Sandra Fuchs, Leiterin der Lochberg-Tanzgruppe, im großen SB-Interview
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SB: Ihr wart im Juli bei der Europeade – wie wird man als Kulturgruppe ausgewählt?
SF: Man muss sich anmelden und nachher einen komplexen Registrationsprozess online absolvieren. Es sind diverse Fragen bezüglich der Gruppe, die man beantworten muss, und viele Daten müssen auch angegeben werden. Bei dem Festival gibt es aber eine strenge Begrenzung der Teilnehmerzahl. Wenn diese bei den Voranmeldungen erreicht wird, nimmt die Europeade keine Teilnehmer mehr auf. Die Regeln sind streng und es braucht eine erfahrene, mehrsprachige Gruppenleitung, aber Anmeldungen werden ohne weiteres empfangen.
SB: Welche Aktivitäten habt ihr vor Ort entfaltet und mit welchen Eindrücken seid ihr heimgekehrt?
SF: Die Europeade fand bei unseren Mitgliedern eine durchschlagende Resonanz. Das letzte Mal haben wir 2015 an der Europeade in Helsingborg teilgenommen. Das haben noch viele Mitglieder nicht miterlebt. Jedes Jahr findet die Europeade in einer anderen europäischen Stadt statt. So ist es leicht diverse Kulturen, Nationen und Nationalitäten kennen zu lernen. Und wie es bei der Europeade heißt: „Wir setzen uns dafür ein, unser immaterielles Kulturerbe zu schützen und zu erhalten. Dazu gehören Musik, Tanz, Gesang und Tracht. Zu diesem Zweck kommen wir jedes Jahr fünf Tage zusammen, um uns über Tanz, Gesang und Musik mit unseren Freunden und dem Publikum auszutauschen”.
Dieses Jahr wurde die Europeade von der Stadt Gotha zusammen mit dem Thüringer Landestrachtenverband e.V. veranstaltet und war meiner Meinung nach eine der drei besten Europeaden, die wir je erlebt haben. Die Organisatoren, die Führung der Stadt, die Freiwilligen, die Vereine des Bundeslandes, die Medien, die Dienstleister, die Stadtbewohner und die Institutionen der Region gaben und leisteten ihr Bestes. Ich kann nur sagen, es war ein würdiges, europäisches Fest der Volkskultur und der Völkerverständigung. So sollte es immer sein. Jeder zeigte Respekt, Neugier und Offenheit gegenüber anderen Kulturen. Man spürte, dass wir nicht nur von dem Publikum, von dem internationalen Europeade-Komitee und von den anderen Teilnehmern geschätzt werden, sondern auch vom Oberbürgermeister von Gotha, Knut Kreuch, der die Festivalgemeinde mit dem „Europeade Regie-Team“ zusammenhielt, uns immer gesondert grüßte und seine „Freunde aus Ungarn“ nannte. Sogar der ungarische Botschafter Dr. Péter Györkös folgte der Einladung nach Gotha, um die aus Ungarn teilnehmenden Gruppen offiziell am Rathaus zu begrüßen.
Ich meine, in Ungarn könnte man sich hinsichtlich Wertschätzung seitens der Gesellschaft noch weiterentwickeln. Die Arbeit, um die deutsche Kultur, Sprache und Gemeinschaft zu erhalten, wird immer schwieriger. Es war aber kraftgebend die oben genannten Werte in Gotha zu erfahren.
Über die Aktivitäten könnte man vieles schreiben, aber hervorzuheben ist vielleicht die Eröffnungsveranstaltung, wo die Nationen, Nationalitäten oder Gemeinschaften einer Region gemeinsam tanz(t)en. So hatten wir Deutsche aus Ungarn einen gemeinsamen Tanz vorbereitet. Herzogendorf/Mezőfalva, Werischwar/Pilisvörösvár und Schambek tanzten mit der musikalischen Begleitung von den „Spitzbuben” und der Kapelle „Bergländer Buam“ gemeinsam auf drei Bühnen im riesengroßen Stadion. So haben wir unseren Gruß an Europa überreicht. Es waren einmalige Momente.
Darüber hinaus wurde unsere Gruppe zu verschiedenen Aktivitäten neben den Auftritten ausgewählt. Wir konnten so die Deutschen aus Ungarn bei dem Kinder- und Jugendtanzfestival auf der Hauptbühne und bei dem europäischen Kindervolkstanzprojekt vertreten. Letzteres war einmalig. Denn alle Kinder aus den teilnehmenden Gruppen versammelten sich während der Europeade zu einer gemeinsamen Tanzprobe. Das bedeutet die Teilnahme von etwa 1000 Kindern, die eine Auswahl von deutschen Volkstänzen einüben und bei der Abschlussveranstaltung gemeinsam vorführen. Laut Angaben der Stadt Gotha erlebten etwa 100.000 Menschen die Aktivitäten des fünftägigen Festivals mit. Am Samstag traf man sich zu einem weiteren Höhepunkt, dem Festumzug mit ungefähr 200 Gruppen, der sich auf einer Länge von 3,5 Kilometern durch die Stadt zog.
Im nächsten Jahr findet die Europeade in Nuoro auf Sardinien statt. Genau vor 20 Jahren habe ich meine erste Europeade in dieser Stadt erlebt. Von da an kann ich mich eine gute Freundin der Europeade nennen. So wird man genannt, wenn man einmal auf einer Europeade teilnimmt und den Grundgedanken des Festivals in Ehren hält. Diese Benennung verbindet uns aus ganz Europa und wenn wir uns jährlich für fünf Tage treffen, treffen sich wahre Freunde.
SB: Deutschsein äußert sich auch auf anderen Gebieten: Lobenswerterweise kommuniziert ihr mit der Öffentlichkeit vornehmlich deutsch (bzw. zweisprachig) – wie kommt es bei euren Fans, Followern, an?
SF: Im Jahre 2012 waren wir unter den ersten deutschen Gruppen in Ungarn, die auf Facebook zweisprachig kommunizierten. Das kommt bei unseren Fans gut an, da wir viele Follower aus Deutschland haben, aber die Arbeit ist natürlich nicht immer einfach, z. B. bei längeren Texten, der Erstellung von Plakaten usw. Ich sage immer, dass wir für unsere Volksgruppe doppelt arbeiten. Und manche wissen nicht, dass hier zu 100 % Gemeinschaftsarbeit geleistet wird. Das macht man freiwillig und ohne Vergütung. Das sollte man schätzen und in Ehren halten. Ich betreibe nur die sog. Hauptkommunikationsseite der Lochberg-Tanzgruppe auf Facebook, aber wir haben auch eine Instagram- und eine TikTok-Seite. Da diese von jungen Mitgliedern der Gruppe gepflegt werden, die sich öfters in diesen Aufgabenbereich abwechseln, kommt es nicht immer an, dass die Kommunikation zweisprachig sein sollte.
SB: Die Lochberg Tanzgruppe ist in Region Nord eine ähnliche Institution wie beispielsweise die Saarer Tanzgruppe – erzähle bitte ein wenig über die Tanzgruppe.
SF: In der Lochberg-Tanzgruppe wird großer Wert auf die authentische Erscheinung gelegt. Mein Gründungsprinzip war, die Kultur der Deutschen in Schambek und Umgebung zu bewahren. Hier möchte ich meine geliebte Urgroßmutter Maria Brenner, verehelichte Horváth (1911-2006) erwähnen. Ihr wertvolles Wissen wollte ich in der Tanzgruppe weiterleben lassen. Meine Familie durchwob die „schwäbische“ Kultur von beiden Seiten. Ich wurde in Schambek in einem 300 Jahre alten Haus noch so erzogen, dass ich die Sprache (Dialekt), die Traditionen und die Lebensauffassung meiner Vorfahren erlernen konnte. Dafür bin ich meiner Familie sehr dankbar. Mein Vater stammt aus Maan/Mány aus der berühmten Familie Fuchs. Für unsere Volksgruppe zu arbeiten, war für meine Familie schon immer eine Selbstverständlichkeit. So habe ich mit 19 Jahren die Notwendigkeit erkannt, eine Tanzgruppe mitsamt einem Kulturverein für Jugendliche der Region zu gründen, denn es gab leider keine in Schambek. Ich wollte aber unseren Verein immer so gestalten, dass man durch diesen alten Werten Zukunft schaffen könne. Daher auch unser Wahlspruch: Freude-Tradition-Zukunft.
Die Mitglieder stammen nicht nur aus Schambek, sondern aus der ganzen Region. Das war schon immer so, deswegen führen wir im offiziellen Namen der Gruppe das Attribut „regional“ mit. Wie das mit dem Lochberg zusammenhängt, werde ich später erzählen.
Über den Sprachgebrauch könnte ich als begeisterte Sprachwissenschaftlerin seitenlang philosophieren, aber was ich hervorheben möchte, ist, dass auf den Dialekt in der Gruppe sehr geachtet wird. Wir benutzen den Schambeker Dialekt oft, wir haben Choreografien, bei denen wir in der Mundart singen und reden. Auch die ganztägige „Schambeker Schwäbische Hochzeit“ wird hauptsächlich in der örtlichen UA-Mundart vorgeführt. Es gibt auch Liederabende im Brenner-Haus, wo Volkslieder im Dialekt erlernt werden und viel über den Dialekt diskutiert wird. Da in Schambek nach der Vertreibung nur wenige deutsche Familien geblieben sind (die Vertreibungsrate lag bei 95% der Bevölkerung), wäre es schwierig die Proben nur auf Deutsch zu halten. Aber die deutsche Kultur ist immer präsent, darauf wird streng geachtet, dass zu den Choreografien der volkskundliche Hintergrund auch erklärt wird. Es sind Projekttage, Veranstaltungen und Traditionen, die wir der deutschen Volkskultur in Ungarn widmen.
Aber wir müssen auch in die Zukunft blicken. Und ich weiß genau, dass ich dabei mit einem guten Beispiel vorangehen muss. So war mir ein Herzensanliegen an meinen Sohn das weiterzugeben, was ich auch von meiner Urgroßmutter erlernt habe. Der allererste Schritt war, dass ich ihm deutsche Märchen vorgelesen habe, und jetzt ist er ein festes Mitglied der Tanzgruppe – mit derselben Begeisterung und demselben Engagement wie seine Mutter in ihrer Jugendzeit.
SB: Woher kommt eigentlich der Name „Lochberg”?
SB: Der Lochberg ist der Hausberg von Schambek (316 m ü.M.), an dessen Fuße unsere Stadt, aber auch Deick/Tök und Perwall/Perbál liegen. Aber wenn Du den Berg besteigst und von oben in die Ferne schaust, kannst du fast alle Siedlungen des Schambeker Beckens und auch die Ofner und Pilischer Berge sehen. Es erstrecken sich im Becken überwiegend ehemalige „deutsche Dörfer“, die man vom Lochberg aus alle gut sehen kann. Der Kalkstein des Lochberges wurde seit Menschengedenken abgebaut. Viele Häuser im Schambeker Becken wurden aus diesem Stein gebaut, es stehen aber auch tausende deutsche Grabsteine verstreut in den Friedhöfen der Gegend, die von berühmten Schambeker Steinhauermeistern angefertigt wurden und aus den Steingruben des Lochberges stammen.
Daher, dass unsere Gründungsmitglieder aus diesen Siedlungen stammen, die sich in dem von dem Lochberg gekrönten Schambeker Becken erstrecken, haben wir den Namen „Lochberg“ für unsere regionale Gruppe gewählt. Denn so einen Berg gibt es keinen zweiten in der Nähe.
SB: Genauso wie die Tanzgruppe so ist der Name Sandra Fuchs für viele bekannt und wohlklingend – für diejenigen, die dich noch nicht kennen: Erzähl bitte ein wenig über dich. Welche Funktion bekleidest du in der Tanzgruppe Lochberg aus Schambek/Zsámbék?
SF: Mit 39 blicke ich glücklich zurück, denn ich habe bis jetzt einen typischen, aber auch aktiven ungarndeutschen Lebensweg gehabt. Nach dem Studium habe ich 10 Jahre lang bei einer deutschen, multinationalen Firma gearbeitet. Als Beruf habe ich nach zwei Diplomen die Führungskräfteentwicklung (Executive Coach) gewählt. Aber mein Germanistikstudium an der Uni ELTE prägt mein Leben. Ich halte oft Vorträge zu (ungarn)deutschen Themen, führe verschiedene Projekte im Bezug zu unserer Volksgruppe durch und bin eine aktive Forscherin, was die deutsche Volkskunde in Ungarn betrifft.
Ich bin auch sehr stolz auf meine wunderschöne Familie, denn ohne ihre Unterstützung könnte ich das alles nicht unter ein Dach kriegen.
In der Tanzgruppe habe ich mehrere Funktionen. Ich bin die Vorsitzende des Vereins, Choreografin und Leiterin der Gruppe. Und neben den vielen Projekten, Tourneen und Veranstaltungen, die von mir organisiert werden, habe ich auch die Aufgabe kulturdiplomatische und Marketing-Angelegenheiten zu betreiben. Da ich auch Kulturmanagement und Kommunikation studiert habe, sind diese Sachen mir am liebsten, da die vielen administrativen Verpflichtungen an der Spitze eines so großen Vereins so zu schaffen sind.
SB: Du schreibst deinen Namen als Sandra, benutzt daher offiziell die deutsche Namensvariante – ich nehme an, es war sicher eine bewusste Entscheidung, oder?
SF: Ich sage immer, dass meine Eltern den perfekten deutschen Namen gewählt haben. Ich konnte meinem Schicksal nicht entfliehen (wollte auch nicht). Viele, die mich kennen, wissen überhaupt nicht, dass ich offiziell Szandra Titanilla Fuchs heiße. 1984 wurde ich so in Ungarn registriert. Ich meine aber, dass die Wurzeln meiner Identität in meinem Namen und im örtlichen Dialekt zu finden sind. Als Dialektsprecherin habe ich mich immer (von Kindesbeinen an) so betrachtet, als hätte ich einen alten Schatz inne. Und ich denke oft nach, welche Rolle die dialektalen Sprüchlein und Lieder, die ich in meiner Kindheit von meiner Urgroßmutter erlernt habe, in meiner späteren Identität spielten.
SB: Ihr kommt aus Schambek – ich weiß aus den Geschichtsbüchern und den Erzählungen der einstigen Schambeker Lehrerin – des „Urgesteins“ – Maria Donovitz, dass die deutsche Bevölkerung der Gemeinde fast vollständig vertrieben wurde – wie schwer ist es daher die deutschen Traditionen zu pflegen?
SF: Ja, die Schambeker deutsche Bevölkerung wurde 1946 zu 95 % vertrieben. Das war ein sehr großer Verlust, was die Deutschen in der Gemeinde betrifft. Trotzdem haben die Verbliebenen stets zusammengehalten. Die Schambeker waren immer stark, was ihre Gemeinschaft betrifft. Um einige wichtige Persönlichkeiten zu nennen: Hans Faul-Farkas war z.B. Redakteur des Sonntagblatts, Dr. Hans Sauter wurde Vorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn (LDU) in Deutschland, Pater Martin Anton Jelli hat eine musterhafte und einzigartige Monografie über Schambek zusammengestellt und hat die Vertriebenen (die Schambeker wurden auf 110 Gemeinden in 4 Regionen in Deutschland verteilt) zusammengehalten. Dr. Elisabeth Hajdu unterrichtete und forschte an der ELTE und schrieb wichtige, wissenschaftliche Arbeiten über die Kultur der Schambeker. Und nicht zuletzt Maria Donovitz, die eine der Vorreiterinnen des deutschen Unterrichts im ganzen Lande war!
Aus so einer Gemeinschaft komme ich auch her, obwohl ich viel später geboren wurde. Aber mir wurde mit gutem Beispiel vorangegangen.
Und ob es schwer ist, die deutschen Traditionen zu pflegen? Natürlich ja! Die sind nicht mehr selbstverständlich. Der neuen Generation sind sie sogar fremd. Sprache, Identität und Tradition gehören in unserer Volksgruppe zusammen. Alleine können sie nicht existieren. Aber hier ist auch das eigene Beispiel sehr wichtig. Solange ich lebe, werde ich die von meiner Urgroßmutter erlernten Traditionen und die Sprache beibehalten. Und mich interessiert es nicht, ob ich damit die Einzige oder gar die Letzte bin.
SB: Viele Kulturgruppen beklagen sich über Nachwuchsprobleme – wie sieht es bei euch aus?
SF: Da die Lochberg-Tanzgruppe fachlich sehr bewusst aufgebaut ist, haben wir kein Problem mit Nachwuchs. Die Prozesse innerhalb der Gruppe sind geregelt und auch ich als Leiterin bilde mich immer weiter, obwohl ich an der Universität Corvinus Führungswissenschaft studiert habe. Wie es so schön heißt: Du kannst nicht immer alle Situationen gut managen, aber Du kannst Dich auf die nächste gut vorbereiten.
Ich glaube, das war eigentlich das Wesentliche, warum wir vor 20 Jahren aus dem Nichts eine Gruppe aufbauen konnten, welche 2019 auf dem FOLKLORE-WELTCUP den silbernen Preis gewonnen hat. Für mich ist es auch heute unglaublich, dass wir uns mit unseren deutschen Tänzen aus dem Ofner-Bergland und in unseren Schambeker Trachten vor der ganzen Welt, vor den besten Folkloregruppen präsentieren konnten. Und die Silbermedaille gewonnen haben, als beste europäische Tanzgruppe!
SB: Die ungarndeutsche Identität ist im Wandel – wie siehst du persönlich diesen Prozess? Wo werden wir in einigen Jahrzehnten stehen?
SF: Ich frage mich immer, ob es genügend war, was man in den letzten Jahrzenten in diesem Bereich getan hat?! Hätte man vielleicht mehr schaffen können?
Ich bin mir ganz sicher, dass sich viele wohlbekannte Definitionen, welche unsere Volksgruppe bisher charakterisiert haben, verändern werden. Wir sollten uns in der Zukunft mit den Begriffen „Zusammenarbeit“ und „Diskussion(skultur)“ besser vertraut machen. Und ich würde mich freuen, wenn wir uns im Interesse des Ungarndeutschtums auch mit unseren „kleinen” Problemen an die entsprechenden Personen wenden könnten und für kleine Probleme der örtlichen Gemeinschaften eine optimale Lösung gefunden werden könnte. Denn diese Gemeinschaften sind die Ziegelsteine in der Burg unserer Volksgruppe. Meiner Ansicht nach kann man nur so eine prosperierende Zukunft für die Deutschen in Ungarn schaffen.
Beitragsbild: Botond Dávid / Europeade