Von Prof. em. Dr. Zoltán Tefner
Die alten Römer haben die Wahrheit manchmal besser verfasst, als es wir heute in unserer „modernen” Zeit tun. „Accidit in puncto, quod non speratur in anno.“ In einem Augenblick kann geschehen, was man sich in einem Jahr nicht erhofft hätte. So etwas passierte mehrmals während der langen Zeit, in der der Autor dieses Artikels sich mit dem Thema Kolonisationsgeschichte von Kötsching befasste. Diese Zeit war länger als 20 Jahre, und man hat immer noch den Eindruck, dass die Sache gar nicht abgeschlossen sei. Die Wege und die Wendungen in der wissenschaftlichen Forschung sind unberechenbar, unerwartete Erkenntnisse tauchen in einer Sekunde auf, aber sie kippen alles um, was man jahrelang als eine „absolute” Wahrheit glaubte.
Die in den letzten Nummern des Sonntagsblatt mitgeteilte Liste der Kolonisten ist veraltet und spiegelt nur den Zustand unserer Forschungen gegen die Mitte der 1990er Jahren wieder. Sie zeigt sehr deutlich, dass eine nordhessische Bevölkerung die Gemeinde in den ersten Zeiten besiedelte. Die wichtigste Schlussfolgerung, die wir damals auf Grund der damaligen Forschungen ziehen konnten, würde folgendermaßen lauten: Die Theorie der thüringischen Herkunft ist hinfällig geworden. Also sie kamen nicht aus dem Gebiet, das man heutzutage als Land Thüringen nennt. In den nächsten Teilen unserer Serie zitieren wir den Text meiner Fallstudie von 1996, nicht treu für den Originaltext, aber dargestellt treu unserer Vorstellungen über die Frage.
Diese thüringische Auffassung wurde in Kötsching über Jahrhunderte hinweg vertreten, da viel von der thüringischen Herkunft anlässlich kirchlicher Feiertage die Rede war, ebenso wie in Schulaufsätzen und in den ortsgeschichtlichen Beiträgen. Den Dorfbewohnern der ältesten Zeiten ist von den Schulmeistern auch die Geschichte der thüringischen Herkunft beigebracht worden, und es muss jedenfalls als eine Tatsache angesehen werden, dass die aufwachsenden Generationen von den vorhergehenden Generationen in diesem Sinne erzogen worden sind. Das Bewusstsein der thüringischen Herkunft in verschiedenen Überlieferungen ist ihnen von den Vorfahren zugekommen. Die Idee der thüringischen Abstammung verknüpfte sich bei den meisten Befragten mit dem Namen Bieberau/Biberau. Der Biber, eine Nagetierart, war noch im vorigen Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent massenhaft verbreitet. Biberau, Bieberau, Bibra, Bebra, Bieberach kommen als Ortsnamen im deutschen Sprach- und Kulturgebiet dementsprechend häufig vor: Adolf Bach, der Vater der deutschen Ortsnamenforschung, bemerkte dazu, dass es in Deutschland damals mehr nach Bibern benannte Ortschaften als Biber selbst gegeben hätte.
Die Stadt Groß-Bieberau stellt dabei nur eine von mehreren Möglichkeiten dar; alle evangelischen Dorflehrer in Kötsching hatten stets damit Schwierigkeiten. Eines der vielen Bieberaus befindet sich nun auch in Thüringen, nicht weit von Eisfeld entfernt, im Kreis Hildburghausen. Seit den Anfängen der Reformation ist das Dorf evangelisch. Dieses Problem kann jedoch schnell beseitigt werden, denn dieses thüringische Dorf hieß noch nicht lange „Biberau”. Etwa fünfzig Jahre zuvor schlössen sich drei selbständige Gemeinden (eine von ihnen hieß Biberschlag und nicht Biberau) zu einer neuen Gemeinde zusammen, die in der Taufe den Namen Biberau erhielt. Der Name Biberau – nicht mit „ie”, sondern mit „i” geschrieben – kann daher nur als Phantasiename betrachtet werden, der für unseren Gegenstand keine Bedeutung hat. Die Ahnen von Kötsching hätten nicht von einem thüringischen Ort gleichen Namens Anfang des 18. Jahrhunderts kommen können. Außerdem kann man hier keine Spuren der in Kötsching üblichen Familiennamen finden. Es gibt in Thüringen, und zwar im Kreis Meiningen, noch eine Ortschaft mit dem Namen Bibra, und noch weitere kleinere Orte und Flurnamen, die mit dem Namen Bieberau verwechselt werden könnten. Wir vermuten aber, dass die „schreibkundigen” Kantorlehrer und Geistlichen das südhessische Bieberau mit anderen Bieberaus (Biberschlag, Bibra, Bebra) falsch identifizierten. Der Irrtum ihrer Vermutungen ist umso eher vorstellbar, als es damals, im vorigen Jahrhundert, noch kein Groß-Bieberau gab, sondern nur ein Bieberau. Anhand der ungarischen Beispiele kann diese Erscheinung erklärt werden, wenn man die alten und neuen Formen einiger Ortsnamen in der Nähe Kötschings einander gegenüberstellt: Csepell/Csöpöll, Csepely-Nagycsepelv; Szemes-Pusztaszemes etc. Für die Dorfintelligenz, die Landkarten hatte und sie auch zu „entziffern” wusste, bedeuteten diese die erste Informationsquelle, eine zweite stellen jene der Ahnen dar, die über mehrere Geschlechter hindurch überliefert wurden. Mit dem Namen Bieberau/Biberau sind beide Informationsquellen unglücklich aufeinandergetroffen, was sich in der Entstehung der thüringischen Legende äußerte.
Die „anti-thüringische” Auffassung hat jedoch einen strittigen Punkt, und zwar das eigentümliche Verwaltungssystem im mittelalterlichen Deutschland, welches gleichzeitig ein grundlegendes Problem der deutschen mittelalterlichen Verwaltungsgeschichte ist. Diese Verwaltungssysteme weisen ein heilloses Wirrwarr auf, und es würde zu weit führen, hier zeigen zu wollen, wie sich die Grenzen des Landes Hessen sowie die territorialen Abhängigkeitsverhältnisse im deutschen Besitzrecht in Relation zum Lehnwesen entwickelt hatten. Eine allgemeine Charakteristik des mittelalterlichen Lehnwesens bestand darin, dass bestimmte politische Formationen manchmal auch in einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern über Besitztümer und somit über Souverärenitätsgebiete verfügten. Begriffe, wie Staatsgrenze und staatliche Souveränität hatten in jenen Zeiten eine vollkommen andere Bedeutung als heute. Das Wesentlichste liegt darin, dass zu Hessen-Darmstadt solche fernliegenden „Staatsgebiete außerhalb der Staatsgrenzen” gehörten. Diese Gebiete waren in Thüringen vorzufinden, und zwar genauer um Schmalkalden. Im Jahre 1260 geriet infolge eines Friedensvertrages dieser Kreis unter hessische Oberhoheit; diese Landstriche waren früher im Besitz des Meißner Pfalzgrafen Henrik. Diese Insel um Schmalkalden liegt nicht sehr weit von Hildburghausen entfernt. Die Familiennamen um Schmalkalden müssen zwar erst in ihrer Gesamtheit erfasst und erforscht werden, doch es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass diese Forschungen das in der Tabelle aufgelistete Abstammungssystem von besonders verändern würden. Diese Forschungen beträfen in erster Linie etwa 20-21 kleinere und größere Gemeinden im Werra-Tal, unweit der Hochburg des Lutherismus. Es wäre möglich, dass ohne oder aufgrund der Genehtragung von Ernst Ludwig, einige Siedler auch von hier gekommen sind, aber diese Personen konnten wir bisher weder in Kötsching, noch in den Tolnauer Gemeinden finden.
Die Frage nach der Herkunft der Groß-Bieberauer stellt ein nicht ganz leicht zu lösendes Problem dar, das einige Rätsel aufgibt, die bis in die 70er und 80er Jahre dieses Jahrhunderts bestehen blieben. Es ist erstaunlich, dass in einem Dorf, wo die meisten angesiedelten Menschen aus Oberhessen stammen, den Namen keiner einzigen Ober-Hessener, Fuldaer, Mainzer, Thüringer, Badener und württembergischen Ortschaft im Gedächtnis behielten, sondern nur jenen des südhessischen Groß-Bieberau. Diese Ungereimtheit wird noch interessanter, wenn wir sie neben die Aussagen von Johann Schmidt, die in der Fallstudie von dem Historiker Károly Szita über Kötsching zitiert wird und meint, dass die Familie Stark, und „die anderen Kötschinger Familien” aus Groß-Bieberau gekommen sind. Somit konnte man denken – wenn wir auch den Schmidt-Tomka-Nachlass nicht lesen konnten, dass Schmidt während seiner langjährigen Forschungen zu ähnlichen Ergebnissen gelangte; irgendwie hatte er das Gefühl, daß diese Gemeinde von größerer Bedeutung war als die anderen und zog daraus, gänzlich unabhängig von der Kötschinger Quelle, dieselben Schlussfolgerungen; und dies in Kenntnis der Abstammungslinien. Andere Ortschaften und Gebiete zählten nämlich proportional gesehen viel mehr in Anbetracht ihrer Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur. Um also die Frage nach unserer Deutung zu lösen, muss man einen sonderbaren Weg wählen, der einen kurzen Streifzug in der Ortsgeschichte der beiden Ortschaften, Kötsching und Groß-Bieberau, verlangt. (Fortsetzung folgt)