Von Alfred von Schwartz
Druck der Röttig-Romwalter Druckerei AG, Ödenburg
Nur die Wahrheit kann uns heilen.
Vorbemerkung der SB-Redaktion
Unser Leser Patrick Rieckmann aus dem Ödenburger Land wies vor einigen Monaten auf ein interessantes historisches Dokument hin, das drei Monate nach der Volksabstimmung in Ödenburg und vor genau 100 Jahren publiziert wurde. Auch wenn manche inhaltlichen und sprachlichen Formulierungen auf den Menschen der Gegenwart befremdlich wirken, stellt Alfred von Schwartz’ Schriftstück eine wichtige Quelle dar, um Denkweisen und historische Vorgänge besser zu verstehen. Diesen Essay veröffentlichen wir in vier Teilen.
Teil 4 (Letzter Teil)
Und nun fragen wir: Wer hat der dürstenden Menschheit diesen himmlischen Balsam gebracht? Es waren nicht die stolzen Briten, noch die gloriosen Franzosen, auch nicht die musikalischen Italiener, sondern es war Wien, die Hauptstadt des politisch und national zerrissenen und zerklüfteten Österreichs, die der Menschheit das süßeste Labsal reichte. Ist dies bloß Zufall? Gewiss nicht! Der musikalische Titan vom Rheine und die kleineren Götter von der Elbe und Weser, von Polen und Ungarn und Italien – sie kamen nicht nach Wien, weil dort vielleicht eine Oper oder ein Konservatorium von besonderer Berühmtheit vorhanden gewesen wäre. Das war ja gar nicht der Fall. Auch kein musikalisches Mäzenatentum bestand in Wien. Die Habsburger, immer hochherzige Förderer der Künste und Wissenschaften, hatten gerade für die Musik keine besondere Begeisterung. Wieso konnte es also geschehen, dass gerade Wien, die Stadt der politischen und nationalen Dissonanz, die Wiege der erhabensten Musik und die Spenderin der reinsten Harmonie wurde? Eben darum, weil Wien die eigentliche und einzige Nationalitätenhauptstadt der Welt gewesen ist! Hier kamen Deutsche und Ungarn, Polen, Italiener, Böhmen, Kroaten, Rumänen und wie sie alle heißen, nicht zu flüchtigem Aufenthalte – wie in anderen Großstädten – zusammen, sondern hier lebten sie mit- und nebeneinander, hier stritten sie sich oft, aber hier lernten sie sich auch kennen und darum liebten sie sich. Und hier zeigten und betätigten sie ihre hervorragendsten Eigenschaften. Der eine das tiefe Gemüt und der andere den lachenden Frohsinn, hier Strenge, Bedächtigkeit, Stolz und Unbeugsamkeit, dort Grazie, Humor, Esprit und Gelenkigkeit, Melancholie und Schwermut neben Schalkhaftigkeit und Ausgelassenheit – alle nationalen Eigenheiten konnten sich hier unter dem Schutze eines unparteiischen, dabei aber über allen stehenden und von allen als erste und einzige Autorität anerkannten Herrscherhauses frei entwickeln. Und die Verschmelzung dieser nationalen Eigenheiten schuf jene Atmosphäre, jene Synthese der Harmonie, die – man kann wohl sagen – zur Vollendung der Musik führte. Beethoven und Mozart werden wohl für Jahrhunderte die Pole ihrer Kunst bleiben. Und welche Sterne liegen dazwischen! Und alle haben erst in der Metropole der Nationalitäten ihren Kulminationspunkt erreicht. Dieser Ruhm Wiens wird so lange dauern, wie der Athens. Und wenn andererseits die Schmach, die Deutschösterreich und insbesondere Wien nach dem Umsturz durch Verrat an seiner Dynastie, an seiner Tradition, an deutscher Treue und an sich selbst begangen (hat Anm.), je vergessen und verziehen werden kann, so wird dies wohl nur durch Fürbitte der heiligen Musika geschehen können.
Dabei – und das ist von höchster Wichtigkeit – nahm diese Wiener Musik keinen kosmopolitischen Charakter an, sondern sie blieb deutsch – beziehungsweise sie behielt den Grundton ihres jeweiligen Trägers, welcher Nationalität derselbe auch immer gewesen, aber sie wurde hier geadelt und vertieft. Und nicht nur mit der Musik ging es so, sondern – wenn auch in geringerem Maße, mit allen anderen Künsten, ja mit allem, was irgend mit dem Geschmack zusammenhängt. Daher die fast paradox anmutende Erscheinung, dass Wien (neben Prag die größte tschechische Stadt!) viel mehr deutsch in des Wortes edelster Bedeutung ist als Hamburg, Berlin oder München. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass das Nationalitätenproblem der Kunst im alten Österreich in Wien gelöst wurde. Unter – ja nur durch – Mitwirkung aller Nationalitäten gelang es speziell die Musik zu nie geahnter Vollendung zu bringen, wobei keine der mitwirkenden Nationalitäten ihren Charakter aufgab und doch die Kunst selbst den Geist der führenden deutschen Nationalität behielt.
Sollte das politische Nationalitätenproblem unlösbar sein? Wir sind gegenteiliger Ansicht. Wir sind der Überzeugung, dass das politische Problem ebenso lösbar, ja nur so lösbar ist, wie das künstlerische. Es bedarf nur genialer Meister und unparteiischer, gerechter Führung. Hier sei kurz bemerkt, wie einfach und vollkommen der Standpunkt der Kirche in dieser gerade für sie so schwierigen Frage ist. Aber freilich, unsere großen Kirchenfürsten, die Simor und andere, wussten, dass der Patriotismus gleich dem Glauben an keine bestimmte Nationalität gebunden ist. Wie peinlich wurde darauf gesehen, dass jeder Gläubige in seiner Muttersprache die Seelsorge erhalte. Suum cuique und nie gab es einen Streit! Es schien eine geraume Zeit lang, als ob das alte Österreich auch zur Lösung des politischen Problems berufen sei. Ja, vielleicht war es der Lösung näher, als wir heute glauben. Aber das Jahr 1866, die Schwächung des österreichischen Deutschtums und die innere Zersetzung desselben durch das all- und großdeutsche antidynastische und staatsfeindliche Getriebe, endlich die Herrschaft des für Österreich katastrophalen Parlamentarismus, der das eigentliche Treibhaus des alle Vernunft und alle Tradition verschlingenden Chauvinismus der einzelnen Volksstämme wurde, machten die Versuche erfolglos. Nachdem der Anschluss Deutsch-Österreichs an Deutschland heute wohl schon als in absehbarer Zeit gesichert betrachtet werden muss, so kommt Österreich bei der Lösung des Problems nicht mehr in Frage, Großdeutschland aber deshalb nicht, weil es (bis auf die Annektierung der deutschen Gebiete Böhmens und Tirols) auf dem Boden der alten Monarchie keinerlei völkisch-politische, sondern nur noch wirtschaftliche Interessen haben kann.
Die Lösung des Nationalitätenproblems wird also Ungarn zufallen und es ist kein Zweifel, dass von der Lösung dieses Problems das eigene Schicksal Ungarns abhängt.
Ein Blick auf die Landkarte sagt uns, dass die heutige Konstellation Ungarns nur eine provisorische ist und unmöglich lange dauern kann. Es gibt wohl in ganz Europa kein Land, das von Natur aus so zur Einheit geschaffen wurde wie das alte Ungarn. An drei Seiten von hohen Gebirgen umgeben, die im Innern ganz fehlen, im Süden von mächtigen Flüssen umsäumt, ist es klimatisch, strategisch und volkswirtschaftlich eine Einheit, die nur als solche bestehen kann, weil es eben die Natur so will und so befiehlt. Ungarn muss wieder ein Ganzes werden und wenn auch alle Pforten der Hölle und alle „Fürsten der Welt“ es verbieten und verhindern wollten.
Dass von den Volksstämmen des alten Ungarn nur der madjarische berufen ist, die politische Lösung des Problems durchzuführen, erscheint aus drei Gründen plausibel. Die Madjaren haben seit tausend Jahren die zentrale Stellung zwischen Donau und Theiß inne, ohne die eine strategische und politische Beherrschung Ungarns fast undenkbar ist. Ferner haben die Madjaren unter allen Nationen des Kontinents das durchgebildetste, traditionellste Staatsrecht, das in der erhabenen Idee der heiligen ungarischen Krone gipfelnd durch keinerlei rationalistisches oder modernes Gebilde zu ersetzen ist und daher an und für sich schon einen einigenden Faktor von allergrößter Macht darstellt. Das ist der politische heilige Gral, dessen Hüterin auch heute noch Ungarn ist. Aber die Wunde des Amfortas blutet und brennt mehr denn je … Endlich aber haben die Madjaren den eklatantesten Beweis ihres Führerberufes bereits erbracht, denn neunhundert Jahre lebten sie mit den verschiedenen Volksstämmen im besten Einvernehmen und in gegenseitiger Achtung aller politischen Rechte und Menschenrechte. Ungarn resp. das Madjarentum hat also das Problem bereits schon gelöst gehabt. Dass es nun notwendig ist, das Problem von neuem zu lösen, daran ist einzig und allein die Seuche des Chauvinismus schuld, die aber nicht nur die Madjaren, sondern ebenso auch alle anderen Volksstämme, ja ganz Europa ergriffen hatte.
Erfasst das heutige Ungarn seinen obigen Beruf, dann ist die Frage der Einigung der jetzt losgelösten Teile Ungarns nur eine Frage kurzer Zeit. Erfasst es diese Aufgabe nicht, dann wird das Problem ohne und gegen das Madjarentum gelöst werden, was die Ausschaltung Ungarns aus der Reihe der mitteleuropäischen Staaten und seine endgültige Degradierung zum Balkanstaate bedeuten würde. Es steht alles auf dem Spiele.
Es ist keine Ironie des Schicksals, sondern die eiserne Konsequenz der Tatsachen, die in unserem Falle Sühne und Vergeltung heißt, dass Ungarn bei der letzten ihm noch verbliebenen Nationalität – bei den Deutschen – beweisen muss, dass es das Nationalitätenproblem lösen kann und will. Über die Art und Weise der Durchführung kann wohl erst dann gesprochen werden, wenn die maßgebenden Kreise ihre Bereitwilligkeit zur Initiative zeigen. So viel muss aber schon hier bemerkt werden, dass mit noch so feierlichen Erklärungen gar nichts erreicht werden wird. Es müssen Institutionen zum Schutze des deutschen Volkstums, zum mindesten deutsche Wahlkreise und Stuhlbezirke geschaffen und der Wiederaufbau der deutschen Schulen energisch betrieben werden. Je weniger engherzig Ungarn den Deutschen gegenüber vorgeht, desto größer und schneller wird der Erfolg sein. Jeder Stein, den Ungarn zum Wiederaufbau der Kultur seines deutschen Volksstammes bewilligt, wird das granitene Fundament der künftigen Größe des madjarischen Königreiches bilden. Die Gefahr, dass etwa die Deutschen Ungarns all- oder großdeutsche Politik treiben und ihre wiederzuerweckende Kultur in den Dienst politischer Expansionsbestrebungen stellen würden, existiert nicht. Das haben die Deutschen Ungarns in tausend Jahren zur Genüge bewiesen.
Die loyale und tatsächliche Anerkennung des deutschen Volkstums, die politische und kulturelle Förderung desselben, wäre der größte Schlag, der gegen unsere Feinde geführt werden kann. Liga, Move und alle Irredenta nützen uns gar nichts, ja sie schaden uns eher, weil sie immer nur das madjarische Nationalbewusstsein aufstacheln, das einer Aufmunterung wahrlich nicht bedarf. Aber wenn unsere Nachbarn einmal sehen werden, dass in Ungarn – wie in alten Zeiten – die Nationalitäten dem Madjarentum tatsächlich gleichgestellt sind, dann kommen sie von selbst zurück und keine bewaffnete Macht der großen oder kleinen Entente wird dies verhindern können, denn es gibt keinen Widerstand gegen die Anziehungskraft der Kultur, wenn sie zugleich Gerechtigkeit bedeutet.
Es ist also keine Übertreibung, wenn wir sagen, dass es für Ungarn keine wichtigere und dringendere Aufgabe gibt als die Wiedergutmachung des seit fünfzig Jahren an dem deutschen Volksstamme begangenen Unrechtes. Denn das würde bedeuten, dass Ungarn tatsächlich wieder zurückkehrt zur geheiligten Tradition der Ritterlichkeit und politischen Klugheit, die den sicheren Aufstieg gewährleistet auch zur nationalen Größe.
VI.
Ich hatte die Absicht, mit obigen Zeilen zu schließen, als ich höre und lese, dass nun in Ungarn wieder einmal allgemeine Wahlen ausgeschrieben werden. Ich kann es mir nicht versagen, an dieser Stelle auf den innigen Zusammenhang hinzuweisen, der zwischen Chauvinismus und modernem Parlamentarismus besteht. Schon das fast gleichzeitige Auftauchen ist bemerkenswert. Wir haben oben gesehen, wie der extreme Nationalismus, der von Natur aus der eifrigste Pfleger nationaler Eigenart sein sollte, tatsächlich der größte Feind jeder Individualität und daher der ärgste Gleichmacher ist. Dasselbe gilt vom Parlamentarismus, der der ideellen Gleichheit – der Zahl respektive der Stimme, die nicht gewogen, sondern nur gezählt wird – sein Dasein verdankt. Tatsächlich sind Parlamentarismus und Nationalismus aufeinander so sehr angewiesen, dass man ohne Übertreibung sagen kann: Ohne Parlamentarismus gäbe es keinen Chauvinismus und umgekehrt. Das Parlament ist die wirksamste Tribüne des Nationalismus und dieser ist es wieder, der dem Parlamente scheinbar Daseinsberechtigung verleiht. Ohne das Narkotikum des extremen Nationalismus hätten die Völker den auf dem allgemeinen Wahlrechte beruhenden Parlamentarismus schon längst zu allen Teufeln gejagt. Und fürwahr, es gibt keine größere Lüge, keine hässlichere Frivolität und kein wirksameres Mittel, um selbst den blühendsten Staat und die stärkste Nation in kurzer Zeit aus allen Fugen geraten zu lassen, als den modernen Parlamentarismus. Er geht von der wahnsinnigen Voraussetzung aus, dass zwischen Mensch und Mensch kein Unterschied sei und er wertet die Stimme des Taugenichts, des Prassers, des Schiebers und Schuftes geradeso wie die des treuen Arbeiters, des vorsichtigen Familienvaters, des tüchtigen Bürgers und des ritterlichen Charakters. Welch eine schmachvolle Verblendung! Goethe und Schiller, die doch gewiss keine Junker, Mucker oder Frömmlinge gewesen, haben diese Gleichheit mit dem ehernen Distichon verdammt:
Gleich sei keiner dem andern, doch gleich sei jeder dem Höchsten.
Wie ist das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich!
Der Parlamentarismus kennt keine sittliche Differenzierung. Ihm ist gut = böse, gerecht = ungerecht, 1 = 1. Ihm kommt es nur auf die Mehrheit an. Und wenn die Mehrheit von lauter erpressten oder erkauften Stimmen stammen sollte, es tut nichts. Non olet, gleich dem Gelde. Daher auch der immer engere Anschluss an das Großkapital! Wir nähern uns rapid dem Augenblicke, da die Mehrheit unserer Parlamentarier nicht so sehr Abgeordnete ihrer Wähler als der Großbanken sein werden. Die Zukunft des Parlamentarismus heißt nicht Napoleon oder Bismarck, sondern Rockefeller oder Stinnes.
Es ist selbstverständlich, dass eine auf solcher Grundlage fußende Institution ihren vornehmsten Aufgaben, die da heißen Gesetzgebung und Kontrolle der Regierung, auch nicht im Entferntesten gerecht werden kann. Es ist eine durch Jahrtausende bestätigte Erfahrung, dass der Einzelne immer gescheiter ist als die Menge. Ja, es ist eine vielfach beachtete Erscheinung, dass selbst der geistig hochstehende Mensch an geistiger Kapazität verliert, sobald er ein Teil der Menge d. h. Mitglied einer Versammlung wird. Grillparzer hatte unbedingt die modernen Parlamentarier im Auge, als er schrieb:
Sonst waren nur die Dummen dumm,
jetzt sind es auch die Gescheiten!
Große und Bleibende Taten können nur von Einzelnen oder von einigen Wenigen erdacht und zur Reife gebracht werden. Man sieht also, wie unsinnig es ist, 400-500 Männern, die noch dazu meist auf recht mäßigem Bildungsniveau stehen, die Gesetzgebung eines Landes anzuvertrauen. Dreiviertel der Abgeordneten liest ja nicht einmal die Entwürfe und wie oft zerstört ein Amendement1, das manchmal nur der persönlichen Eitelkeit des Antragstellers entsprungen ist, den ganzen Geist des vorgelegten Gesetzes.
Mit der Kontrolle sieht es noch schlimmer aus. Da jedem Abgeordneten ein sozusagen unbeschränktes Kontrollrecht zusteht, ist kein Mitglied der Regierung einen Augenblick sicher, ob nicht heute oder morgen eine politisch mehr oder weniger gefährliche Anfrage oder Attacke gegen es gerichtet werden wird. Dieser Zustand erzeugt dann eine Nervosität und Spannung, die jedes überlegte, zielbewusste Regieren unmöglich macht und die besten Kräfte in kürzester Zeit verbraucht. Der Unsterbliche von Weimar sagt bei Eckermann, dass Adam Friedrich Oeser (er ist zufällig auch ein Burgenländler gewesen) ihn gelehrt habe, dass zum Wesen der Kunst auch Ruhe gehöre. Nun, auch zur Kunst des Regierens sind Ruhe und Stille unerlässlich. Diese aber sind bei dem heutigen Parlamentarismus ausgeschlossen. Man sieht aber auch den Erfolg. Es wird nicht mehr regiert, es werden Gesetze und Verordnungen fabriziert. Plurimae leges, pessima respublica [Je schlechter der Staat, desto mehr Gesetze; d. Red.]
Obige Erscheinungen sind nicht nur bei uns, sondern ausnahmslos auch auf dem ganzen europäischen und amerikanischen Kontinent zu beobachten. Leider kommen bei uns noch einige böse Folgeerscheinungen dazu, die in besonderen politischen Atavismen ihren Ursprung haben dürften. Jede allgemeine Wahl wirft uns Ungarn in politisch-administrativer und ethischer Beziehung um mindestens zehn Jahre zurück. Man kann sich also den Grad unseres administrativen Tiefstandes berechnen. Dass daran nur der Parlamentarismus schuld ist, das erhellt sich aus dem Umstande, dass in allen Zweigen der Verwaltung und Kultur, die mit der Politik in loserem Verhältnisse stehen, ein schöner, ja oft ein imponierender Aufschwung zu bemerken ist. Wenn man bedenkt, wie unsere Gerichte vor kaum dreißig Jahren ausgesehen haben und was sie heute sind, da muss man tiefsten Respekt zeigen vor so viel sittlicher Energie, so viel Tüchtigkeit und Zielbewusstheit, die hier ohne Inanspruchnahme nennenswerter finanzieller Mittel geleistet wurden. Gleiches muss man vom Post- und Bahnwesen (soweit es staatlich ist) anerkennen. Die Leistungen der Budapester Fakultäten und namentlich der medizinischen Schule sind ganz bedeutende, desgleichen die der Technik. Der ungarische Ingenieur ist auf der ganzen Welt gesucht. Auf dem Gebiete der bildenden Künste, besonders der Malerei, sind erstklassige Erfolge zu verzeichnen. Ich erinnere mich, dass bei der letzten internationalen Bilderausstellung in Venedig vor dem Weltkriege die Belgier und Ungarn alle anderen Nationen weit hinter sich ließen. Die größten und verdientesten Erfolge aber hat die ungarische Psyche auf dem Gebiete der erzählenden Literatur aufzuweisen. Einer und der andere der ungarischen Essayisten steht wohl unerreicht da. Und zum Schlusse dieser flüchtigen Rundschau darf ich wohl auf den seltsamen aber erfreulichen Umstand hinweisen, dass die bestgeschriebene große deutsche Tageszeitung, mit deren Weltanschauung ich mich übrigens nicht identifiziere, nicht in Hamburg, Berlin, München oder Wien, sondern schon seit Jahren in Budapest erscheint.
Alles obige wurde nicht gesagt, um zu erweisen, wie es doch eine Anomalie sondergleichen sei, dass ein Staat, der in seiner Vergangenheit so viele Beweise hohen politischen Könnens und in seiner Gegenwart so viele Beweise kulturellen Fortschrittes gegeben habe, das miserabelste Wahlsystem und die zurückgebliebenste Verwaltung habe, sondern allein zu dem Zwecke, um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, dass ein Parlament von der Qualität jener der letzten Jahrzehnte zur Verwirklichung der im 5. Kapitel umschriebenen Aufgabe natürlich nicht geeignet sei. Der moderne Parlamentarismus hat auf allen Gebieten zum Debacle geführt. Seine würdigen Enkel sind Kommunismus und Bolschewismus. Grillparzer war ein Prophet. Er sagte schon vor sechzig Jahren: Dieser Weg führt uns von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität. Seit einem halben Jahrhundert hört man in Deutschland die Klage, dass die Deutschen keinen Sinn für Parlamentarismus hätten, dass es keine deutschen Parlamentarier gebe usw. Wenn ich es recht besehe, müsste man Gott dafür danken, dass dem so ist, denn es beweist doch nur, dass der echte Deutsche für eine so unsolide Sache einfach nicht zu haben ist.
An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Dieses Bibelwort sollte man auch in der Politik nicht vergessen. Welche Früchte hat uns der extreme Nationalismus, die Politik der „glühenden Vaterlandsliebe“ beschert? Man erinnere sich doch der „großen“ parlamentarischen Kämpfe der letzten fünfzig Jahre. Da wurde monate-, oft jahrelang darüber gestritten, ob „k. k.“ oder k. u. k.“ und um ähnliche große Dinge. Meist endeten diese Schlachten mit einem großen politischen Siege Ungarns über Österreich. Dass aber dabei die Monarchie am meisten geschwächt wurde, soweit dachte keiner unserer illustren Staatsmänner. Und dann immer wieder Schlagworte und nichts als Schlagworte: Selbständige Notenbank, Zollgebiet, nationales Heer usw. Nun, mit Teufels Gnaden haben wir jetzt alles erreicht, selbst die Befreiung von dem „Erbfeind“ Österreich. Wir sind jetzt ganz unter uns und man sollte glauben, dass nun im Parlament größte Einigkeit herrscht. Weit gefehlt! So groß war das Chaos noch nie. Man sucht jetzt nach „neuen Kursen“. Als ob es im Schlamme überhaupt einen Kurs geben könnte.
Wann wird man endlich einsehen, dass im System – das heißt im Parlamentarismus selbst -der Fehler liegt. Ehre den Ausnahmen, aber was ist von einer Körperschaft zu erwarten, deren größter Teil aus „Männern“ besteht, die keinen edleren Ehrgeiz hegen, als mit den Ministern per du zu sein und mit einem wirklichen Geheimrat an einem Tische zu sitzen? Das sind aber noch die weniger gefährlichen. Was hat das Vaterland von jenen zu erwarten, denen das Mandat nur ein Mittel zu Geschäft und Spekulation ist?!
Wenn wir also aufrichtig sein wollen, so dürfen wir nur sagen: Fort mit diesem Parlament, fort – aber nicht mit Schaden, sondern fort mit Nutzen!
Aber was setzen wir an seine Stelle? Denn es ist doch klar, dass ein „Kulturstaat“ ohne Parlament nicht denkbar ist.
Ich denke mir zwei Wege. Der eine wäre das Stände- oder Berufsparlament. Ein jeder Stand oder Beruf würde seine Vertrauensmänner und diese erst die eigentlichen Deputierten wählen. Es könnte dadurch die Elite der verschiedenen Stände herangezogen werden und der Beruf ist vielleicht doch das unterscheidendste Merkmal und daher das individuell und objektiv Wertvollste am modernen Menschen. Es würde dadurch auch die Möglichkeit geboten sein, die sozial und moralisch ganz wertlosen Elemente wie Spekulanten, Nichtstuer, Schieber und dergleichen – mit einem Worte: die berufslosen Elemente – vom verfassungsmäßigen Leben ganz auszuschließen, was als größter Segen bezeichnet werden müsste. Ich meine aber, dass eine solche politische Gliederung für Deutschland taugen wird, dessen Zukunft sie meines Erachtens bedeutet, aber nicht für Ungarn, das bisher kaum Anfänge einer bürgerlichen oder beruflichen Gliederung besitzt.
Die andere Lösung denke ich mir so, dass von allgemeinen Wahlen ganz abgesehen wird und die Munizipien – diese seit jeher stärksten Bollwerke madjarischer Staatlichkeit – damit betraut werden, die Delegierten in das Parlament zu senden – wie in den „guten, alten Zeiten“. Selbstverständlich müssten eine zeitgemäße Regenerierung der Munizipien und des Virilrechtes, die Heranziehung des Bauern- und Arbeiterstandes usw. vorangehen. Eine solche Renovation würde eine wahrhaft traditionelle Fortsetzung altmadjarischer politischer Weisheit sein. Sie würde alle die Aufregungen, Unzukömmlichkeiten, Korruptionen und unermesslichen anderen Schäden des heutigen politischen Systems möglichst restringieren. Sie würde moralisch und politisch erzieherisch wirken, besonders, wenn die Funktionen des Parlaments – wie es schon in der alten madjarischen Verfassung gewesen – nur auf die politisch allerwichtigsten Gegenstände beschränkt würden. Dann hätten wir die Aussicht auf ein Parlament, welches wirklich die erlesenen Männer der Nation enthalten würde, nicht aber – wie bisher – einen erschreckend hohen Prozentsatz von politischen und finanziellen Glücksrittern. Ein Parlament, dem man die Würde der Nation beruhigt anvertrauen könnte!
Jetzt, da ich das oben Geschriebene nochmals überlese, bemerke ich erst, dass ich Titel und Motto schlecht beziehungsweise unvollständig gewählt habe. Ich wollte von der Zukunft des deutschen Volksstammes sprechen und es hat sich gezeigt, dass Deutschtum und Ungartum auch heute noch so eng vom Schicksal aneinander gekettet sind, dass ich diesem Büchlein mit eben solcher Berechtigung auch den Titel geben konnte: Die Zukunft Ungarns. Und das Motto erscheint mir gleichfalls nicht genügend. Die Wahrheit allein wird uns nicht heilen. Die Wahrheit kennen viele, mehr als man glaubt. Aber die Feiglinge bekennen sie nicht, die Schwächlinge verleugnen sie und die Böswilligen verraten sie. Die Wahrheit allein also tut es nicht. Die Wahrheit muss lebendig, die Wahrheit muss zur Tat, die Wahrheit muss Fleisch werden. Mit einem Worte: Sie muss Gerechtigkeit werden. Und so wollen wir das Motto dahin ergänzen:
Nur die Gerechtigkeit wird uns heilen!
Alle meine gutgesinnten Mitbürger, besonders aber meine deutschen Volksgenossen bitte ich, in den kommenden schweren Tagen obige Ausführungen einer strengen Prüfung zu unterziehen und nach ihrem Gewissen die Konsequenzen abzuleiten. Wir dürfen nicht länger zuwarten. Schon gärt und fault und brennt es überall. Lasst uns zusammenhalten, solange es noch Zeit ist.
Jam ardet Ucalegon. [das Haus des Ucalegon brennt schon, d. h. die Gefahr steht schon vor der Tür; d. Red.]
Ödenburg, im März 1922 (Ende)
1 Die Änderung, der Änderungsantrag (Anm.)