Karolingische Kolonisation in Westpannonien: Stunde Null in der Geschichte der Ungarndeutschen?

Von Stefan Pleyer

Teil 2 (Teil 1: https://sonntagsblatt.hu/2024/03/15/karolingische-kolonisation-in-westpannonien-stunde-null-in-der-geschichte-der-ungarndeutschen/)

Drang nach Südosten – die karolingische Kolonisation

Über ein Land zu herrschen reichte den Machthabern des Frühmittelalters nicht. Die Landschafts- und Wirtschaftsgestaltung war ebenfalls von elementarer Bedeutung. Im 9. Jh. galt das Frankenreich quasi als Exporteur des Feudalismus: Wo der eiserne Adler Karls das Sagen hatte, bemühten sich die Franken, die eroberten Gebiete mit der Einführung des eigenen politischen und wirtschaftlichen System an den Kern des Reiches zu binden. Auch Pannonien zählte zu den Reichsländern und die weltlichen und kirchlichen Systeme wurden schnell aufgestellt. Auch über Untertanen verfügten die Franken in Pannonien wie. z. B. das unterstellte Tributärfürstentum von Priwina bei Mosaburg (südwestlich vom Plattensee). Aber diese unterworfenen Völker waren nicht immer Christen und vor allen Dingen waren sie keine fränkischen oder bairischen Bauern, die das Ostland nach westlich-fränkischem Muster feudal-wirtschaftlich umgestalten konnten. Die Führungsschicht kam zwar aus dem Reich, jedoch benötigten die karolingischen Herrscher große Bevölkerungsmassen. Diesen Anspruch hegten die Franken überall, wo sie Herren waren, und dementsprechend führten sie eine weitverbreitete Besiedlungstätigkeit in den frisch erworbenen Territorien durch wie z. B. in Thüringen. Dort fassten nach der Auflösung des Thüringerreiches fränkische Siedler Fuß und schufen eine brandneue Kulturlandschaft. In Pannonien taten sich die Bistümer als hauptsächliche Organisatoren der Kolonisation hervor, vor allem das Erzbistum Salzburg. Karl der Große schenkte Salzburg und noch anderen wichtigeren kirchlichen Machtzentren wie Passau, Regensburg und Freising riesige Ländereien östlich der Enns, also auch in der Awarenmark. Die Bistümer übernahmen auch die Durchführung der Kolonisation des Ostlandes und schickten aus ihrem Gebiet Bauern nach Pannonien. Nach der Ankunft gruppierten sich die Kolonisten um die im Osten des Landstrichs bereits gegründeten Klöster und Kirchen herum, die die wirtschaftlichen und geistlichen Grundlagen der Dorfgründungen absicherten. Hierfür hat die Fachliteratur die Benennung „Fränkisch-Bairisches Ostland” in der Geschichtswissenschaft eingeführt. Das zeigt, dass Pannonien nach der karolingischen Kolonisation von diesen deutschen Stämmen geprägt war.

Aus dem Grunde, dass die Anzahl der aus dem 9. Jh. stammenden Quellen ziemlich begrenzt ist, kann man diese Besiedelung nur aus einer ferneren Vogelperspektive verfolgen – es gibt ja viele Unsicherheiten und Vermutungen. Es ist jedoch sicherlich anzunehmen, dass die fränkisch-bairische Kolonisation in Westpannonien (also im ehemaligen Deutsch-Westungarn, teilweise dem heutigen Burgenland) erfolgreich durchgeführt wurde. Dadurch entstand ein festes fränkisch-bairisches Siedlungsgebiet vom Alpenrand bis zur Raab oder zumindest auf dem ganzen Gebiet des Burgenlandes. Das Ethnonym „fränkisch-bairisch” taucht oftmals auf, aber die Forscher gehen davon aus, dass die aus den Bistümern Salzburg, Passau und Freising kommenden Baiern den Löwenanteil der neuen Bevölkerung ausmachten. Wichtig ist zu betonen, dass von Deutschen in der Karolingerzeit keine Rede sein darf, da diese nationsbildende Selbstbestimmung der Deutschen eine spätere Entwicklung war (ab dem 10-11. Jh.). Der genaue Verlauf der Besiedelung – wie gesagt – ist nicht zu rekonstruieren, aber wir wissen z. B., dass die Siedler solche Orte bevorzugten, die geographisch etwas höher lagen, und jene, wo es möglichst römische Baureste gab wie Straßen. Durch ihre Tätigkeit verbreitete sich die westliche Landwirtschaftskultur in Pannonien: Höfe, Dörfer und Ackerfelder wuchsen aus dem Boden.

Als Ergebnis des fränkisch-bairischen Kolonisationswerks wurden auch größere Städte und Ortschaften gegründet, die bis heute ihren deutschen Namen tragen: Odinburch-Ödenburg, Miesingenburch-Wieselburg, Brezalauspurch-Pressburg, Peinicaha-Pinka usw.

Die karolingischen Baiern in Westpannonien – die ersten „Ungarndeutschen”?

Nach der Gründung des Burgenlandes 1919-1920 und dem Anschluss des größeren Teils Deutsch-Westungarns an Österreich führten deutschgesinnte österreichische und madjarisch-motivierte Historiker und Germanisten einen bitteren Historikerstreit gegeneinander: Man wollte dem Widersacher beweisen, dass das von ihm vertretene Volk das erste im historischen (Deutsch-)Westungarn gewesen sei, weil eine derartige Argumentation auch die politischen Ansprüche auf das Burgenland stärken konnte. Von deutsch-österreichischer Seite behaupteten die Intellektuellen, dass das alte fränkisch-bairische Siedlungsgebiet auch die madjarische Landnahme 895 überlebte, womit das deutsche Wesen im Burgenland seit der Karolingerzeit ununterbrochen präsent (gewesen) sei.

Was sicher ist, dass der Untergang des Karolingerreiches in den letzten Jahren des 9. Jh. zu neuen und unsicheren Verhältnissen führte. Das Frankenreich wurde von inneren Machtkämpfen geschwächt, das benachbarte Mährische Reich trat mit größeren Kräften gegen das Reich auf, aber vor allem waren es die Madjaren, die die größte Gefahr für die fränkisch-bairischen Kolonien bedeuteten. Ab Ende des 9.Jh.s. eroberte das nomadische Reitervolk die ehemaligen fränkischen Gebiete in Windeseile, da die Franken nicht mehr in der Lage waren, ihre eigene Bevölkerung schützen zu können. Mit der Schlacht bei Pressburg 907 behaupteten sich die Madjaren in Pannonien und Mittelungarn endgültig und die fränkisch-bairischen Siedlungen wurden größtenteils vernichtet, der überwiegende Teil der Baiern hinterließ sein Hab und Gut und floh nach Österreich (im heutigen Sinne).

In der Zwischenkriegszeit agierte der österreichische Germanist Walter Steinhauser (1885-1980) als größter Verfechter der These der karolingischen Kontinuität: Steinhauser behauptete, dass die karolingische bairische Bevölkerung wahrscheinlich auch nach der madjarischen Landnahme zumindest teilweise bestand, da viele Ortsnamen aus der Zeit erhalten geblieben seien (wie Odinpurch-Ödenburg, Miesingenpurch-Wieselburg, usw.). Es ist nicht zu bestreiten, dass das Siedlungsgebiet von den Madjaren größtenteils vernichtet wurde, aber einige Überreste der bairischen Bevölkerung in der südburgenländischen Hügellandschaft und auf dem morastigen Gelände dem feindlichen Sturm trotzen konnten. Steinhausers ungarischer/madjarischer Widersacher, der ungarndeutsche Germanist und in Deutsch-Westungarn geborene Elmar Moór (Moór Elemér, 1891-1974), bestritt zwar viele Behauptungen der Theorie seines österreichischen Kollegen, aber auch er gab zu, dass diese kleineren bairischen Volkselemente auch nach 895-907 inselhaft höchstwahrscheinlich erhalten blieben, wo sie natürlichen Schutz vorfanden (Hügel, Wald, Morast). Neben dem Südburgenland suchten österreichische Historiker im Lutzmannsburger Gebiet nach karolingischen Überresten: Der spätere Sitz der hiesigen Gespanschaft – die mittelalterliche deutsche Marktstadt Lutzmannsburg (ung. Locsmánd) – sei das Zentrum des westmittelpannonischen fränkisch-bairischen Landesausbaus gewesen, der ganz bis zur Raab reichte (These von Fritz Zimmermann). Laut den Österreichern gebe es zahlreiche karolingische Ortsnamen um Lutzmannsburg herum, die auch in den späteren Jahrhunderten, also im 10 – 11.Jh. verwendet wurden.

Das heutige österreichische und ungarische Historikerkolleg scheint damit einverstanden zu sein, dass die karolingische Kontinuität (zumindest) inselhaft vorstellbar ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit hielten sich diese kleineren, isolierten bairischen Siedlergruppen im heutigen Süd- und Mittelburgenland auch im 10. Jh. Später nach der Gründung des Königreiches Ungarn im 11.Jh. bildeten sie einen gewissen Anteil der Ethnogenese der Deutschen in Westungarn, die während der zweiten großen Siedlungswelle der bairisch-österreichischen Hospes-Kolonisten im 11. Jh. um weitere deutsche Elemente vermehrt wurden. Wenn wir die Karolingerthese annehmen, dann könnte das deutsche Wesen in Pannonien und Ungarn mit den karolingischen bairischen Vorvätern am Alpenrand auf eine zirka 1200-jährige Anwesenheit zurückblicken. Es mag stimmen, dass die karolingische Kontinuität historische Realität war, aber in der zeitlichen Entfernung von 1200 Jahren kann man wenig wissenschaftlich feststellen und der Mangel an schriftlichen Quellen aus der Zeit erschwert noch weiter ein realistisches Urteil zu fällen.

Wie tief verwurzelt das karolingische Identitätsbewusstsein bei den Westungarndeutschen und Burgenländern war, stellt das vom Ödenburger deutsch-heanzischen Volkstumspolitiker Alfred Wahlheim verfasste Gedicht aus dem Jahre 1918 auf gravierende Weise fest:

Heinzenland, Burgenland”, 2. Strophe:

„Deine Flur hat sich einmal,

Unterm Eisenschritt des großen Karl gebogen,

Seiner Stimme Schall,

Haben deine Lüfte eingesogen,

Sie bewahren ihn für alle Ferne,

Mauer, Turm und Tor,

Wuchs zur Frankenburg empor.”

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