Eine evangelische Gemeinde im Wandel der Zeit

Im Gespräch mit dem Jerkinger Ortshistoriker Johann Brunn

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SB: Herr Brunn, Sie sind als Ortshistoriker gewissermaßen ein Jerkinger Urgestein – erzählen Sie bitte ein wenig über sich selbst, Ihren Werdegang, aber auch über Ihre Familie!

JB: Ich bin 1947 in Jerking/Györköny geboren. Meine Eltern waren beide deutscher Abstammung. Mein Vater war damals ein selbständiger Landwirt. Nach der Kollektivierung wurde er zum Vorsitzenden der sogenannten „Schwaben”- LPG des Dorfes gewählt. Es war damals eine wahre Herausforderung, um den anderen LPGs zu zeigen, dass die deutschen Mitglieder auch in der Kollektivwirtschaft erfolgreicher sind. Meine Mutter arbeitete im Haushalt oder in der persönlichen Hauswirtschaft der LPG. Nach der Grundschule besuchte ich den deutschen Klassenzug des Klara-Leöwey-Gymnasiums in Fünfkirchen. Nach dem Abitur absolvierte ich an der Universität in Segedin die Fächer Ungarisch und Deutsch. Ich unterrichtete bis zur Rente in derselben Mittelschule in Seksard und war jahrelang auch stellvertretender Direktor. Meine Frau war Lehrerin in der Unterstufe. Ihre Mutter war Ungarin, ihr Vater Deutscher und – obwohl sie die deutsche Sprache nicht beherrscht – hat sie eine sehr starke deutsche Identität. Sowie auch meine beiden Töchter.

SB: Sie beschäftigen sich mittlerweile seit Jahrzehnten mit der Geschichte Jerkings in der Tolnau – was hat Sie dazu geführt und was waren für Sie die wichtigsten Erkenntnisse über Ihr Heimatdorf?

JB: Mein Großvater mütterlicherseits sagte oft: Jerking ist der Mittelpunkt der Welt und alle Flurwege führen zur „Kellerhöhe” (Kellerberg). Der Satz ist dann auch mein Leitspruch geworden. Die Kellerhöhe, das „Dorf ohne Schornsteine”, hat mich schon immer angezogen. Dort konnte man im engen Kreis Geschichten über Ereignisse der Vergangenheit wie den Zweiten Weltkrieg oder die Vertreibung der Schwaben zu hören bekommen. Auch meine Familiengeschichte inspirierte mich dazu, der Geschichte des Dorfes eine tiefere Forschung zu weihen. Mein Urgroßvater väterlicherseits war Zimmermann und hat am Bau des Jerkinger Kirchenturms teilgenommen.

Meine Recherchen haben für mich folgende wichtige Erkentnisse gebracht. Einerseits hat es sich eindeutig bestätigt, dass Jerking im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu den ärmeren ungarndeutschen Dörfern gehörte. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte von der Landwirtschaft, das Dorf war aber übervölkert und die Besitzstruktur der Gemeindefläche war für die Mehrheit sehr ungünstig. Dies führte zu gewaltigen sozialen Unterschieden, zur Armut und zum Kampf um den Lebensunterhalt. Über diese rauen Lebensumstände ist ein Spruch erhalten geblieben: „Frau sterben, das kann den Bauern nicht verderben, Ross frecken, das kann den Bauern erschrecken.”  Anderseits musste ich leider auch feststellen, dass in meinem Heimatdorf am kulturellen Erbe und an alten Traditionen heute nur relativ wenig aufzufinden ist. Der ehemalige evangelische Pfarrer Johann Schmidt schrieb in seiner Rückerinnerung mit Bitterkeit erfüllt über seine Amtszeit zwischen den beiden Weltkriegen: „Ahnenerbe war nicht heilig, das deutsche Volkslied war verstummt. Sitten und Bräuche des Volkes der alten Heimat waren vergessen. Die Gemeinde ging der völligen Magyarisierung entgegen.” Diese Meinung ist zwar ein wenig übertrieben, aber es ist eine bedauerliche Tatsache, dass die Assimilation in dieser Periode in Jerking – insbesondere unter den Jugendlichen – in größerem Maße fortgeschritten war als in den geschlossenen deutschen Dorfgemeinschaften der Branau oder im Talboden (Völgység) in der Tolnau. Mehr als ein Viertel der deutschen Einwohner in Jerking haben laut der Volkszählung von 1941 neben der deutschen Sprache die ungarische Nationalität eingetragen. Die Mundart blieb also von dieser Tendenz verschont. Meine Generation hat noch den Jerkinger Dialekt als Muttersprache erworben, von meinem Vater habe ich aber kein einziges Lied in der Mundart erlernt – obwohl er gerne und oft gesungen hat. Auch meine eigene Erfahrung bestätigt die Behauptung von Johann Schmidt.

SB: Etwa 85-90 % der Ungarndeutschen sind katholisch (bzw. katholischer Abstammung). Die langläufige Meinung ist, dass die Habsburger in den zurückeroberten Gebieten bewusst Katholiken angesiedelt haben, was so nicht ganz stimmt. Welche Beweggründe standen hinter der Entscheidung, protestantische Hessen aus Darmstadt und Umgebung in die Tolnau (und speziell nach Jerking) einzuladen?

JB: Protestanten waren am Anfang der Neubesiedlung offiziell eigentlich unerwünscht. Manche Grundherren haben bei der Ansiedlung auch auf den Glauben der Kolonisten Rücksicht genommen. Sie haben   –  um den konfessionellen Zwist zu vermeiden  – Einsiedler nur mit derselben Konfession sesshaft gemacht. Es gab Grundherren, die nur Katholiken aufgenommen haben. Der Bedarf an Arbeitskräften hatte aber tolerante Grundbesitzer dazu bewegt, auch Protestanten auf ihre Grundbesitze zu locken. Während dem ersten Schwabenzug hat Graf Mercy, Kolonisator des Banats, – dem Willen des Wiener Hofes zuwidergehandelt – auf seinen Besitztümern in der Tolnau – in den Dörfern, die früher von Protestanten bewohnt waren – evangelische Deutsche aus Hessen angesiedelt. Auch andere Grundherren sind ihm gefolgt, unter ihnen auch János Meszlényi. Er hat zu den evangelischen Heidebauern aus Westungarn Lutheraner aus Hessen nach Jerking gebracht. In seinem urbarialen Vertrag (im Jahre 1722) hat er – ein Katholik – den Jerkinger Bauern eine freie Ausübung ihrer Konfession gewährt. Hinter den Entscheidungen der Grundherren standen also neben wirtschaftlichen Interessen auch rationale Beweggründe.

SB: Eine weitere interessante Episode stellte die Amerikaauswanderung Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts dar. Auch mit diesem Kapitel der Dorfgeschichte haben Sie sich beschäftigt – inwiefern hat dieses Migrationserlebnis das Dorf verändert?

JB: Darüber stehen mir nur spärliche Kenntnisse zur Verfügung. Von den Auswanderern sind nur einige Leute zurückgekehrt, die mit ihrem mitgebrachten Geld sich eine neue und erfolgreiche Existenz schaffen konnten. Einer von ihnen wurde später sogar zum Dorfrichter gewählt. Über ihre Erlebnisse sind in Jerking leider keine Dokumente vorhanden; ihre Erinnerungen sind auch mündlich nicht an die späteren Generationen überliefert worden. Wir wissen auch nicht, wie diese Erlebnisse auf die Daheimgebliebenen wirkten. Sicher ist nur, dass sich die Zusammensetzung der Einwohnerschaft der Gemeinde in dieser Periode allmählich verschlechterte: Die Zahl der von der Landwirtschaft lebenden Knechte und Landarbeiter beträgt im Jahr 1900 erst ein Viertel, 1920 schon die Hälfte. Diese Tendenz nahm in den 30er Jahren noch zu. Die Dorfgesellschaft hat sich also infolge der Auswanderung im Wesentlichen nicht verändert.

SB: Einen harten Einschnitt bedeuteten die Bevölkerungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg: Vertreibung, Bevölkerungstransfer, Ankunft der „telepesek” – welche Veränderungen brachte dies im Falle von Jerking?

JB: Die Nationalitätenstruktur des Dorfes hat sich mit der Vertreibung der Deutschen und der Neuansiedlung der Ungarn grundsätzlich verändert. Vorher waren mehr als 90% der Einwohner Deutsche, nachher machten sie nur die Hälfte aus, die andere Hälfte bildeten die Ungarn bzw. Madjaren. Die Neuansiedler aus dem Oberland („telepesek”) und aus Ost-Ungarn (bei uns „Tschangos genannt) haben – wie überall – die Häuser und Felder der Deutschen bekommen und übernahmen von Anfang an die Führung in der Gemeinde. Die Ansiedlungsinspektoren drängten den Gemeindevorstand in den Hintergrund und hatten die unbeschränkte Vollmacht im Dorf. Zwischen Deutschen und Ungarn (bei uns aus dem ung. Wort kuruc auch „Kruzen” genannt) entstand verständlicherweise Feindschaft und es kam zu Reibereien. Gegenseitig war man Spötteleien und Beschimpfungen gewohnt. Einerseits gab es die „dreckigen Schwaben”, anderseits die „lumpigen Tschangos”. Die Feindseligkeit unter den Jugendlichen endete im Dezember 1949 leider mit einem Mord. Von einem Ungarn wurde ein Deutscher getötet. Auch feindselige Zeitungsartikel über Jerking haben in den ersten Jahren das Zusammenleben vergiftet. Einer davon beschäftigte sich mit dem Konflikt zwischen ungarischen/madjarischen Reformierten und deutschen Lutheranern. Die unseligen Umstände veränderten sich nur sehr langsam, die Feindseligkeiten hörten erst nach Jahrzehnten auf.

SB: Nun sind wir in einer Zeit angekommen, die Sie als Nachkriegskind bereits (teilweise) bewusst erlebt haben. Wenn man auf die Nachkriegsgeschichte zurückblickt: Welche Veränderungen vollzogen sich in Jerking seit den 1950er Jahren, welche waren für Jerking spezifisch und wo sehen Sie Gemeinsamkeiten mit anderen Dörfern bzw. Landesteilen?

JB: In den 1960er und 1970er Jahren entwickelte sich langsam eine selbständigere Dorfführung, was auch zu eigenen Initiativen des Gemeinderats führte. Wichtige Modernisierungen wurden in diesen Jahrzehnten verwirklicht. Im Dorf wurde Strom eingeführt, eine Wasserleitung errichtet, Straßen und Gehsteige wurden ausgebaut. Zur Verwirklichung waren aber eine prosperierende LPG und der Fleiß der Einwohner unentbehrlich. (In einer Reportage in der Komitatszeitung im Jahre 1978 wurden Wohlstand, Sparsamkeit und Fleiß der Jerkinger nachdrücklich betont.) Außerdem war noch die Zusammenarbeit des Ratsvorsitzenden, des Parteisekretärs und des LPG-Vorsitzenden dazu nötig. Jerking gehörte zu den wenigen Dörfern, wo diese positive politische Konstellation der drei Machtbereiche charakteristisch war. Der Wohlstand der Einwohner ist auch infolge des zusätzlichen Einkommens aus der „zweiten” Wirtschaft gewachsen: Der Konsum nahm in allen Bereichen zu, die Wohnungen wurden modernisiert. Diese Tendenz war gewissermaßen überall im Lande wahrzunehmen. Während der alle drei Jahre möglichen Verwandtenbesuche in Deutschland erlebten viele Jerkinger im alltäglichen Leben der Vertriebenen auch wichtige Unterschiede zwischen dem Lebensniveau im Osten und dem im Westen, wodurch auch die Konsumwüsche sowie teilweise auch die politische Denkweise stark beeinflusst wurde. Diese Erfahrungen waren einem Ungarn nicht zugänglich.

SB: Die Evangelische Kirche(ngemeinde) spielte in der Vergangenheit – ähnlich wie bei den Siebenbürger Sachsen – eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der Identität – inwiefern hat sie für die verbliebenen Deutschen immer noch eine identitätsstiftende Funktion?

JB: Nachdem Pfarrer Johann Schmidt Ende 1944 infolge einer Bedrohung seine Kirchengemeinde verließ, hat sich die identitätsstiftende Funktion der Evangelischen Kirchengemeinde prinzipiell verändert. Danach wurden Gottesdienste nur in ungarischer Sprache gehalten. Von der Kanzel wurde dann jahrzehntelang nicht über die deutsche Identität und das Erhalten von alten Bräuchen gepredigt. Trotzdem spielte das Kirchenleben eine wichtige Rolle für die verbliebenen Deutschen, denn die Gottesdienste und Bibelstunden waren gute Gelegenheiten zur Stärkung und zum Zusammenhalten der Gemeinschaft.

Nach der Wende hat die Kirchengemeinde ihre Rolle bei der Bewahrung der deutschen Identität der Einwohner langsam wieder gefunden. Auf Initiative der örtlichen Deutschen Selbstverwaltung werden in den letzten 15 Jahren an den Nationalitätentagen zeitweise auch zweisprachige Gottesdienste gehalten. Am 60. Jahrestag des Beginns der Vertreibung der Jerkinger wurde an der Vorderseite der Kirche eine Gedenktafel feierlich eingeweiht und seitdem wird hier jedes Jahr am Gedenktag der Vertreibung nach dem Gottesdienst ein Kranz niederlegt. Viel mehr ist von der Kirche heute eigentlich nicht zu erwarten, denn die nacheinander folgenden Pfarrer waren – bis auf einen Seelsorger  –  der deutschen Sprache nicht mächtig und der Kirchengemeinde sind schon viele ungarische Mitglieder beigetreten. Eine muttersprachliche Seelsorge hat also heute keine Realität und es ist damit wahrscheinlich auch in naher Zukunft nicht zu rechnen. Die Kirche(ngemeinde) trägt also für die Jerkinger verbliebenen Deutschen vor allem eine wichtige symbolische Funktion des Daseins und Weiterlebens. Die praktischen identitätsstiftenden Funktionen übernahmen die Deutsche Selbstverwaltung und die Schule.

SB: Die deutsche Gemeinschaft in Ungarn ist stark von Assimilationstendenzen betroffen – die Sprache verschwindet aus den Familien, nicht zuletzt durch den immer größeren Anteil von Mischehen und das weitgehend fehlende deutsche Schulsystem mit muttersprachlichem Unterricht. Außerdem sind durch die Landflucht dörfliche Gemeinschaftsstrukturen seit Jahrzehnten am Verschwinden – ist Jerking vielleicht eine Ausnahme davon?

JB: Die Assimilationstendenzen verschonen leider auch Jerking nicht. Der Jerkinger Dialekt verschwindet mit der Nachkriegsgeneration endgültig, unsere Nachkommen werden diese Sprache weder sprechen noch verstehen können. Es ist eine unvermeidbare Nachwirkung des ungarischsprachigen sozialen und kulturellen Umfeldes, in dem wir seit vielen Jahrzehnten leben. Es bleibt also als identitätsbildende Alternative nur das Hochdeutsche. Dies haben unsere Eltern schon früh erkannt. Der Anspruch auf den Unterricht der deutschen Sprache kam in einer Elternversammlung im Oktober 1958 zum Ausdruck und im Januar 1959 hat man schon mit dem Unterricht der deutschen Sprache als zusätzliches Fach begonnen. Von den 1960er Jahren an war für viele Jerkinger Schüler das erwünschte Ziel der deutsche Klassenzug des Klara-Leöwey-Gymnasiums und im Jahrbuch des Gymnasiums zum 25. Jubiläum im Jahre 1981 ist zu lesen, dass während dieser Zeitspanne Jerking mit der Zahl der aufgenommenen Schüler hinter Fünfkirchen an der zweiten Stelle stand. 1971 wurde der Muttersprachunterricht auch im Kindergarten eingeführt und daraufhin wurde die Schule offiziell zu einer Einrichtung mit deutschem Nationalitätenunterricht. In den 1970er Jahren begann die Sammlung von alten Gegenständen der traditionellen deutschen Kultur, die dann 1983 im feierlich übergebenen Dorfmuseum ausgestellt wurden. Diese Initiativen bilden ein festes Fundament und haben eine entscheidende Wirkung auf die weitere Zukunft.

Auf die Gemeinschaftsstruktur des Dorfes wirkte sich aber in den letzten Zeiten neben den Mischehen und der Landflucht auch der Zuzug von vielen Madjaren negativ aus. Jerking hat infolge seiner ruhigen Lage und des berühmt gewordenen Kellerbergs eine besondere Anziehungskraft. Der Anteil der Deutschen erreicht zur Zeit nicht mehr die Hälfte der Einwohner, die Position und der Einfluss der Deutschen auf das Dorfleben sind aber viel stärker als ihre Anzahl. Trotz aller negativen Tendenzen ist Jerking noch immer ein „Schwabendorf” geblieben.

SB: Jerking ist schlechthin als Weindorf bekannt – welche Rolle spielt Weinbau heute noch im Wirtschaftsleben der Gemeinde?

JB: Bis zum Zweiten Weltkrieg war Weinbau für die meisten Einwohner von Jerking die Haupteinnahmequelle, die Anbaufläche von Weinreben betrug 1000 Hektar, im Weinkellerviertel gab es 450 Presshäuser und jeder Winzer hatte einen eigenen Weingarten. Heute stehen nur mehr 300 Presshäuser, die Rebfläche beträgt etwa 60 Hektar. Viele von den Kellern werden schon seit mehreren Jahren an Liebhaber der einzigartigen Atmosphäre und der guten Weine des Kellerviertels im Land weitum verkauft. Diese Besitzer benutzen ihre Presshäuser nur als Wochenendhaus. Die meisten örtlichen Winzer haben kleine Weingärten, die nur für die Befriedigung des eigenen Bedarfs dienen. Es werden in den letzten Jahren aus aufgekauften kleinen Weingärten immer größere Weinplantagen angelegt. Bei einigen Winzern wird auch Beherbergung angeboten. Der Weinbau allein ist aber in Jerking keine Haupteinnahmequelle mehr. Im Jahr 2006 wurde der Verein für den Jerkinger Kellerberg gegründet, dessen Mitglieder sich u. a. zum Ziel gesetzt haben, das architektonische Erbe des Kellerbergs zu pflegen und den Tourismus im Zusammenhang mit dem Kellerberg zu entwickeln. Heute gibt es jedes Jahr mehrere Veranstaltungen, die mit guten Weinen und lokalen Speisespezialitäten viele Gäste von nah und fern anziehen.

SB: Die Jahre 1994/95 brachten den Aufbau von eigenen Selbstverwaltungsstrukturen. Im Laufe der Zeit übernahmen die deutschen Selbstverwaltungen immer mehr Institutionen, so auch die DNSVW Jerking den Kindergarten und die Grundschule – welche Bilanz würden Sie nach fast 30 Jahren ziehen?

JB: Die seit 1994 funktionierende Deutsche Nationalitätenselbstverwaltung in Jerking hat in den vergangenen Jahrzehnten einen vorbildlichen Entwicklungsweg eingeschlagen. Die zivilgesellschaftliche Organisation hat schon am Anfang vielfältige Ziele zum Erreichen festgelegt. Es waren folgende Aufgaben zu bewältigen:

  • das lokale, deutsche Kulturerbe zu erforschen, zu pflegen, aufzubewahren und weiterzugeben,
  • den Deutschunterricht zu fördern sowie
  • eine Tanzgruppe und einen Chor zu gründen.

Den Rahmen für diese Arbeit bildete der ein Jahr später gegründete Jerkinger Verein für Traditionsbewahrung. Alle festgelegten Ziele wurden mit Hilfe des Vereins im Laufe der Jahre verwirklicht – was auch der engen und zielorientierten Zusammenarbeit mit der jeweiligen Gemeindeführung zu verdanken ist. (Die einander folgenden Bürgermeister sind seit der Wende bis heute deutscher Abstammung.) Seit 1997 gibt es eine blühende Partnerschaft mit der Ortschaft Eckartsweier (Baden-Württemberg), die für die Gemeinde Jerking eine wertvolle Kooperation bedeutet. Der Verein hat eine Reihe von Heften über die noch erhalten gebliebenen kulturellen Werte des Jerkinger Deutschtums veröffentlicht („So koch(t)en die Jerkinger”, „Die Jerkinger Tracht”, „Sitten und Bräuche in Jerking”). Dem Jerkinger Verein für Traditionspflege wurde für seine engagierte und erfolgreiche Tätigkeit 2012 der Titel „Die zivilgesellschaftliche Organisation des Jahres in der Tolnau” verliehen.

Das wichtigste Ereignis der letzten Jahre ist, dass auch in Jerking der Kindergarten und die Grundschule von der Deutschen Selbstverwaltung übernommen wurden. Die Deutsche Nationalitätenschule hat sich einen hohen Rang erworben und es kommen auch aus den umliegenden Dörfern mehrere Kinder in diese Schule, um an einem erweiterten deutschen Sprachunterricht teilnehmen zu können. Den Kindern im Kindergarten und den Schülern in der Grundschule werden natürlich auch deutsche Tänze, Bräuche und Lieder beigebracht. Die heute noch sehr starke Einsatzbereitschaft der lokalen deutschen Organisationen und Institute in Jerking gibt für unsere Gemeinschaft Hoffnung und Perspektive.

SB: Im Herbst fand die Volkszählung 2021 (bzw. 2022) statt, sie wird wieder schöne Zahlen liefern – wie sehen Sie die Zukunft der deutschen Gemeinschaft und wo würden Sie sagen, dass der Schuh drückt?

JB: Während der Volkszählung im Jahr 2011 ist in Ungarn die Zahl derer, die sich zur deutschen Minderheit bekannten, in jeder Hinsicht gewachsen. Im Zensus 2022 wird meiner Meinung nach die Zahl jener Personen, die sich zur deutschen Nationalität bekennen, noch ein wenig zunehmen, aber in den beiden anderen Fragen erwarte ich einen Rückgang. Einerseits merke ich, dass das Bewusstsein zur deutschen Volksgruppe zu gehören bei allen Generationen heute immer stärker wird, anderseits ist auch festzustellen, dass die Mundart als Muttersprache verschwindet. Die in der Schule erlernte deutsche Sprache, die im alltäglichen Sprachgebrauch eigentlich nicht vorhanden ist, wird von vielen Ungarndeutschen nicht als Muttersprache betrachtet. Diese Personen werden weiterhin und in zunehmender Zahl neben der deutschen Nationalität Ungarisch als Muttersprache angeben. Das ist auf die Doppelidentität der meisten Ungarndeutschen zurückzuführen, die als eine bereits lange bestehende Gegebenheit unserer Minderheit berücksichtigt werden sollte. Ich bin mir aber sicher, dass die Ungarndeutschen trotzdem an ihrer Kultur und ihren Traditionen auch in der Zukunft festhalten werden.

SB: Herr Brunn, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Richard Guth.   

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