Krieg und Vertreibung aus der Sicht eines ungarndeutschen Mädchens

Buchbesprechung: Christian Sohns Graphic Novel „Kirschblüten aus Harkau“

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Von Krisztina Kaltenecker

Gegenwärtig genießen Graphic Novels sowohl im Kreise der Lehrkräfte als auch der Schülerschaft eine wachsende Beliebtheit.

Die Graphic Novel (auf Deutsch Comicroman oder grafischer Roman) ist zwar ein Format, das Bilder mit Worten kombiniert, trotzdem ist es nicht mit herkömmlichen Comics zu verwechseln. Dies liegt insbesondere zum einen durch die meist komplexeren und längeren Handlung und zum anderen durch die künstlerisch anspruchsvolleren, detailreicheren Zeichnungen begründet. Die illustrierten literarischen Werke dieser Art sind nicht nur für Kinder oder Jugendliche gedacht, sondern auch für Erwachsene.

Das Redaktionsteam Deutsch des Landesbildungsservers Baden-Württemberg (https://www.schule-bw.de) empfiehlt uns, Lehrkräften aufs Wärmste, Graphic Novels im Deutschunterricht einzusetzen, mit der Begründung, dass durch die Bilder es keine Hemmschwelle gäbe, das heißt die Schülerinnen und Schüler in der Regel schnell Freude am Lesen fänden, da sie Comics aus ihrer Freizeit kennen würden. Meine Erfahrungen stimmen mit dieser These überein. In meiner Sekundarschule beispielweise ist Jeff Kinneys „Gregs Tagebuch – Von Idioten umzingelt!“, eine aktuell ziemlich gern rezipierte Graphic Novel.

Motiviert durch den Erfolg dieses Formats bei der Schülerschaft, schaute ich im Internet spontan nach, ob Graphic Novels zur Geschichte und Kultur der Ungarndeutschen bereits vorliegen. Und siehe da! Prompt wurde ich fündig. Ich stoß nämlich praktisch bereits in der nächsten Sekunde auf die Graphic Novel „Kirschblüten aus Harkau“ von Christian Sohn. [1]

Der Autor studierte Medienkunst/Mediengestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar mit den Schwerpunkten Illustration und Animation. Die hier zu behandelnde Graphic Novel bildet das Ergebnis einer dreijährigen (2013–2016) intensiven künstlerischen und geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Kindheit seiner Großmutter Ise (Luise Otto geb. Pratscher) in Harkau/Harka (Westungarn). Das Werk selbst ist auch „Oma Ise“ gewidmet.

Kép1

Die primären historischen Quellen waren lebensgeschichtliche Erzählungen (insbesondere von Luise Otto/Harkau), persönliche Erinnerungen (zum Beispiel Heinz Reitter/Harkau, Adalbert Putz/Deutschkreuz und Eduard Kaiser/Agendorf), Ansichtskarten und authentische Fotoaufnahmen. Inhaltlich geht es in der Graphic Novel um den persönlichen Umgang eines Kindes mit den brutalen historischen Gewalterfahrungen. Es wird aus der Sicht des Mädchens Ise die Familienchronik zusammengefasst: der friedliche Alltag im Dorf (zum Beispiel Geborgenheit, Arbeit und Natur), die Kriegsjahre (zum Beispiel Gewalterfahrungen wie Tod, Angst, Holocaust: Zwangsarbeit der Juden und Tod der Freundin Rahel, die Drohung mit Zwangsaussiedlung, Einberufungsbefehl und Kriegseinsatz des Vaters, der Kessel um Budapest, verschiedene Fluchtbewegungen, Not und Fronterfahrung) und die Vertreibung der Harkauer Gemeinde am 13. Mai 1946 nach Hessen (damals US-Besatzungszone).

Die Ankunft sowie die Ansiedlung und Integration der Harkauer Familie in Hessen werden vom Autor als Enkelsohn in einem Epilog anhand von Fotoaufnahmen kurz und bündig zusammengefasst.

Die Kirschblüte-Symbolik als Konstante verleiht der ganzen Handlung eine besonders rührende, ergreifende persönliche Note.

Zu dem geschichtswissenschaftlichen Hintergrund ist anzumerken, dass es eine wahre schriftstellerische Herausforderung darstellt, die komplexen historischen Abläufe konsequent möglichst nur aus der Perspektive eines Mädchens zu beleuchten – und diese gleichzeitig für die Leser doch gründlich genug zu erklären. Dieser Spagat konnte nicht überall geschafft werden. Beispielweise wurde Ungarns „Waffenbrüderschaft“ mit dem Deutschen Reich nicht problematisiert. Dementsprechend blieb auch die zitierte zynische Drohung, dass die Deutschen so oder so zwangsweise ausgesiedelt werden würden, unverständlich. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass Pfarrer Robert Danielisz zumindest auf einem der Bilder (zum Beispiel beim letzten Gottesdienst) dargestellt wird. Und mir scheint die Aufschrift auf der Waggonwand „Aus dem Vaterland ins Mutterland“ zu pathetisch und dadurch beschwichtigend.

Insgesamt halte ich Christian Sohns „Kirschblüten aus Harkau“ nicht nur für den Deutschunterricht in den Nationalitätenschulen Ungarns hervorragend geeignet. Vielmehr empfehle ich diese Graphic Novel für einen viel breiteren Leserkreis: für alle, die sich mit der Thematik „Gewalterfahrungen von Kindern im Europa des 20. Jahrhunderts“ beschäftigen wollen.

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[1] Herausgeber: BoD – Books on Demand. Erste Edition: 2016. 208 Seiten.

 

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