andere Chance haben wir gar nicht mehr in dieser Welt. Und nun zurück: Der Referenzrahmen ist aus meiner Sicht eindeutig ein christlicher, weil er über den ökonomisch geprägten Strukturen steht und die Menschen ganz anders im Blick hat. Als Ideengeschichte ist die Kirche selbst in vielen Bereichen kritikwürdig, aber als Ideengeschichte haben wir meiner Meinung nach keinen anderen Rahmen.
SB: Januar 2016 zelebrierten Sie anlässlich des Gedenktages der
Vertreibung der Ungarndeutschen die Heilige Messe in der Johannes –
kirche zu Wudersch, und das nicht zum ersten Mal. Was verbindet
einen Westfalen mit dem Schicksal der Deutschen in Ungarn?
GS: Zum einen: Ich lebe als Westfale gewissermaßen im Exil hier, nicht vertrieben, aber doch in der Fremde. Und das ist ein ganz großes Bindeglied zu den Menschen, die vor 300 Jahren genauso in die Fremde gekommen sind, und wo deutlich wurde, dass sie Fremde sind, auch wenn es Phasen gab, wo sie Teil des Ganzen waren, aber der Schmerz, dass sie die Fremden sind, ist noch da. Das Zweite ist, glaube ich, die Erfahrung, dass wenn wir wissen, woher wir kommen, ich als Westfale, die anderen als Donauschwaben, Rumänen, Ungarn, dann können wir auch dort sein, wo wir sind. Meine Identität befähigt mich auch dazu, in einer anderen Gesellschaft leben zu können, weil ich diese Identität habe. Das sieht man wunderbar an der deutschen Sprache, die ein erhebliches identifikatorisches Motiv ist, für diese Minderheit. Ich kann hier leben, weil ich weiß, woher ich komme. Bei mir manifestiert sich das am deutlichsten durch die Sprache.
SB: Woher man kommt, wo man ist: Damit verbindet sich für mich die Frage, wo ich hinaus will. Über ihre seelsorgerische Tätigkeit im Kreise der Ungarndeutschen haben Sie einen Einblick in das Leben der deutschen Minderheit gewonnen. Wie sehen Sie persönlich Gegenwart und Zukunft der Ungarndeutschen, was sind die besonderen Herausforderungen für diese Minderheit?
GS: Zunächst einmal, dass sie für sich ein Zukunftsbild artikuliert. Das Zukunftsbild ist zwar gebunden an die Geschichte, aus der sie kommt, aber man muss sich öffnen für das, was aus der Geschichte nicht mehr Kraft geben kann, aber doch vorhanden ist. In diesem Fall, dass der Dialekt nicht überleben wird, – wird er nicht. Im Sinne einer musealen Struktur schon, aber nicht als Kraft. An die Stelle wird ja diese deutsche Sprache treten, die Kraft ausstrahlt.
Das ist das Eine. Das Andere ist, dass sich die Ungarndeutschen als eine in Europa verankerte Gruppe begreifen. Gebunden an den geografischen Raum, da ja der Nationalstaat eine moderne Erfindung ist, und davor gab es ja auch schon Donauschwaben. Sie sollen sich stärker verorten, nicht im nationalen Sinne. Man müsste sich ernsthaft Gedanken darüber machen, wie man mit der Wirklichkeit von Minderheiten umgeht. Der Begriff „Europa der Regionen” könnte dafür eine Dimension bieten, was für die Donauschwaben eine ganz klare Perspektive sein kann. In dieser Region zu Hause zu sein, mit den eigenen Wurzeln, die sie auch kultivieren wollen und auch weiterentwickeln sollen. Übrigens eine Idee von Europa.
SB: Humanität, Wahrnehmung, Menschennähe. Sie sind selbst ein Mensch, so mein Eindruck, dem sehr viel daran liegt, auf die Menschen zuzugehen. Mit welchem Gesamteindruck nehmen Sie nun von diesem Land und dessen Bewohnern Abschied?
GS: Mit dem Eindruck, dass in diesem Land unheimlich viel Kraft verborgen ist, die man positiv leben könnte, aber wo man sich verzettelt in dem Nicht-Loslassen. Aber ein Land, das im Aufbruch steht und Perspektiven hat. Eine Kraft, die ich in der Bundespublik so nicht sehe.
SB: Pfarrer Stratmann, wir wünschen Ihnen viele interessante
Impulse an Ihrem neuen Dienstort und Gottes Segen!