Reisenotizen spezial: Günser Bürgerhaus wurde zum neuen Leben erweckt

Von Richard Guth

Wir befinden uns an der Sprachgrenze: Der nächste Ort in nordwestlicher Richtung, bereits auf österreichischem Staatsgebiet, ist der Wallfahrtsort Rattersdorf, seit jeher mit einer deutschsprachigen, heanzischen Bevölkerung. Wenn man den Weg in Richtung Steinamanger nimmt, so befindet man sich rasch auf ungarischem Sprachgebiet: Lukácsháza heißt die Anrainer-Gemeinde südlich von Güns/Kőszeg (dem Gegenstand des Beitrags). Ergänzt wird die Vielfalt an Sprachen und Ethnien durch „chrobotische”, also kroatische Dörfer wie Hrvatski Židan, zu Deutsch Siegersdorf, gleich nordöstlich von Güns.

Über die Herkunft der Günser streiten sich die Geister, insbesondere was den Zeitpunkt der Ansiedlung der deutschen/heanzischen bzw. deutschsprachigen Günser angeht, aber 1833 schrieb der Kaschauer J. C. von Thiele von einer deutschen Bevölkerung „mit wenig Ungarn”. Bis zur Jahrhundertwende stellten die Deutschen bzw. Deutschsprachigen die Bevölkerungsmehrheit. Ältere Zeitzeugen (85+) bestätigen zudem, dass auch noch im 20. Jahrhundert viel deutsch gesprochen wurde, trotz des Verlustes des deutschsprachigen Umlandes von Güns, das ab spätestens 1923 Teil des neuen Bundeslandes Burgenland wurde.

Die Altstadt von Güns mit Burg und Bürgerstadt gehört zweifelsohne zu den schönsten Stadtensembles des Landes. Der Denkmalschutz war trotz beschränkter Mittel stets bemüht, die Bausubstanz zu erhalten. Der EU-Beitritt vor 20 Jahren hat neue Fördermöglichkeiten eröffnet, so dass in den letzten Jahren viele Gebäude und Plätze erneuert werden konnten. Das als Vidor-Haus bekannte einstöckige Barockhaus in der Waißengasse/Táblaház utca wartete lange auf bessere Tage. Die Renovierung der Außenfassade erfolgte bereits vor Jahren, das Innere folgte erst vor kurzem. Das Haus beherbergt bis zum 29. September (täglich von 10 bis 19 Uhr) eine kostenlose deutsch-ungarische zweisprachige Fortepan-Ausstellung aus den Bildern des Hobbyfotografen und Maschinenbauingenieurs Tivadar Lissák, der Alltagsszenen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verewigt hat. Fortepan ist ein Gemeinschaftsfotoarchiv im Internet.

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Die Ursprünge des Hauses gehen auf das 16. Jahrhundert zurück: Der hintere Teil des Hauses wurde 1552 aus Kalkstein aus dem nahe gelegenen Zackenbach/Cák errichtet. Das Haus wurde peu á peu erweitert: 1700 wurden die Küche und ein weiterer Raum zur Straße hin errichtet, 1770 wurde das Obergeschoss ausgebaut. So beläuft sich die Grundfläche heute auf 180 Quadratmeter pro Geschoss. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Fenster ausgetauscht und im Obergeschoss im Zuge der Modernisierung eine Toilette eingebaut. Trotzdem hatte das Haus bis 2020 weder ein Bad noch fließendes Wasser in der Küche.

Das Haus, stets im Privatbesitz, sei Zeuge des Reichtums, aber auch Verarmung des Bürgertums von Güns geworden, so eine Infotafel zur Ausstellung. Die ersten Besitzer waren deutsche Handwerker: Nadelmacher und Kaufmann Peter Lüttingen (um 1700), Strumpfwirker und Kaufmann Hermann Wildpracht (um 1720), Glasmacher Simon Teffler (um 1760) und später der Schneider Anton Hetter (um 1900). Aber auch Vertreter anderer Berufszweige bewohnten das zentral gelegene Gebäude 150 Meter von der Burg Jurišić entfernt: der Rechtsanwalt Franz (Ferenc) Gergár und der Major Carl Gergens. Im 20. Jahrhundert befand sich das Haus im Besitz einer Familie, der Familie Hoffer-Vidor. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohnten im Barockhaus der Lehrer Carl Hoffer und seine Ehefrau Maria Artner, ehe das Gebäude 1925 von der Nichte der Hoffers und seinem Ehemann Ágoston Vidor übernommen wurde. Vidors Polstererwerkstatt wurde im Untergeschoss untergebracht.

Seit dem Tod des Ehepaars 1981 stand das Haus lange leer. Die Renovierungsarbeiten begannen 2010 und wurden in diesem Jahr abgeschlossen. Gerade im Spätsommer/Frühherbst ist es einen Besuch wert.

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