Von Richard Guth
Manchmal liefern gerade die kleinen Geschichten das Verständnis für große Vorgänge. Mit diesem Gefühl verließ ich unlängst die einst rein deutsche Gemeinde Kirwa, in der heute nur noch wenig an diese Vergangenheit erinnert. Kirwa könnte aber überall sein, denn es steht für die großen Herausforderungen, vor der unsere Volksgruppe steht.
„Wohnen hier noch Schwaben?”, lautete meine Frage an die ältere Dame auf Ungarisch, wohlwissend, dass es Kirwa, ungarisch heute Máriahalom, bis 1936 Kirva, Komitat Komorn-Gran, 1946 – anders als das nahe gelegene Tscholnok – ganz hart traf. Und welch ein Volltreffer: „Ich wäre eine Schwäbin”, so die selbstbewusste Antwort der resoluten Dame. Sprachwechsel: Wir setzen das Gespräch auf Deutsch fort – beziehungsweise frage ich im leicht mundartgefärbten Hochdeutsch, sie antwortet im schönsten Donaubairisch. Es seien gut 10 % der Deutschen geblieben, so auch Teile ihrer Familie, denn der Vater war zur Zeit der Vertreibung noch in Kriegsgefangenschaft, ihre Mutter lag im Krankenhaus. Uns habe man dann schlicht vergessen, sagt die Dorfbewohnerin, die später selbst einen Donauschwaben geheiratet hat. Denn das Zusammenleben mit den „telepesek”, mit den Neusiedlern, die unter anderem aus Naurad gekommen sind, sei nicht konfliktfrei gewesen. Nach Erinnerungen der alten Dame hätten sie die verbliebenen Schwaben grob behandelt und von der Landwirtschaft nicht viel verstanden.
Ganz schmerzlich sei für sie die Erfahrung, dass die „deutsche Welt”, mit der sie in erster Linie die deutsche Sprache, das schöne Dorfbild und die Dorfgemeinschaft verbindet, plötzlich verschwand. Man hätte hier schöne Bauernhäuser gehabt, aber wenig sei vom alten Glanz geblieben. Die Leute würden nur noch kommen und gehen, viele würden im deutschsprachigen Ausland wie Österreich und Deutschland ihr Glück suchen. Selbst sie hätte dort Verwandtschaft, sagt die Dame. Und es scheint auf den ersten Blick tatsächlich so, als hätte das Dorf ihre besten Tage bereits hinter sich. Das Dorfbild ist nicht einheitlich, neben gut erhaltenen Höfen stehen verfallene oder welche im schlechten Zustand. Obwohl das Dorf nur 38 Kilometer von Budapest entfernt liegt, dauert die Fahrt für Leute, die kein Auto besitzen, bis zu zwei Stunden, wenn man umsteigen muss. Richtung Autobahnanschluss führt eine enge Straße voller Schlaglöcher, in Richtung Daurag und Gran sind die Straßenverhältnisse immerhin besser. Kirwa kämpft wie hunderte ungarische Dörfer mit dem Problem, dass es vor Ort kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt.
Aber dennoch scheint sich das Dorf nicht aufzugeben: Neben einem schmucken Alkotóház (Dorfgemeinschaftshaus), wo laut Aushang regelmäßig Programme wie Filmvorführungen stattfinden würden, gibt es einen dorfeigenen Jugendclub. Der Ort hat hingegen ihre eigene Schule und ihre eigene Selbstverwaltung verloren und ist auf die Kooperation mit dem anderhalb so großen Daag angewiesen.
Was die einst 800 Seelen starke deutsche Gemeinschaft römisch-katholischen Glaubens anbelangt, sieht es düster aus: „Gut, wenn wir auf zwanzig Schwaben im Dorf kommen”, stellt die alte Dame wehmütig fest.
(Auf dem Bild: Die Kapelle von Kirwa Foto: indafoto.hu/puffancs)