Nachforschungen: Massenmord im Pilisch-Gebirge

Artikel von Ádám Kolozsi, erschienen auf dem Internetportal index.hu am 17. 08. 2017, deutsche Übersetzung: Richard Guth. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autoren Ádám Kolozsi.

Auf den Tag genau ist es 70 Jahre her, dass am 17. August 1947, an einem Sonntag, Freunde an der Kékvíz-forrás (Blauwasser-Quelle) oberhalb von Sankt-Andrä (Szentendre) Picknick machten. Sie wollten gerade Speck braten, als aus dem Gebüsch eine halbnackte Gestalt an sie herantrat und um Zigarette bat. Einige Minute später war ein Ehepaar tot. Eine gute Stunde später fand man an einem Gehöft in der Nähe fünf tote Kinder. Polizei-Hundertschaften begannen die Suche nach dem Täter, aber trotz der mehrwöchigen landesweiten Treibjagd wurde der Täter nie verurteilt, weil man es möglicherweise gar nicht wollte. Wir versuchen 70 Jahre später die Tragödie und die politischen Hintergründe zu rekonstruieren.

Man muss nicht einmal zwei Kilometer laufen, von der Ludwigsquelle bergauf kommend, um zu einem nicht sonderlich auffälligen, abgenutzten Steinwürfel zu gelangen: Das ist das Lajos-Denke-Denkmal. Ich habe noch niemanden getroffen, der wusste, wer Lajos Denke war. Das Denkmal trägt den Namen eines Mannes aus einer Clique, die an der benachbarten Quelle ihre Stranddecke ausbreitete. Sie schafften es am nächsten Tag zusammen mit den fünf Kindern aus der Umgebung, die ein tragisches Schicksal ereilte, im ganzen Land auf die Titelseiten: Massenblutbad im Pilisch, berichteten die Zeitungen.

An dem besagten Vormittag tauchte aus der Richtung des Waldes ein Unbekannter auf (ein blonder, blauäugiger, großgewachsener Mann, so die Personenbeschreibung), der die Wanderer um Zigarette bat und dann den Ort verließ. Wenig später soll er zurückgekehrt sein, plötzlich eine Waffe gezogen und um sich geschossen haben. Er hat den Dreher Denke tödlich verletzt, woraufhin sich seine Frau so sehr erschreckte, dass sie tot über ihn hergefallen sein soll. Die Zeitungen berichteten zuerst vom Herzanschlag, aber nach der Obduktion hieß es, dass man eine Kugel in ihrem Herz gefunden hätte. Die anderen haben sich mit einer Spitzhacke verteidigt, liefen dann weg und haben die Polizei benachrichtigt. Eine Fahrradstreife vom Polizeipräsidium Sankt Andrä ist kaum am Tatort angekommen, wurden sie zu einem anderen, noch brutaleren Mordfall am benachbarten Bükki-Gehöft gerufen: Auf dem Waldbesitz wurden fünf Teenager auf brutale Art und Weise niedergemetzelt.

Mit Beil und Gewehr gegen Kinder

„Gehirnschädigender Schuss”, „Verblutung aufgrund Einschusses”, schrieb der Pfarrer als Todesursache in die entsprechende Spalte. Schnell füllten sich an diesem Augusttag die Spalten im Kirchentodesregister der Gemeinde Senváclav/Pilisszentlászló. Drei Dorfjungen und zwei Jungs vom Gehöft: Das Gedenken an sie ist in der slowakischen Gemeinde auch noch so lebendig, dass von den damaligen Klassenkameraden viele nicht mehr am Leben sind und die Dorfgemeinschaft sowieso zur Hälfte aus Zugezogenen aus Budapest besteht. Die Teenager halfen bei den Sommerarbeiten mit und schliefen nächtelang auf dem Bükki-Gehöft, die Eltern versorgten sie abwechselnd mit Essen. So fand einer der Väter sie blutüberströmt auf. Von den Schüssen und Beilhieben waren vier der Jungs bereits tot, der fünfte verstarb im Krankenhaus kurz nach seiner Einlieferung. Im Dorf wird erzählt, dass die Polizisten wegen des Anblicks kaum wagten, das Nebengebäude zu betreten. Wie die Tageszeitung „Szabad Nép” den Leiter der Staatssicherheit (ÁVO, Abteilung für Staatssicherheit beim Innenministerium) zitierte:

„Ihre Schädel waren wegen den Beilhieben bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert, ihre Mägen waren voller Blut. Der Mörder hat sicherheitshalber jeweils eine Kugel in sie hineingejagt – typisch faschistische Arbeit”, sagte Gábor Péter.

Die zwei Tragödien trennte nicht einmal eine Stunde, so wurden beide Mordfälle als einer behandelt. Die von Sankt Andrä haben die Einsatzgruppe R (Razzia) alarmiert, es kamen aus der frisch eingeweihten Kaserne an der Kerepescher Landstraße auch welche mit Maschinengewehren, aber es schlossen sich – wohlgemerkt befinden wir uns im Jahr 1947 – sowjetische Militäreinheiten an. Bereits in der Nacht übernahm Polizeipräsident Ferenc Münnich, der später als kommunistischer Hardliner Kádárs berühmt wurde, die Ermittlungen, die Verhöre leitete Stasi-Chef Gábor Péter. In den nächsten Tagen durchkämmten 400 Polizisten das ganze Pilisch, schreiteten von der Russkuppe (Dobogókő) kommend halbkreisförmig von Gebüsch zu Gebüsch, von Haus zu Haus Richtung Donauknie und Paumasch/Pomáz voran.

Ob sie den richtigen Mörder fassen wollten, ist zweifelhaft. Die zeitgenössische Presse ging von Anfang an felsenfest davon aus, dass die Morde von gefährlichen „SS-Banditen” verübt worden seien.

„Die Banditen gehören zur so genannten SS-Gruppe der deutschen Kriegsterroristen, zu deren Fassen gerade eine großangelegte Verfolgungsjagd stattfindet. Plündern und Morden sind täglich Brot für die berüchtigten SS-Burschen. Diejenigen Verbrecher, die am Sonntag sechs friedliche Ausflügler töteten, sind mit ihren SS-Kameraden wesensgleich, deren blutige Hand an mehreren zehntausend Unschuldigen klebt”, schrieb die „Friss Újság” unter einer Phantasiezeichnung über den Tatort.

Der deutsche Faden wurde in Bezugnahme auf die angegriffenen Ausflügler hervorgeholt. Nach Presseberichten sollen sie zu Protokoll gegeben haben, dass der Möder sie auf Deutsch angesprochen haben soll, während er seine Zigarette anzündete, und soll angemerkt haben, dass er ein ehemaliger SS-Soldat sei, der mit seinen acht Kameraden gerade auf der Flucht aus einem deutschen Internierungslager sei. Die Geschichte hört sich auch so recht komisch an, aber das Gespräch soll schlussendlich eine absolute Wendung genommen haben, jedenfalls laut dem Polizeibericht:

„Dann hat der Deutsche gefragt: „Wie viele Parteien gibt es wohl in Ungarn?” Darauf gab ich eine Antwort und er fing an, mit herabwürdigenden Kommentaren diese aufzuzählen. Im nächsten Moment zog er seinen Revolver und fing an um sich zu schießen”, sagte einer der überlebenden Wanderer laut „Szabad Nép”.

Ein Kronzeuge

Da es sich recht lebensfremd anhört, habe ich versucht Kontakt zu den herzustellen, auf die sich die zeitgenössische Zeitung berief. Neben dem Ehepaar Denke, das tragisch ums Leben kam, gab es dort noch vier Personen, und da es damals keine Persönlichkeitsrechte gab wie heute, wurden ihre Namen in allen Zeitungen gebracht: Gyula Kiss und seine Bekanntschaft Ilona Pslánkay sowie der Wasserinstallateur Károly Pribil und seine Frau. Mit dem Familiennamen Kiss (dt. Klein) ist es nach so viel Zeit unmöglich jemanden zu finden, auch mit Palánkay hatte ich keinen Erfolg, ich konnte lediglich die Nachfahren der Eheleute Pribil finden.

„1947? Ich glaube zu wissen, woran Sie denken könnten”, sagte der Enkel sofort, als ich eröffnete, aus welchem Anlass ich ihn aufgesucht habe. Er hat mich daraufhin auf seine Mutter, die ehemalige Schwiegertochter des Ehepaares, verwiesen. Zwei Minuten, nachdem sie den Hörer abgenommen hat, war es klar, dass die Polizei und die damaligen Zeitungen die Öffentlichkeit von Anfang an irreführten: Die deutsche Story ist höchstwahrscheinlich frei erfunden.

„Mein Schwiegervater hat in der Familie des Öfteren darüber erzählt. Sie sind um die Jahrhundertwende geboren und bildeten einen Freundeskreis aus sozialdemokratischen Arbeitern und machten oft gemeinsam Ausflüge. Er war ein Mensch mit militärischer Vorerfahrung, er konnte anhand des Gewehrs und der Kleidung eindeutig feststellen, dass der Angreifer ein Russe war. „Er war bestimmt geisteskrank”, sagte er immer.”

Ob die Zeugen freiwillig den Erwartungen der Polizisten entsprechen wollten oder ob man sie unter Druck setzen musste oder ob sie es eh wussten, dass es im Jahre 1947 nicht zielführend ist, in einem Mordfall einen sowjetischen Soldaten zu belasten, weiß man nicht, darüber soll in der Familie nicht mehr gesprochen worden sein.

Während die Presse über verruchte faschistische Mörder, die sich über die ungarische Politik lustig gemacht haben sollten, phantasierte, gab es einen inoffiziellen polizeilichen Befehl, wo es noch von einem Russen die Rede war. In dem ersten Fahndungsaufruf war von einem Tatverdächtigen „in russischer Mannschaftsuniform mit Wickelgamasche” die Rede, der „gebrochen deutsch spricht”, diese Information wurde von den Zeitungen aber nie veröffentlicht. Es scheint, dass sich die Polizei – die Ermittlungen leitete unter Münnich ein Polizeifähnrich namens Alajos Nagy, der später Karriere machte, aber der sich kurz zuvor als Wirtschaftskriminalist durch die Überführung von Schmalzschmuggler auszeichnete – im Laufe eines Tages für die Textversion entschied, die für die Öffentlichkeit bestimmt war: Demnach seien die Möder ehemalige Mitglieder der SS, aus Ungarn vertriebene und zurückgekehrte Schwaben mit guten Ortskenntnissen, deren Ziel es sei Rache an den Madjaren zu üben.

„Es ist auch ohne Zweifel, dass die Massenmorde drei deutsch sprechende SS-Räuber begangen haben. Die Polizei ist nun der Ansicht, dass die SS-Banditen aus Vorsatz, möglicherweise aus Rache die Hirtenkinder aus Senváclav ermorderten und dass nach dem Mord der zwanzigjährige SS-Gangster nur deswegen zu den Wanderern zurückkehrte, um die Zeugen zu eliminieren, die ihn in der Umgebung sichteten. Die Polizei ist der Überzeugung, dass der SS-Backfisch Angehöriger einer aus Ungarn vertriebenen schwäbischen Volksbund-Familie ist.”

Das war eine typisch deutsche Sache, nicht wahr? Er hat alle in seinem Umfeld ausgerottet, mit deutscher Gründlichkeit”, zitierte Polizeioberstleutnant János Zilahy damals die Presse. (Fortsetzung im SB 2018/1)

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