In Ungarn, das zunehmend einsprachig ist, verliert man kaum ein Wort über die Minderheitensprachen, von deren Literatur ganz zu schweigen. Wir haben über die ungarndeutsche Literatur gefragt.
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Ein Beitrag von Emma Rosznáky Varga. Erschienen am 09. Februar 2023 in der Tageszeitung „Népszava”. Veröffentlichung in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Deutsche Übersetzung: Richard Guth
Der vor zwei Jahren verstorbene László Kálmán gab uns 2017 anlässlich des Tages der Ungarischen Sprache ein Interview. Der Linguist sagte damals: „Wir müssten eigentlich die Sprachenvielfalt feiern, wenn es uns zum Feiern zumute ist, wohlgemerkt müsste man die Minderheitensprache hierzulande eher schützen als feiern.” László Kálmán betonte damals, dass er kein anderes Land kenne, wo man die Amtssprache gefeiert werde. „Die Mehrheit der Länder ist mehrsprachig, und das, dass Ungarn immer mehr einsprachig wird, ist nicht zu feiern”, schloss der Experte seinen Gedankengang. Man könnte es riskieren zu sagen: In Ungarn existiert bis heute ein sehr starkes Bild aus dem 19. Jahrhundert über die Sprache. „In ihrer Sprache lebt die Nation” – in der Öffentlichkeit beherrscht dieser István Széchenyi zugeschriebener Satz unsere Vorstellungen über die Sprache, wonach Sprache und Nation eine feste Einheit bilden würden.
Dieses zusammengetackerte geflügelte Wort hat eigentlich weder damals noch heute mit den Minderheitensprachen, die in Ungarn auftauchen, gerechnet, obwohl diese auch gedeihen, und im selben Land.
Über die Einsprachigkeit Ungarns und die Literatur der deutschsprachigen Minderheit haben wie den ersten Vorsitzenden des Verbandes Ungarndeutscher Autoren und Künstler (VUdAK) und Chefredakteur des deutschen Wochenblattes Neue Zeitung, Johann Schuth, gefragt (er wird auch im ungarischsprachigen Artikel Johann Schuth genannt).
Johann Schuth präsentiert seine Heimatstadt Willand als Gegenbeispiel, wo die Einwohner neben Ungarisch und Deutsch auch Kroatisch und Serbisch sprachen/sprechen.
„Zum Glück gibt es noch Orte, wo neben dem Ungarischen auch andere Sprachen willkommen sind”, sagt Johann Schuth, aber hierzulande gäbe es auch nach seiner Ansicht ein gewisses Fremdeln vor der Mehrsprachigkeit. „Es gibt auch einen solchen „Sprachwissenschaftler”, der im Fernsehen verkündet, dass die Kinder zuerst das Ungarische erlernen sollen und erst ab einem Alter von sechs Jahren „Fremd”sprachen lernen sollen. Eines Tages klagte eine Politikerin mir gegenüber, dass die armen Brüsseler Kinder drei Sprachen gleichzeitig erlernen müssten. Als ich entgegnete, dass sie dadurch reicher werdeb, antwortete sie, dass sie sich zuerst eine Sprache aneignen sollten”, berichtet der Chefredakteur.
Die Sprachenvielfalt wird nicht zum Schaden des Landes, Konflikte entstehen eher durch die Unterdrückung der Sprachen, die über weniger Sprecher verfügen.
Die Minderheitensprachen in Ungarn verfügen jeweils über eine eigene Literatur, so auch die deutsche. Bei der Volkszählung von 2011 bekannten sich 186 tausend Menschen zum Deutschtum zugehörig, zur deutschen Muttersprache bekannteb sich hingegen 35.000. Die Definition der Nationalitätenliteratur ist nicht ganz eindeutig, nach Johann Schuth gehöre derjenige zum Kreis ungarndeutscher Schriftsteller, der zur deutschen Minderheit gehöre und auf Deutsch (sogar in der Mundart) schreibe. „Nach anderen Definitionen existiert auch ungarndeutsche Literatur auf Ungarisch”, sagt der Schriftleiter. „Valeria Koch hat beispielsweise in beiden Sprachen geschafft. Martin Kalász (Krisztmann, Red.) verleugnete nie seine Herkunft, sprach ausgezeichnet die deutsche Literatursprache und deren Schomberger Variante und schrieb ausgezeichnete Bücher über seine deutsche Gemeinschaft, eben auf Ungarisch. Das wurde auch von der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen anerkannt, und zwar mit der Ehrennadel in Gold für das Ungarndeutschtum”, antwortet der Kenner der Materie, nach dessen Ansicht diese doppelte Definition auf die Literatur mehrerer Nationalitäten in Ungarn zutreffe. „Ich schätze übrigens diejenigen Schriftsteller deutscher Herkunft, die die Probleme unserer Minderheit für die ungarische Leserschaft aufarbeiten”, ergänzt Schuth.
Was im Falle einer Sprache die charakteristischen Merkmale der Literatur des Mutterlandes und der Nationalitätenliteratur angeht, sagt Johann Schuth: „Die deutschsprachigen Literaturen (die der früheren DDR, BRD, von Österreich, der Schweiz, von Luxemburg, Belgien und Südtirol) sind natürlich nicht einheitlich, weder sprachlich noch inhaltlich. Darunter finden sich regionale, lokale und Mundartliteraturen. Unsere Literatur ist eine regionale, ein Teil stellt die Heimatliteratur dar, in der von den Mitgliedern der älteren Generation die Heimat im engeren Sinne besungen wird, die noch mit dem Dialekt großgeworden sind. Demgegenüber steht die jüngere Generation mit Hochschulabschluss, die mit ungarischen und deutschen hochsprachlichen Vorbildern großgeworden ist.
Zu den Themen der neueren ungarndeutschen Literatur gehörten nach dem VudAK-Vorsitzenden ab 1972 die Treue zur Heimat, die Vertreibung und die Malenkij Robot.
„Es geht hier aber nur um allgemeine Tendenzen”, erklärte Johann Schuth. „Die Literatur ist thematisch vielfältig, sie hängt vom jeweiligen Künstler ab, die hochgebildete Valeria Koch und Erika Áts oder Robert Becker sind/waren autonome Autoren, die auch Aktualpolitik in ihr literarisches Schaffen aufgenommen haben.” Die ungarndeutschen Autoren waren gleichzeitig von ungarischen Denkern wie auch den Vertretern der deutschsprachigen Kultur inspiriert: von Goethe, Rilke, Heidegger. Bei der jüngsten Generation stellt neben persönlichen Themen auch die Gegenwart und Zukunft der deutschen Nationalität eine zentrale Frage dar.
Der VUdAK wurde 1992 gegründet, der Vorsitzende berichtet in Bezug auf den Verein über Folgendes: „Dank den Zuwendungen können wir Lesungen, Ausstellungen veranstalten, Bücher und Kataloge mit literarischem oder bildenden künstlerischen Bezug herausbringen. Unsere Schriftsteller werden in Schulen, Deutschlager, Nationalitätenveranstaltungen geladen, nach Deutschland, Rumänien, da wir zu dem Deutschen Schriftstellerverband „Stafette” aus Temeswar eine dreißigjährige Partnerschaft pflegen. In der Reihe „VUdAK-Bücher” sind seit 1991 bislang 20 Publikationen erschienen”, fasst Johann Schuth zusammen.