Das zweite Schuljahr ging Mitte Juni an der neugegründeten Deutschen Nationalitätengrundschule Wudigess/Budakeszi zu Ende – Rektorin Mira Gölcz stellte sich den Fragen des Sonntagsblattes und zog Bilanz.
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SB: Frau Gölcz, was hat die DNSVW Wudigess dazu bewegt 2020 eine eigene Grundschule zu gründen? Wie ging die Neugründung vonstatten, organisatorisch und personell?
MG: Jede Nationalität in Ungarn hat das Recht auf Trägerschaftsübernahme oder Gründung einer sprachlich-ethnisch ausgerichteten Bildungsstätte. Um eine Schule dieses Konzepts zu errichten, die aus einer anderen Schule hervorging (István-Széchenyi-Grundschule, SZIA), wurden ab Mai 2020 eine Absichtserklärung der zukünftigen Lehrer sowie eine Betriebserlaubnis mit der dazugehörigen Bildungsbetriebsnummer sowie ein neuer Name der Schule initiiert. Ebenfalls wurde ein neues pädagogisches Konzept entwickelt, in Zusammenhang mit der Ausarbeitung des konkreten Lehrplans. Der staatliche Bildungsträger des Komitats Pest hatte zuvor die Zusicherung der Benutzung von 13 Klassenräumen in den Räumlichkeiten der Ausgangsschule SZIA bestätigt. Die offizielle Eröffnung fand dann im September 2020 statt.
SB: Welche Erfahrungen haben Sie in den letzten anderthalb Jahren gesammelt?
MG: Wie üblich bei strukturellen Veränderungen war es auch in unserem Fall ein hartes Stück Arbeit, dem neuen ethnischen Konzept Leben einzuhauchen und Strukturen zu schaffen, die den Schülern ermöglichen, sich wieder – wie ihre Eltern und Vorfahren – mit der deutschen Sprache und den typischen Traditionen und Bräuchen auseinanderzusetzen. Auch das Lehrerkollegium befindet sich ständig in Teambildungs- und Weiterbildungsprozessen. Das Ziel ist, in der nahen Zukunft eine möglichst homogene Struktur in der Schüler- und Lehrerschaft bezüglich des „deutschen Anteils” im Lehrkonzept zu schaffen.
SB: Erzählen Sie bitte ein wenig mehr darüber.
MG: Die Schüler wurden anfangs aus einem anderen Schulkonzept mit geringerem deutschsprachigen Anteil übernommen. Teilweise verfügen sie jedoch über eine Nationalitätenprägung durch Eltern oder Großeltern, dennoch war von den fünf Parallel-Klassen eines Jahrgangs nur eine am Nationalitätenprogramm beteiligt. Von den Lehrern stammen 23 aus der Ursprungsschule SZIA, 10 neue Lehrer kamen sukzessive dazu, darunter auch die Schulpsychologin und die Sozialpädagogin. Ständige Weiterbildung sowie Deutschsprachigkeit als grundlegendes Einstellungsmerkmal bei neuen Lehrern gewährleisten für die Zukunft eine Progression in der Deutschsprachigkeit des Lehrerkollegiums. Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Ansiedlung Deutscher in Ungarn gilt es, die deutsche – und speziell schwäbische Sprache – sowie die Bräuche und Traditionen in Form von Sprache, Tanz, Gesang, Musik, Dichtkunst, Speisen und Getränken lebendig zu halten und so die Identität der Ungarndeutschen zu stärken, zu erhalten und weiterzutragen. Augenblicklich werden in den A-Klassen eines jeden Jahrgangs der Oberstufe (Jahrgangsstufe 5-8) 35 % – ca 9 – 11 Stunden – pro Woche in deutscher Sprache gelehrt, in den B-Klassen nur das Fach Deutsche Sprache und Literatur in fünf Stunden, dazu eine Stunde Volkskunde.
SB: Welche Ziele haben Sie sich für die nächsten (fünf) Jahre gesetzt?
MG: Unser Zukunftsziel ist, die Oberstufenschüler auf sprachlich sehr hohem Standard auszubilden, um in der Lage zu sein, eine frühe „Abwanderung” in andere Schulen zu verhindern, aber auch um den Schülern den Zugang zu weiterführenden Ausbildungsstätten mit deutschsprachigem Standardangebot zu erleichtern. Eine Aufstockung des deutschsprachigen Lehrkörperanteils ist daher genauso wichtig wie Lehrangebote in den naturwissenschaftlichen Disziplinen sowie im Fach Geschichte in deutscher Sprache. Konkret streben wir deutschsprachigen Fachunterricht in 50 % der Unterrichtszeit an.
SB: Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit der Deutschen Selbstverwaltung beschreiben? Bestehen Kontakte zu weiterführenden Nationalitätenschulen, u. a. zum Schiller-Gymnasium in Werischwar/Pilisvörösvár und zum Deutschen Nationalitätengymnasium in Budapest?
MG: Erfolgreich betreibt der Deutsche Stadtrat in Wudigess schon seit Jahren den Kindergarten Kunterbunt/Tarkabarka óvoda. Diese Erfahrung gab Mut und Motivation zur Schulgründung. Eine Verbindung zwischen Kindergarten und Schule stellt nicht nur der Deutsche Stadtrat dar, sondern auch ein erfolgreiches Vorschulprogramm. Das sogenannte „Deutsch mit Hans Hase“-Programm des Goethe-Instituts ermöglicht eine erste, ernsthafte Erfahrung mit Sprachenlernen und bereitet die Kindergartenkinder spielend auf den schulischen Unterricht vor.
Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Selbstverwaltung ist lebendig. Wir informieren einander gegenseitig über die aktuellen Ereignisse und organisieren monatlich gemeinsame Sitzungen und Besprechungen.
Unsere Schule ist noch zu jung, unsere Schüler wählen derzeit lieber die naheliegenden Mittelschulen. Es spielt bei diesen Entscheidungen auch eine Rolle, dass die Mittelschulen wie „Schiller” oder „DNG” von uns ziemlich weit entfernt liegen; es würde morgens mehrere Stunden dauern durch die Stadt das DNG zu erreichen, nach Werischwar gibt es keine direkte Buslinie.
SB: Was motiviert Sie persönlich, sich am Aufbau der Grundschule zu beteiligen?
MG: „Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern und ihrer Schule bekommen: Wurzeln und Flügel.” Dieser Ausspruch von J.W. von Goethe bewegte den Deutschen Stadtrat in Wudigess, als er sich zum Ziel setzte eine selbstständige deutsche Nationalitätenschule zu gründen. Nach dem Abitur habe ich an der Fakultät für Grundschullehrer- und Kindergärtnerinnenbildung der Lóránt-Eötvös-Universität Budapest (ELTE) studiert, anschließend habe ich 12 Jahre lang als Nationalitätenlehrerin in Schaumar/Solymár gearbeitet. Fünf Jahre lang habe ich am Schiller-Gymnasium in Werischwar Volkstanz und Volkskunde unterrichtet. Ich bin als Pädagogiklehrerin, Mentorin und Bildungsreferentin tätig. Seit drei Jahren unterrichte ich an der Universität ELTE. Momentan bin ich PhD-Studentin an der ELTE PPK, der Fakultät für Pädagogik und Psychologie der Lóránt-Eötvös-Universität. Mein Forschungsthema ist die Geschichte und Gegenwart der Ausbildung von Grundschullehrern für die deutsche Minderheit in Ungarn und die Entwicklungsmöglichkeiten.
Nationalitätensprachunterricht sowie die Pflege der Traditionen und Bräuche stehen im Vordergrund im sog. Pädagogischen Programm der neu gegründeten Schule in Wudigess.
SB: Frau Gölcz, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Richard Guth.