Von Prof. Dr. Zoltán Tefner
Errare humanum est – lautet das Sprichwort der alten Römer. Nicht anders ist es jedenfalls in der Volkskundeforschung und in der Ortsgeschichte. Manchmal ist es eine Sache von Missverständnissen: Die interwievten Augenzeugen sagen etwas und das Gesagte wird vom Forscher falsch verstanden. So ist es auch im Falle der Herkunftsgeschichte von Kötsching: Biebreau–Biebergau. Der Unterschied besteht nur aus einem Laut, aber dieses Verhören brachte die Forschung auf Irrwege. Der Autor dieses Artikels hat das Wort Biebergau schon als kleines Kind von seinem Großvater Johann Tefner das erste Mal gehört. „Der Uropa war einst ein Dorfschultheiss.” – nur so viel und nicht mehr. Unheilvoll war dieses Missverständnis, aber allerdings verständlich. Und die Folge dessen? Als in den 1990er Jahren die Gemeinde Kötsching mit den Forschungen zur Dorfmonographie angefangen hatte, schlug der Schreiber dieser Zeilen den Weg nach irgendeinem Ort mit dem Namen Groß-Bieberau in Hessen ein. Selbstkritisch eingestehen war diese Richtung von der Quelle an falsch, aber nicht in jeder Hinsicht. Wie alle Forscher, hat man begonnen, Theorien aufzustellen, warum diese hartnäckig verlautete Auffassung über die thüringische Herkunft die öffentliche Meinung beeinflussen konnte. Nun machen wir eine dieser Theorien publik. Nicht deshalb, weil sie so spannend und interessant ist, sondern auch deswegen, weil eine gewisse Logik in der Tiefe der im Grunde genommen falschen Auffassung trotzdem steckt. Man verstößt außerdem gegen die Moral der wissenschaftlichen Forschung, wenn man die eigenen begangenen Fehler verheimlicht.
So steht es in der Kötschinger Dorfmonographie geschrieben: „An der Straße von Groß-Bieberau nach Fränkisch-Crumbach, am Wersauer Weg, an der Abzweigung nach Niedernhausen, steht ein etwa zwei Meter hoher „menhirartiger” Stein (archäologischer Name: menhir) tief und unbewegbar in der Erde eingebettet. Solche und ähnliche Steine heißen im Volksmund „Sauerkrautstein”. Diese Steine werden allerdings in historischen Vorzeiten ganz anderen Zwecken gedient haben. Seine äußere Form zeigt nichts Besonderes, auf der Spitze des Steines sieht man nur eine kleine waagerechte Ebene, in die eine Rinne geschliffen wurde, um das abtropfende Blut abzuleiten. Laut Groß-Bieberauer Auslegungen (Eichner) könnte der angesprochene Stein bei Opferfeiern, Totenfeiern, Heldenehrungen und Rechtsprüchen eine Funktion gehabt haben. Diese Steine hätten seit dem späteren Bronzezeitalter (1200-800. v. Chr.) bis zur Aufnahme des Christentums (nach 700 n. Chr.) als Opfersteine benutzt werden können. Oben erwähnte Quellen – obwohl mangels konkreten archäologischen Beweismaterials – behaupten, dass hier Tier- und – es ist nicht ausgeschlossen – auch Menschenopfer dargebracht wurden.
Der Regionalhistoriker Wilhelm Eichner bedenkt den Stein mit manch interessanten Auslegungen und Zusammenhängen (Aus der Geschichte und Vorgeschichte des Kirchspiels Groß-Bieberau. In: 1200 Jahre Groß-Bieberau. Beiträge zu seiner Geschichte. Groß-Bieberau, 1987). Verwendet man die Aufzeichnungen der Groß-Bieberauer evangelischen Kirchspielchronik, so wird darin der Zustand auf diesem Gelände in den 1850er Jahren beschrieben, als in diesem Waldstrich noch die Reste einer kleinen Waldkapelle zu sehen waren, die jetzt zugeschüttet sind. Die Kirchenchronik berichtet uns noch über einen kreisförmigen Platz mit 50 Meter Durchmesser, etwa 150 Meter von diesem abgerissenen Gebäude; dieser Zirkel wurde mit Sandsteinen umstellt, um ihn vom umliegenden Gelände abzugrenzen. Heute sind diese großen Sandsteine nicht mehr zu sehen; der Platz ist jetzt mit Fichten bewachsen. Die Anwohner nennen diesen – obwohl es hier weder eine Wiese noch eine Kapelle gibt – »Kaplaneiwiese«. Die Kirchenchronik von 1850 hält fest: »Hier wurde vor Zeiten im Freien ein großer Jahrmarkt gehalten, der von den Ortschaften der ganzen Umgegend stark besucht und der Märtensmarkt genannt wurde.«”
Und so geht es in „Kötcse monográfiája” ungarisch weiter. „Wir haben also einen Stein aus prähistorischer Zeit, ein höchstwahrscheinlich für kultische Zwecke abgegrenztes, kreisförmiges Feld und eine durch das christliche Zeitalter hervorgerufene katholische Kirchenanstalt. Eichner hält das Feld für einen magischen Zirkel und vermutet darunter einen Urnenfriedhof aus der Bronzezeit. Die Abgrenzung durch Steine signalisierte die Abgrenzung des Kultischen und Religiösen vom Profanen. Den kultischen Charakter erhielt dieses ca. 50 m breite Waldstück durch den Totenkult, der am Ende der Bronzéit in ganz Europa verbreitet war und der vorschrieb, dass die Ruhestätten, wo sich die Asche der Ahnen befand, irgendwie markiert werden musste.
Eichner nimmt an, dass diese Steine und Urnenfelder auch Versammlungsstätten gewesen sein könnten, wo die Stämme und Sippen von Zeit zu Zeit zu den Totenfeiern, zu Opferfeierlichkeiten vor den Kriegen bzw. zu Heldenfeiern nach den Kriegen zusammenkamen. Nachdem die germanischen Stamme im 2. Jahrhundert n. Chr. angekommen waren, gingen diese Versammlungen weiter. Die Germanen hatten ähnliche Stammes- und Sippenverbände und sie benutzten diese kultischen Anlagen für ihren eigenen Ahnenkult. Wenn unter der Kaplaneiwiese am Wersauer Weg sich wirklich ein Friedhof versteckt, so ist man berechtigt, von dieser historischen Kontinuität zu sprechen.
Wir müssen aber der Frage nachgehen: Wozu diente eine einsame christliche Kapelle nach 800 inmitten eines Waldes und dazu umgegeben von heidnischen Requisiten? Eichner beruft sich auf ein von Karl dem Großen geschaffenes, wohlbekanntes Gesetz, das besagte, dass „überall dort, wo an heidnischen Steinen gebetet und geopfert wurde, Kapellen oder zumindest Kruzifixe zu errichten seien. Seitens des christlichen Herrschers war dies ein allgemein praktiziertes Mittel für die Liquidation der alten heidnischen Welt – nicht nur in der karolingischen Zeit: Auch die ersten Arpaden in Ungarn ergriffen diese Art der Bekehrung des heidnischen Ungarn. Das Wesentliche dieser Methode bestand darin, dass auf die heidnischen feierlichen Riten jene des Christentums hatten aufbauen müssen, wodurch die heidnischen Riten sozusagen kampflos verschwanden und so ihren Platz den neuen christlichen übergaben. Wenn man sich all diese Befunde anschaut, kann man nur daraus folgern, dass hier in der Blütezeit der Karolinger, zwischen 700 und 800.n. Chr., heidnische Zeremonien stattgefunden haben mussten.
Eichner setzt seine Abhandlung mit der Beschreibung der frühmittelalterlichen konfessionellen Verhältnisse fort. Groß-Bieberau war auch in der Karolingerzeit bekannt, es wurde erstmals 782 urkundlich erwähnt. Die Gemeinde gehörte zwischen 780 und 782 der Kirchenprovinz Mainz an und war dem Archidiakonat Aschaffenburg unterstellt. Dieses Archidiakonat gliederte sich in weitere drei Einheiten (Landkapitel): Taubergau, Rodgau und Montat. Die Pfarrei Sankt-Michael in Groß-Bieberau und seine amtliche Umgegend (Kirchspiel) war dem Landkapitel Montat unterstellt, dessen Sitz sich in dem naheliegenden Groß-Umstadt befindet. Die kirchliche Hierarchie ist streng in ihren Details umrissen, weswegen wir sie ob ihrer soziodynamischen Aus-Wirkungen für außerordentlich wichtig erachten.
Die Zusammengehörigkeit innerhalb einer Diözese führte zu einer gewissen Zusammenarbeit unter den Menschen und Menschengruppen, so kam es bis zu Bekanntschaften, die gewissermaßen das gemeinschaftliche Bewusstsein hoben. Groß-Bieberau hatte solcherart mit den Gegenden um das pfälzische Mainz bis zum Mainknie bei Aschaffenburg in ständiger Beziehung stehen können, und die Geschehnisse des alltäglichen Lebens konnten so auch zusammenfließen und ausgetauscht werden. Außerdem übte Bieberau als Unteramt eine Funktion in der kirchlichen Organisation über Jahrhunderte hinweg aus: Es war das für unsere Abhandlung so wichtige Bieberauer „Kirchspiel”, worunter man einen kirchlichen Kreis versteht, der aus acht Filien besteht: Rodau, Lichtenberg, Obernhausen, Niedernhausen, Nonrod, Meßbach, Billings und Steinau.
Die Sankt-Martins-Jahrmärkte wurden von den Bewohnern dieser Gemeinden besonders gerne und sehr zahlreich besucht, wobei anzunehmen ist, dass sicher auch Einwohner aus Groß-Umstadt, Reinfels und aus Gebieten oberhalb des Rheins aus der Pfalz kamen. Allenfalls konnten 30-40 Gemeinden bei diesen Feierlichkeiten zusammenkommen, die natürlich auch in einem kirchlich-zeremoniellen Kontext standen. Nach dem Anschluss an die lutherische Reformation nach 1520 hatte die Bieberauer Mutterkirche, die „Nachfolgeanstalt” der versunkenen katholischen Welt, diese schöne Sitte am Martinstag weitergeführt, selbstverständlich mit jenen Folkloreelementen, die in der Karolingerzeit gar keine Folkloreelemente gewesen waren, sondern heidnisches Zeremoniell blutigsten Ernstes darstellten. Die kirchlichen Aufzeichnungen in Groß-Bieberau geben davon Kunde, dass der Martinstag und die mit ihm verbundene Volksversammlung noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich war und sie könnte demzufolge 1723, zu Beginn der ersten Aussiedlungen, in ihre vollsten Blüte gestanden haben.”
Und im Weiteren möchte der Schreiber dieses Artikels die Aufmerksamkeit der netten Leser auf vielleich noch interessanteren Einzelheiten lenken. (Fortsetzung folgt)