„Längst angekommen”

Von Richard Guth

Seltenen Besuch erwarteten vor einigen Monaten JBG und Sonntagsblatt. Viktor Pretzer aus dem deutschen „hohen Norden”, genauer gesagt aus Schleswig-Holstein, verweilte bei uns, Ungarndeutschen. Eine der Stationen führte ihn auch nach Sexard, zur Deutschen Bühne Ungarn, wo er nach eigenem Bekunden wertvolle Gespräche mit Intendantin Katharina Lotz führte – eine Reise, die ihm „die Augen geöffnet” habe, unter anderem bezüglich dessen, welches Potenzial Ungarn und die deutsche Gemeinschaft besäßen. Das wichtigste Erlebnis für ihn sei die Erkenntnis gewesen, dass man Kultur anders erhalten könne.

Viktor Pretzers Interesse für die Deutschen in Ungarn ist dabei kein Zufall – er ist Wolgadeutscher. In Kustanaj, Kasachstan, in der Verbannung geboren, flüchtete Pretzer Anfang der 1990er Jahre vor dem erstarkenden kasachischen Nationalismus nach Russland, nach eigenem Bekunden machte er sich Sorgen um das Wohlergehen seines kleinen Kindes. Er verbrachte mit seiner Familie zehn Jahre in der ehemaligen Hauptstadt Ostpreußens Königsberg, heute Kaliningrad, bevor er 2002 nach Deutschland übersiedelte. Eine Entscheidung, die ihm nicht leicht gefallen sei: „Ich zähle mich zu den deutschen Nationalschauspielern. Nach meiner Übersiedlung nach Königsberg habe ich mit anderen das Deutsche Nationaltheater gegründet, was aber kaum Unterstützung erfuhr. Daher stand ich vor der Entscheidung: Kampf oder kein Kampf. Die Schließung des Theaters war für mich ein Trauma, denn das Schauspielhaus ist für einen Schauspieler wie das Werk für einen Fabrikanten”. Er sah nach eigenen Angaben die Auswanderung als die einzige Chance an, aber „glücklich hat es mich nicht gemacht, denn ich bin immer noch sehr stark mit der Heimat, deren Geschichte und Kultur verbunden. Hier in Norddeutschland stößt man zudem auf kein Verständnis, keine Förderung oder Zusprache”, erzählt der Kulturschaffende.

Die Zeit in Königsberg sei an der Familie nicht spurlos vorübergegangen, denn die Stadt sei zur zweiten Heimat geworden. Anfang der 1990er Jahre siedelten sich laut Pretzer Deutsche an, die in der Heimat bleiben, aber näher zu den Verwandten in Deutschland sein wollten. Um 1995 herum rollte eine Hasswelle gegen die Deutschen über den Landstrich, man hätte eine Germanisierung des Kaliningrader Gebiets befürchtet, obwohl sich lediglich 5000 bis 20.000 Menschen dort angesiedelt hätten. Eine evangelische Propstei, ein deutscher Verein namens „Eintracht” und das Theater standen der deutschen Gemeinschaft zur Verfügung. Das Gebiet selbst verfügte damals nach Pretzers Erinnerungen über kaum Infrastruktur, schlechte Wohnungen und eine schlechte Versorgungslage.

Nach 16 Jahren kehrte Pretzer dieses Jahr wieder nach Russland zurück, diesmal als Besucher in ein Land, das sich verändert hat: „In Russland leben ungefähr noch 400.000 Deutsche, in Kasachstan 160.000-200.000. Es wird nach meinem Eindruck nur noch wenig deutsch gesprochen und das, was wir noch in den 1990ern erlebt haben, gibt es nicht mehr. Sagen wir es so: Es ist anders geworden. Die dort verbliebenen Deutschen interessieren sich für die Wurzeln und das Brauchtum und betreiben intensive Brauchtumspflege. Es gibt immer noch zwei deutsche Rayons, Asowo und Halbstadt, in denen es Schulen mit muttersprachlichem Unterricht gibt und auch in der Verwaltung hat man das Recht, die deutsche Sprache zu benutzen”, berichtet der Künstler über seine Erfahrungen und erzählt im Anschluss auch von der Zeit, in der der heute Mittfünfziger aufgewachsen ist.

„Deutsch war prägend für uns”, denn in seiner Familie sei deutsch beziehungsweise die hessische Mundart gesprochen worden bzw. werde immer noch gesprochen. „Wir babbeln so wie die Hessen”, sagt er und deutet auf die Herkunft seiner wolgadeutschen Familie hin: Pretzers Vorfahren kamen unter Katharina der Großen aus Südhessen, aus der Gegend von Darmstadt und Stockstadt, ins Zarenreich. „Meine Oma, die 1992 mit 89 Jahren gestorben ist, konnte kaum Russisch. Gerade sie prägte mich maßgeblich, denn ich wuchs mit ihr und meiner alleinerziehenden Mutter auf. Sie (Anm.: die Oma) war eine Art Betschwester, also ein Ersatz für einen Pfarrer, und hat Kinder getauft, Tote beerdigt und heimliche Versammlungen organisiert, bei denen man sehr auf der Hut sein musste, damit die russischen Nachbarn nicht misstrauisch wurden. So feierten wir auch Weihnachten ganz unauffällig. Ihr Wunsch war es eigentlich, dass ich evangelischer Pastor werde”, so Viktor Pretzer. Sein Dorf war ethnisch und sprachlich gemischt, wohingegen seine russlanddeutsche Frau aus einem „rein deutschen Dorf” stammte – es war nach seinen Angaben ein Verbund von drei deutschen Kolchosendörfern, in denen auch die Kolchosenvorsitzenden Deutsche war und wo auch die Kinder untereinander deutsch sprachen. Eine Erfahrung, die Pretzer auch in den 1980er und 1990er Jahren des Öfteren gemacht habe, als er mit dem Deutschen Staatstheater durchs Land fuhr: „Die Kinder in den Dörfern verstanden das Vorgetragene sofort und haben darauf reagiert”. Seine Frau hatte ab der ersten Klasse muttersprachlichen Unterricht, er erst ab der fünften Deutsch-Fremdsprachenunterricht. Der Sprachgebrauch in Russland und Kasachstan sei daher in seiner Generation der Mitte-Fünfzigjährigen von Familie zu Familie, Rayon zu Rayon, Ort zu Ort, unterschiedlich (gewesen).

Interessante oder vielmehr traurige Erlebnisse verbindet der Schauspieler mit der Fremdwahrnehmung der Russlanddeutschen: „Drüben waren wir Faschisten, hier sind wir Russen”. Dies führt er auf das Kriegstrauma in der russischen Bevölkerung zurück, wodurch diese einen Hass gegen alles Deutsche entwickelt habe, der den Verstand getrübt habe. So wurde Pretzer nach eigenen Angaben als Kind angegriffen und beschimpft, was er damals nicht verstehen konnte. Dies habe bei vielen Eigenschutzmechanismen ausgelöst: So sei oft die Nationalität im Inlandspass auf Russe geändert worden oder man habe den Namen von nichtdeutschen Familienmitgliedern angenommen. Auch in Deutschland waren die Erfahrungen keineswegs positiv: „Mein Sohn wurde als Kommunist beschimpft, an einem deutschen Gymnasium, obwohl er perfekt Hochdeutsch spricht. Was mich bestürzt hat: Kein Offizieller stellte sich hinter ihn. Deswegen machte er in Königsberg Abitur”.

Dennoch gelte für das Gros der 4,5 Millionen Russlanddeutschen in der Bundesrepublik: Sie haben sich nach Pretzers Eindruck etabliert, sind längst angekommen und sind gut integriert, wobei „wir Deutsche waren mit oder ohne Sprache, aber wir haben die fehlenden Teile einfach geholt.” Viktor Pretzer leitet heute die Landesgruppe der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Er beklagt sich darüber, dass das Land Schleswig-Holstein keine Unterstützung für den „Erhalt der deutschen Kultur, was wir mitgebracht haben”, gewähre, im Gegensatz zu Hessen, Bayern und Baden-Württemberg beispielsweise.

Dennoch will sich der Schauspieler und Kulturschaffende mit Hilfe seiner Interbühne für mehr Austausch einsetzen – nicht zuletzt war das der Grund, einen Abstecher zur JBG zu wagen.

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