Deutschsein in der Diaspora

Zu Besuch bei ungarndeutschen Calvinisten in Ostungarn

Der 18.000-Seelen-Ort – einst Marktflecken, seit Ende der 1980er Jahre Stadt – macht den Eindruck eines großen Dorfes mit einer großzügigen Raumaufteilung. Wir befinden uns hier am Rande des Hortobágy-Nationalparks. Bis Debrezin ist es eine gute halbe Stunde mit dem Auto. Ein Dorf im Dorf ist der Ortsteil „Németfalu” (Deutschendorf) am Rande der Kreisstadt, aber mit ihr räumlich eng verbunden. „Zweifelsohne erweckt das nicht sehr wohlhabende Balmazújváros den Eindruck eines Dorfes”, werden meine Impressionen von Erika Takács bestätigt. Sie ist eine alteingesessene Deutschendorferin, deren Vorfahren Weber (madjarisiert dann Takács) und Eder hießen. Balmazújváros-Deutschendorf ist eine Sekundärgemeinde – besiedelt von deutschen Calvinisten aus Wadkert/Soltvadkert, die den Katholiken im Streit unterlegen gewesen seien und so eine neue Heimat in der neuen Heimat Ungarn gesucht hätten, ergänzt die Geschäftsführerin des Deutschen Hauses.

Sie leitet als „Mädchen für alles” einen stolzen 650-Quadratmeter-Neubau aus dem Jahre 2014 auf einem mehr als doppelt so großen Grundstück in der Großen Deutschgasse (Kossuth utca) – die Grundstücksgröße sei in dieser Gegend nicht ungewöhnlich, bestätigt sie. Das Deutsche Haus ist Dreh- und Angelpunkt für die Deutschen im Ort, die eigentlich gar nicht so wenige seien: „Auch wenn sich bei Volkszählungen und Registrierungen nur wenige zu ihrem Deutschtum bekennen, haben von den 18.000 Einwohnern fast die Hälfte deutsche Wurzeln. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Mischehen. Dazu kamen historische Erfahrungen wie die Verschleppung 1944/45, in deren Rahmen 500 Balmazújvároser – zu 85 % Deutsche – in die Sowjetunion verschleppt wurden (wo auch Kinder geboren wurden, die mit heimkehrten) und trotz Vorurteilen und Desinteresse bilden wir heute eine kleine, aber umso aktivere Gemeinschaft”.

Und dass dem so ist, bestätigen Seniorinnen im „kleinen Haus”, dessen Errichtung 2011 durch Leader-Förderung und Kredite den Grundstein für das deutsche Zentrum legte. Die Damen versammeln sich zur Chorprobe. Bei Schmalzbrot wird geplaudert, gehäkelt und ein Blick in die Vergangenheit geworfen. Die Konversation findet auf Ungarisch statt, selbst die Großmuttergeneration spricht die Sprache der Ahnen nicht mehr: „Als ich Mitte der 1950er Jahre nach Deutschendorf kam, sprachen die Alten untereinander noch deutsch”, erzählt eine Frau Anfang 80, „eine Madjarin”, wie sie ergänzt. Ihre Tischnachbarin, „eine Schwäbin”, wie sie stolz betont, sagt, dass die Alten dann deutsch untereinander gesprochen hätten, wenn sie nicht wollten, dass die Kinder das Gespräch der Eltern verstehen. Auch der Sprachwechsel bei der Liturgie Anfang des 20. Jahrhunderts habe den Verlust der deutschen Muttersprache begünstigt, so Erika Takács, die Geschäftsführerin. In Ermangelung deutscher Unterrichtssprache in der eigenen Schule für die wenigen Straßenzüge war der Sprachverlust nicht zu stoppen, was im Nachhinein durch den Ausbau des Deutschunterrichts in den 1990ern nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Ohnehin leide Deutsch auch hier unter einem Imageproblem, Englisch sei auf dem Vormarsch, erzählt Takács, die 20 Jahre lang eine Musikschule geleitet hat.

Erika Takács ist eine Fleisch-und-Blut-Kulturmanagerin: Vor ihrer Zeit im Deutschen Haus leitete die 60-Jährige zeitweise das örtliche Kulturhaus und musste durch den Wechsel in das Deutsche Haus ihr Selbstverständnis als Angestellte im öffentlichen Dienst dem Zeitgeist anpassen: „Bereits 1990 hatte ich das Gefühl, dass man etwas für die deutsche Gemeinschaft tun sollte. Die Vorgängerorganisation, der Kossuth-Kreis (Kossuth Kör) – wo sich Deutsche und Deutschstämmige versammelt hatten und zum Beispiel deutsche Hochzeiten feierten – wurde auf Geheiß der kommunistischen Führung der Großgemeinde um 1980 eingestampft. Es dauerte noch bis 2006, als die erste Nationalitätenselbstverwaltung gebildet, und bis 2007, als der Verein aus der Taufe gehoben wurde”, erinnert sich Takács. Um an Kredite heranzukommen, habe man sich dafür entschieden, eine GmbH zu gründen: So sei die Finanzierung des Projekts „Deutsches Haus“ gesichert gewesen. Das „große Haus” sei 2014 bereits durch Fördergelder in Höhe von 225 Millionen Forint (damals in etwa 800.000 Euro) errichtet worden – im Obergeschoss mit einer volkskundlichen Sammlung.

Erika Takács betont während der Führung durch das Haus der Traditionen, dass auch viel durch Eigenleistung erbracht worden sei, was die Stärke der Gemeinschaft demonstriere, die einst aus 100 Familien bestanden habe und stark endogamisch geprägt gewesen sei. Die heute 120 Vereinsmitglieder, von denen gut die Hälfte sehr aktiv sei, trügen das Projekt „deutsches Leben“ – dabei sei es immer schwieriger die Jugend anzusprechen. Diese Erfahrung beobachte Takács nach eigenen Angaben auch anderenorts im Land in anderen deutschen Gemeinden. Zudem leide die Stadt unter Abwanderung „ins Komitat Pest, nach Transdanubien oder ins Ausland. Es ist dann nicht sichergestellt, dass eine Jugendliche, die in Budapest arbeitet, wegen einem Ball nach Hause kommt”, gibt Erika Takács zu bedenken. Dennoch liege ihr und den Frauen, die auf der Chorprobe mit einem bunten Repertoire an Liedern warten, sehr viel an der Pflege der Traditionen: deutsches Liedgut, Schweineschlachten, Ball am Martinstag oder das Festival Krodumprei (Kraut und Brei), das mit Unterstützung der Stadt (zwei Millionen Forint, 5000 Euro) Anfang April zum neunten Mal stattfand.

Interessant sei dabei zu beobachten, so die Geschäftsführerin, dass das Bewusstsein ‑ Deutsche(r) oder Deutschstämmige(r) zu sein – gerade mit Hilfe der Speisetraditionen überlebt habe. Hier in den Weiten der Tiefebene – weit weg von den traditionellen Siedlungsgebieten der deutschen Gemeinschaft.    

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