Von San.-Rat Dr. Johannes Angeli
Vorwort
So manches kann der Mensch erleben, wenn er über 80 Jahre alt wird, lebte er aber in den letzten acht Jahrzehnten, dann umso mehr. Umso mehr auch, wenn er als Auslanddeutscher vertrieben wurde und schließlich aus der DDR geflohen in der BRD wieder eine neue Heimat gefunden hat! Vor Jahren hat mein damals 12-jähriger Sohn gelangweilt gestöhnt: „Ach Papa, bei dir war wenigsten noch was los.” Da konnte ich nur antworten: „Du weißt doch gar nicht, wie glücklich Du sein kannst, in dieser guten neuen Zeit leben zu können.” Keineswegs handelt dieser Rückblick – um mit Goethe zu sprechen – um „Dichtung und Wahrheit“, sondern um Wahrheiten aus den „Erinnerungen eines Ungarndeutschen“.
Gern hätte ich auf so manche mir aufgezwungene Ereignisse lieber verzichtet, aber die Weltpolitik und ihre Folgen haben den kleinen Mann – hier den kleinen 10-jährigen Jungen -mitgerissen, ob er wollte oder nicht. So wurden viele meines Namens aus dem kleinen ungarndeutschen Dorf vom Winde verweht – vom Winde der Weltgeschichte in alle Himmelsrichtungen.
Wie es mir erging, will ich aus der Sicht eines kleinen Jungen, eines Jugendlichen, eines Familienvaters und schließlich als zurückblickender Rentner aufschreiben – aufschreiben für die, die Ähnliches durchlebten, die uns vielleicht nur verstehen wollen oder gar nur für die Enkel unserer Zeit und unserer Familien.
Teil 5: Die Verbundenheit der Vertriebenen zur alten Heimat – Isszimmer heute
Wie ich schon in den vorangegangenen Teilen meiner Rückerinnerungen betont auf die nostalgischen Gefühle des Menschen zum Geburts- und Kindheitsort hingewiesen habe, blieb die innere Bindung der vertriebenen Isszimmerer über all die Jahre zu ihrem ehemaligen Heimatdorf unerschütterlich erhalten. Natürlich unterschiedlich vom Alter, aber selbst nach so vielen Jahrzehnten wird sie niemand auslöschen können, wofür ich nicht zuletzt mit dieser Schriftreihe mit über acht Lebensdekaden ein Beispiel liefere.
So habe ich sofort die erste beste Gelegenheit genutzt, um wieder nach Ungarn reisen zu können. Am Chemischen Institut der Universität Wesprim wurde im Feriensommer 1960 eine so genannte internationale Sommeruniversität abgehalten, was für einen deutsch-ungarischen Studentenaustausch genutzt wurde. Da ich als obligatorische zweite Fremdsprache zu meinem Studium Ungarisch gewählt und in Leipzig einmal wöchentlich ein Seminar in Ungarisch bei einem netten Professor aus Budapest hatte, kam ich in die Auswahl für den Studentenaustausch. So ging es dann in den Semesterferien 1960 mit weiteren sechs Teilnehmern aus der DDR mit dem Zug von Berlin nach Budapest und schließlich von dort nach Wesprim. Bestens untergebracht im Internat des Chemischen Instituts unter zahlreichen internationalen Teilnehmern bekamen wir in täglichen vormittäglichen Vorlesungen (mit Simultanübersetzung) über die Geschichte Ungarns, besonders aber der nahen Umgebung (u. a. Balaton, Herend, verschiedenen Burgen und Burgruinen), und vorzügliche Erklärungen über historische, geologische, wissenschaftliche und ökologische Hintergründe vermittelt, zumal nachmittags regelmäßig eine dem Thema angepasste Exkursion mit Bussen und Schiffen über das „Ungarische Meer” (Balaton) durchgeführt wurde. Wir kamen bezeichnenderweise in so entlegene Dörfer, wo die Kinder zusammenliefen, weil sie noch nie einen Schwarzen – auch Teilnehmer dieses internationalen Seminars – lebend gesehen hatten. So vielseitig und so intensiv habe ich Ungarn um den Balaton nie wieder kennen gelernt.
Am Wochenende hatten wir frei. Bei der erstbesten Gelegenheit fuhr ich heimlich und mit klopfendem Herzen von Wesprim mit dem Bus über Stuhlweißenburg nach Isszimmer zur Verwandtschaft. Es war wunderbar, die zahlreichen Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen und alte Schulfreunde treffen zu können, zumal gerade búcsú (Kirchweihfest) mit Besuchern von nah und fern war; nur gut so, denn so manchen habe ich im Leben nie wiedergesehen. Natürlich war manches kleiner und anders als in der Erinnerung, aber es war noch das alte ungarndeutsche Dorf, in dem man deutsche Mundart sprach und verstand; auch die Häuser und Straßen waren noch im Urzustand.
Schon jetzt begann ich mit den ersten Versuchen der Ahnenforschung zu den Angelis von Isszimmer. Bezeichnend war, dass der Pfarrer meinem Onkel und mir die Kirchenbücher nur für kurze Zeit im Pfarrhaus überließ aus Angst unter Spionageverdacht zu geraten – typisch für Ungarn der damaligen Zeit. Ebenso aber auch mein Verhalten: Als ein leitender Angestellter des Instituts in Wesprim eines Tages fragte, ob ich eventuell mit einem Arzt Dr. Angeli aus Stuhlweißenburg verwandt sei, wies ich es sofort von mir – aus Angst vor Komplikationen. Im Jahre 2013 traf ich aber sogar seinen Sohn bei unserer Bussippenfahrt nach Isszimmer zum Ahnenforschungsaustausch und 1998 bei der Glockenweihe zuvor sogar noch seinen Vater, den besagten Dr. Géza Angeli (geboren am 26. Juli 1927 in Isszimmer, verstorben am 11. Januar 2008 in Stuhlweißenburg), einen Verwandten meines Großvaters mütterlicherseits. Überhaupt sollte man hier für zukünftige Ambitionierte auf diesem Sektor oder erst recht für die Glücklichen die Endergebnisse schon in den Händen halten, `mal etwas detailliert aufzeigen, was Ahnenforschung bedeutet und wie sie die Verbindung zur alten Heimat und zu den Ahnen herstellt.
Zu einer erfolgreichen Erforschung seiner Herkunft braucht man damals wie heute eine intensive Leidenschaft, zähes Durchhaltevermögen, „kriminalistische” Kombinationsgabe bis peinliche Akribie und viel, viel Zeit. Die Nachforschungen waren 1960 natürlich äußerst schwierig. Man konnte in den alten Kirchenbüchern wohl seinen unmittelbaren Familienstammbaum mit Vorkenntnissen durch mündliche Überlieferungen leicht zurückverfolgen – also alles bestätigen lassen –, aber viel weiter als zum Urgroßvater reichte es meistens nicht. Erst durch spätere Kontaktaufnahmen mit verwandten Angeli-Pfarrern (Cousins meines Vaters) fand man noch einzelne Ergänzungen, aber richtig vorwärts kam ich erst, als ich Kontakt aufnehmen konnte zur Angele-Sippe in Ummendorf/Biberach und zu anderen Familienforschern. So besorgte mir Philipp Angeli aus Mannheim (leider kein Isszimmerer Angeli, sondern einer aus der Batschka) die Mikrofilme der Kirchenbücher von Isszimmer über die Mormonenforschungszentrale. Jetzt befanden wir uns, d. h. meine Frau und ich, jeden Abend in unserer dafür umfunktionierten Sauna und projizierten mit primitiven Apparaturen die Mikrofilme an die Wand, nahmen uns jeweils eine Dekade Geburts-, Hochzeits- und Sterbedaten vor, übersetzten die anfänglichen lateinischen Texte mit einem dicken Lateinwörterbuch, ebenso wie die ungarischen Texte aus den circa letzten 50 Jahren mit einem entsprechenden Wörterverzeichnis. Danach mussten die jeweiligen Teilnotizen in Einklang gebracht werden. Da ja die Kindersterblichkeit sehr hoch war, mussten immer Vergleiche mit dem Sterberegister der entsprechenden Jahre hergestellt werden – wegen der für die Nachforschung sehr belastenden Gewohnheit der Eltern damals, ihre Söhne so lange mit demselben Vornamen zu belegen, bis endlich einer überlebte, der aber bei seiner Heirat erst wieder in den Aufzeichnungen (Heiratsmatrikeln) auftauchte. Also äußerst strapaziös, zeitraubend und mühselig – ich sage scherzhafterweise heute noch immer: Das war anstrengender und nerven- und zeitraubender als die Erstellung meiner Doktorarbeit. Unsere noch kleinen Kinder, die uns endlich abends nach dem langen Praxisalltag sahen (Die Praxis war ja auch nach unserer Flucht über Ungarn im ebenso anstrengenden Neuaufbau.), stöhnten oftmals (und das mit Recht): „Geht ihr denn heute Abend schon wieder in die „Sauna” (zur Mikrofilmprojektion)? Als wir unsere mühseligen ein- bis zweijährigen Nachforschungen abgeschlossen und die jeweiligen Stammbäume aufgestellt hatten, organisierte der Sippenvater Johannes Angele in Biberach einen Papierabzug unserer Mikrofilme, der deren leichtere Nutzbarkeit ermöglichte und – zu unserer Freude – unsere schon aufgestellten Stammbaumreihen bestätigte.
Diese Dokumentationen reichten natürlich nur bis 1895, denn dann übernahm der ungarische Staat die amtlich gültige Registrierung. Fleißige, schriftgewandte Pfarrer von Isszimmer führten auch weiter ihre Kirchenbucheintragungen alten Stils und zum Glück für die Nachwelt oftmals sogar mit dem Hinweis, wohin Einzelne eventuell ihr Dorf verließen. Über unzählige Briefe, Telefonate und Anfragen bei staatlichen Institutionen und nicht zuletzt durch die freundliche Mithilfe kontaktierter Angelis von nah und fern konnte ich, – konnten wir erstaunlicherweise diese Ahnenreihe der Angelis aus Isszimmer bis in die heutige Neuzeit erstellen. Es gibt übrigens in der direkten Ahnenforschung der Angelis von Isszimmer zwei „Gordische Knoten”: Daran kann man bei Veröffentlichungen mancher „Ahnenforscher” immer erkennen, wer direkt mit den Kirchenbüchern vorschriftsgemäß ermittelt und wer nur von anderen einfach abgeschrieben hat – gut so für die Unterscheidung, denn immerhin haben wir zwei Jahre gebraucht, um den ersten „Knoten” zu lösen!
Mit dieser kurzen Zusammenfassung einer Stammbaumerstellung – im Endeffekt Arbeit von 55 (!) Jahren – wollte ich nur skizzieren, wie mühselig der Ablauf sein kann und wie schön es ist, wenn sich Mann und Frau gleich motiviert einbringen und sich sogar gegenseitig pushen, also antreiben. (Noch heute – siehe am Ende dieser Artikelreihe – suchen wir die Anbindung unseres Stammvaters nach Deutschland, denn erst dann hätten wir das Gefühl des ersehnten endgültigen Abschlusses und die Krönung unserer jahrzehntelangen Bemühungen gefunden zu haben.)
Nach dieser „Exkursion” in die Ahnenforschung wieder zurück in das Jahr 1960! Anschließend – nach Wesprim – waren wir Studenten noch eine Woche in einem Internat direkt auf der Burg von Buda(pest) bei Halbpension bestens untergebracht und konnten so bei ganztägiger Freizeit nach Herzenslust Budapest kreuz und quer per pedes erkunden. Seit dieser Zeit ist Budapest für mich die schönste Stadt im Osten Europas – mit seinem landschaftlich und historisch unverwechselbaren Flair, das heute teilweise der „Neuzeit” und seinen Einflüssen zum Opfer gefallen ist.
Später, als die Reisemöglichkeiten deutlich besser wurden, reisten wir gern und oft nach Ungarn, besonders im Zeitalter des „Gulaschkommunismus” unter Kádárs Realpolitik. Die Umtauschmöglichkeiten der DDR-”Papp”-Mark in Forint waren aber so extrem niedrig, dass wir Lebensmittel aller Art (Fleisch-, Wurst- und Milchkonserven, Mehl, Zucker, Reis, Nudeln u. a.) im Auto mitnahmen, und vor allem auch Tauschartikel (Bettwäsche, Haushalts- und Elektrogeräte u. a.), die wir zu Forint für die Urlaubskasse machen konnten. Untergekommen sind wir zeitweise in Isszimmer, aber auch auf der Datscha des Onkels am Balaton. Dort wurde im winzigen provisorischen Küchenanbau gekocht oder wir aßen unsere Wurst- und Fleischkonserven am Strand. Da saßen nun zwei langjährige Zahnärzte der DDR auf der Decke am Balaton und aßen aus ihren Konservendosen. Urlauber aus der BRD, die laut O-Ton diesmal Billigurlaub machen wollten, staunten und glaubten es erst nach mehreren Nachfragen, ebenso, dass man 10-13 Jahre auf ein DDR-Auto warten musste. Zum Trost – oder wie auch immer – wurde unsere Tochter mit deren Kindern oftmals zum Langos(ch)essen eingeladen. Abends schlichen wir an den Csárdas (Gasthöfen) vorbei, drinnen zechten und sangen die „Wessis”, und wir waren glücklich ein paar Forint für den „Pullovermarkt” in Siófok gespart zu haben. Unheimlich staatsmotivierend – aber wir hatten einen Ungarnurlaubsplatz, was damals einer kleinen DDR-Weltreise gleichkam.
Besonders die Eltern genossen freudig die Zeit, wieder mit Bruder, Schwester, Schwager und Schwägerin bei traditioneller Isszimmerer Kost zusammen sein zu können – dabei auch mithelfend beim Bau der Datscha am Balaton. Selbst Opa Stefan – damals schon Rentner – reiste nun aus Deutschland an, um endlich mal im Wasser des Balaton zu baden, was er kurioserweise aus Isszimmer, obwohl nur 40 km entfernt, sein ganzes Leben vorher nicht geschafft hatte. Budapest mit der Verwandtschaft in Werischwar/Pilisvörösvár und Sankt Iwan bei Ofen/Pilisszentiván war immer ein besonderer Anziehungspunkt, nicht nur wegen des besonderen Flairs, sondern für die Frauen – mit den vielen Boutiquen in den Hinterhöfen ganzer Straßenzüge entlang – ein Einkaufszauber, den wir aber nach 1989 vergeblich suchten. Er war verloren gegangen, wie so einiges, was wir an dieser Stadt so liebten: Der ungarische Charme war der „Verwestlichung”, dem neuzeitlichen Geldrausch zum Opfer gefallen.
Anfänglich waren wir fast jährlich sowohl vor und nach der Wende in Ungarn. Wir besuchten regelmäßig die meist ältere Verwandtschaft in Isszimmer und die in die Städte meistens abgewanderte „Jugend”. Gern erinnern wir uns an die eindrucksvollen großen Bauernhochzeiten – oftmals mit an die 200 Gästen und unserer gesamten Verwandtschaft – und an die lustigen Aktivitäten unserer Kinder miteinander, die trotz Sprachbarrieren den Weg zur Verständigung stets fanden (Lustige Episode: Mein Cousin Martin (Márton) wunderte sich, warum unsere Tochter seine Tochter namens Esther (Eszter) immer „Esztergom” rief. Auflösung: Das war nur die Aufforderung: „Eszter, komm (her)!”).
Als aber dann die Kinder in der pubertären Phase waren, wurde es immer schwieriger, weil sich die Kinder genierten sprachlich herumzustolpern. Selbst unsere Werischwarer, die in zweisprachige (deutsch-ungarische) Kindergärten und Schulen gingen, wollten nicht deutsch sprechen. Dadurch, dass die Großeltern entfernt wohnend wegfielen, die Eltern als nächste Generation (Cousin und Cousine) kaum Deutsch sprachen – erst recht nicht in den deutsch-ungarischen Mischehen, war – wenn auch nur im Dialekt – die Kette der ursprünglichen deutschsprachlichen Entwicklung zerstört. Der unbedingt nötige Kontaktaufbau für die nächste Generation, unsere Kinder, zerfiel leider immer mehr – trotz gegenseitiger Besuche, Unternehmungen und vielseitiger Bemühungen.
Wohl setzte nach 1990 mit der Einflussnahme der deutschen Wirtschaft in Verwandtenkreisen in Ungarn teilweise ein Umdenken ein, aber da es mit Isszimmer nicht mehr diese zentrale, stabile Anlaufstelle gab, wie es z. B. in Tschasartet/Császártöltés és Baaja/Baja (siehe unten) der Fall ist, erfolgte von Jahr zu Jahr immer mehr die Assimilation dieser jungen Verwandtschaft ins Madjarentum (Ungarntum) bis hin zur Unumkehrbarkeit. Sicher wird man „deutsch-ungarische Inseln” in Ungarn erhalten können, wie ich es so eindrucksvoll in Baja erlebt habe, mehr aber leider auch nicht.
Aber nun wieder zurück zu eindrucksvollen optimistischen Erlebnissen in unserem lieben Heimatdorf Isszimmer! Ein großer Höhepunkt und ein untrüglicher Beweis für die alten Heimatgefühle der Vertriebenen aus Isszimmer war die Glockenweihe am 30. 5. 1998 anlässlich des 50. Jahrestages unserer Vertreibung. Der „Verein für Frieden und Versöhnung” unter Vorsitz von Karl Kraus und Franziska Kullik, geb. Müllner (Halle an der Saale, Sachsen-Anhalt) – ehemalige Isszimmerer Mitschüler von mir – hatte mit großem Engagement und mit Hilfe der zahlreichen Spenden ehemaliger Isszimmerer bei der Fa. Perner in Passau die im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzene große Glocke „Erzengel Michael” für die St. Anna-Kirche von Isszimmer erneut gießen lassen. Zu Pfingsten 1998 wurde diese Glocke geweiht und im Kirchturm installiert – u. a. mit der Inschrift: „Zum Gedenken der Kriegsopfer, Flüchtlinge und Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges von den im Ausland lebenden Isztimérern (Isszimmerern) zum 50. Jahrestag der Vertreibung gestiftet.”
Neben den Honoratioren und Ehrengästen – u. a. den Bischöfen beider christlicher Konfessionen, dem Außerordentlichen Botschafter der BRD, S. E. Hasso Buchdrucker, dem Parlamentarischen Beauftragen für Minderheitenrechte, Dr. Jenő Kaltenbach, der Vorsitzenden der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen im Komitat Weißenburg sowie dem Vorsitzenden des St. Gerhardwerkes, Dr. Wendelin Hambuch, waren zahlreiche ehemalige Isszimmerer aus Deutschland, den USA, Kanada, aus Österreich und aus vielen Orten Ungarns angereist (insgesamt aus zwei Kontinenten, fünf Ländern und 119 Orten) und hatten für viele Tage Unterkunft bei Verwandten und in Hotels (u. a. in Moor/Mór) gefunden. So traf sich unsere ehemalige Isszimmerer Klassenstufe in erstaunlich hoher Anzahl im Hotel in Moor mit Angehörigen zu einem gemütlichen Beisammensein. Ich traf einen Verwandten meines Alters, mit dem ich seit seiner Flucht aus Ungarn (1956) in die USA im stetigen Briefkontakt gestanden habe, wie auch einen alten Klassenkameraden aus Isszimmer, der ebenfalls in die SBZ (später DDR) vertrieben worden war und in die USA ausgewandert ist. Ein paar Jahre später war er bei einem Deutschland-Trip auch bei uns hier zu Besuch.
Unterhalb der Kirche waren auch Großzelte mit langen Bänken und Tischreihen errichtet, so dass bei zünftiger Blasmusik, bei Bier und Wein alte Erinnerungen ausgetauscht werden konnten.
So kann man heute, 23 Jahre danach, mit Fug und Recht sagen: So ein großes Treffen und emotionales Fest unter den ehemaligen Isszimmerern wird es nie wieder geben. – Aber in bester Erinnerung werden diese Pfingsttage immer bleiben, weil sie so deutlich gemacht haben, dass selbst nach einem halben Jahrhundert mit so vielseitigen Ereignissen das Heimatgefühl und die innere Bindung der Ehemaligen zu ihrem Dorf ein Leben lang angehalten hat und weiter anhalten wird. An der Kirche, am Denkmal der Kriegsopfer, wurden berührende Reden gehalten und zu Versöhnung und Frieden aufgerufen, damit nie wieder Nationalismus, Krieg und Unheil über unser Heimatdorf und über uns alle kommen möge.
Übrigens wurde dieses Denkmal mit dem trauernden Soldaten an der Kirche schon 1942/43 nach dem frühen Heldentod von Dr. med. Heinrich (Henry) Angeli, einem Bruder meines Vaters (siehe Teil 2!), von seinen Geschwistern gespendet. Es kam aber wegen der Kriegswirren nicht mehr zur Errichtung, lag über Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft in Ungarn unter Gerümpel im Pfarrhof versteckt und konnte bezeichnenderweise erst nach der Wende auf einem Sockel neben der Kirche aufgestellt werden.
Ist Folgendes nicht auch ein Zeichen alter Verbundenheit zu Isszimmer und Ungarn? Was vermisst ein ehemaliger Isszimmerer in Deutschland an Obst am ehesten? Das sind doch Pfirsiche und Weintrauben! Als ich an der Gartengrenze zu meinem großen Garten eine lange, hohe Scheunenwand hatte, schrie diese förmlich nach einem Weinspalier und Weinanbau. So hatte ich schließlich zwar ca. 25 Pfirsichbäume mit wohl mäßigem Erfolg aufgrund von Spätfrosten, aber dafür eine ca. 40 m lange, freistehende Weinsüdwand mit Tafeltrauben mit großen Erfolgen. In Zusammenarbeit mit der Staatlichen Zentralstelle für Sortenwesen Nossen/Radebeul probierte ich viele Sorten aus (u. a. die ungarischen Sorten „Kossuth” und Szőlőkert királynője, d. h. „Königin der Weingärten”), wertete Ertrag und Verträglichkeit mit unserem Klima aus, um dann in der einzigen in der gesamten DDR erscheinenden „Gartenzeitung” mehrere Erfahrungsberichte zu veröffentlichen – auch mit der „Nebenwirkung”, dass ich danach allein in einem Jahr rund 40 Pakete Weinholzschnittreben an viele Interessenten – über die ganze DDR verteilt – verschickte bzw. ein Jahr danach einen ganzen Samstag von früh bis Abend Schnittholz an anreisende Leser der Zeitung direkt abgeben musste, da es diese köstliche Frucht im Handel nur sporadisch zu kaufen gab. Auch dieser Umstand dokumentiert die allseitige Mangelwirtschaft der DDR. Ich denke schon, dass ich in alter Isszimmerer Tradition durch meine Affinität zum Weinanbau so manchen Beitrag zur Verbreitung des Tafeltraubenanbaus in der DDR geleistet habe. (Kurioserweise erschien kurz nach der Wendezeit 1989/90 der letzte vor unserer Flucht eingesandte Artikel in der erwähnten Gartenzeitung und brachte mir – was vorher unüblich war – noch ein Honorar – und das in DM!). Übrigens steht heute eine über 30 Jahre alte, 12 Meter breite und 5,5 Meter hohe Weinwand aus Tafeltrauben in Nordhessen mit guten Ernteerfolgen; den Sprössling dazu haben wir – sage und schreibe – bei unserer Flucht 1989 aus unserem DDR-Garten mitgebracht.
In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass zwei Angeli-Brüder – aus Isszimmer stammend, wohnhaft nebenan in Fehérvárcsurgó – inzwischen eine Weinhandlung im Ort und mit Isszimmerer Weinen betreiben. Es sind die Brüder Josef und Karl Angeli, deren Eltern aus Isszimmer, Josef sen. und Adelheid (Etelka) Reichardt, inzwischen verstorben sind. Ihre Weine vertreiben sie u. a. als „Isztiméri Chardonay” und „Isztiméri Kékfrankos” (Blaufränkisch).
Schon mehrmals habe ich auf die Angele-Sippe in Ummendorf, Kreis Biberach, hingewiesen – hier nun Näheres.
Dort beschlossen im September 1949 neun Personen namens Angele unter der Führung des Pfarrers a. D. Albert Angele eine Sippengemeinschaft mit entsprechender Sippen- und Ahnenforschung zu gründen. Ihre Nachforschungen über Jahrzehnte erbrachte die Erkenntnis, dass in den Bauernhöfen an dem Fluss Riss – in den sogenannte Risshöfen – der Ursprung des Angele-Stammes lag. Dort belehnte das Hospital zum Heiligen Geist Biberach verschiedene Angele mit der Bewirtschaftung und laut Urkunden zu verpflichtenden Naturalabgaben.
Man kann deshalb annehmen, dass schon Jahrhunderte zuvor die Talauen der Riss von ihnen bewirtschaftet und sogar urbar gemacht worden waren. So stammt die erste urkundliche Erwähnung eines Angele (Angelin) immerhin vom 16. 8. 1405 – also vor 616 Jahren. Durch den schon 1949 gegründeten Sippenrat wurden alljährliche Sippentage organisiert (erster Sippentag 1949 schon mit 240 Besuchern!). Dort trafen sich dann Angele aus dem gesamten süddeutschen Raum bis hinein in die Schweiz und nach Österreich. Die Ahnenforschung bekam dadurch einen gewaltigen Schub. So wurden Anbindungen zu einzelnen Angele-Riss-Stämmen bis nach Leipzig, Görlitz, Berlin, Dresden, Hamburg, in die Schweiz (St. Gallen und Basel), nach Saderlach/Rumänien und Österreich gefunden – ja, sogar nach Ungarn und in die USA.
Somit kann man – ja, muss man annehmen, dass alle Angele ihre Urheimat im Schwabenland bei Biberach haben. In „Großungarn” (u. a. mit dem Banat, der Batschka und Sathmar) wurden sie im Rahmen der Magyarisierung einheitlich und willkürlich in Angelis unbenannt, so auch meine Vorfahren in Isszimmer, wie eindeutig in den dortigen Kirchenbüchern ersichtlich ist. Von dort gingen sie dann in die Welt hinaus als „Angeli”, ob in die USA, nach Südamerika, Europa oder gar wieder als Vertriebene nach Deutschland zurück. So schließt sich der Kreis über Jahrhunderte, den wir durch die jährlichen Sippentage erhalten und traditionell weiter pflegen sollten.
Ein sehr lebendes Beispiel hierfür ist die freundschaftliche Verbindung der Sippengemeinschaft mit Angelis von Südungarn aus Tschasartet. Vom Ahnenforscher Philipp Angeli (1922-2013) aus Mannheim – ursprünglich aus der Batschka (Gakowa) stammend – und vom örtlichen Heimatforscher und Lehrer Matthias (Mátyás) Angeli (1931-2017) initiiert sind seit 1989 eine feste Bindung und vielseitige Familienfreundschaften entstanden. Die ungarndeutschen Freunde kommen vorjährig zum Sippentag nach Deutschland und im folgenden Jahr fährt um Pfingsten dann ein Reisebus mit Angele nach Südungarn. So fuhr auch Pfingsten 2013 (17. – 22. Mai) ein vollbesetzter Bus von Ummendorf nach Tschasartet – und auch ich war dabei.
Gleich im Voraus: Ich war begeistert, begeistert von dem herzlichen Empfang: Viele Schwaben hatten schon „Patenschaftsfamilien”, bei denen sie wohnten, – abendliche Treffen in der Gastsstätte oder in den beeindruckenden Weinkellern in der Kellergasse bei deftigem Essen und guten selbstgekelterten Weinen, Picknick im Akazienwald mit am offenen Feuer gekochten Kesselgulasch, Essen im traditionellen Fischrestaurant an der Donau nach einer lustigen Bootsfahrt auf derselben, sowie eine traditionelle Reitervorführung in der nahegelegenen Révér-Puszta u. v. m.
Tolle Erlebnisse, aber am Eindrucksvollsten fand ich das noch immer lebendige Ungarndeutschtum im Ort mit seinem ungarndeutschen Heimatmuseum: Originalgetreue Stuben mit den entsprechenden Bauermöbeln, die Küche mit Originalgegenständen und Geschirr, die Nebenräume mit den alten landwirtschaftlichen Geräten und Werkzeugen – für mich war es, als ob man mich wieder in meine Kindertage zurückversetzt hätte; ich sah und träumte!
In diesen Rahmen passte auch der Besuch im 35 km entfernten Bildungszentrum in Baja. Hier wurde, auch mit Hilfe deutscher Firmen, ein ungarndeutsches Internat-Schulsystem errichtet – vom Kindergarten über die Grundschule bis zum Gymnasium mit Abitur. Hier war noch, wenn auch nicht das „Schwabentum”, aber doch das Deutschtum in Mischform erhalten – ganz im krassen Gegensatz zu meinem Heimatdorf Isszimmer, das ich auf der Rückreise meiner Busgesellschaft zeigen konnte.
Mein Cousin aus Fehérvárcsurgó, Josef (József, Joschka) Angeli, ehemaliger tsz- (LPG-) Agronom(us) von Isszimmer, hatte die frühe Öffnung des Wirtshauses organisiert, selbst gekelterten Wein bereitgestellt und vor allem auf dem Friedhof durch die Gemeindehilfe die Freilegung der z. T. stark mit Gras und Gebüsch zugewucherten Uraltgrabsteine erreicht. Es war schon ein aufsehenerregendes Ereignis für die Dorfbevölkerung, als wir mit dem großen, vollbesetzten deutschen Reisebus einfuhren. Dafür staunten aber die Angele aus dem Schwabenland über die vielen Angeli-Grabstätten auf dem Friedhof (O-Ton: „So viele Angeli-Gräber haben wir auf einem Friedhof noch nie gesehen”). Deshalb kann man in Abwandlung der berühmten spartanischen Grabinschrift getrost sagen: „Wanderer, willst du die Angelis von Isszimmer sehen, dann musst du auf den Friedhof gehen!” Ja, so ist es mit den Angelis von Isszimmer! Auf dem Friedhof kann man noch erkennen, wie zahlreich sie hier einst waren. Aber jetzt leben im Dorf nur noch zwei, drei alte Angelis (u. a. eine Tante von mir). Der große Stamm der Angelis floh, wurde vertrieben oder ist ausgewandert in alle Welt, zumindest in ungarische Städte. Dort sind sie alle – wie ich bei meinen Nachforschungen bis in die Gegenwart erkennen konnte – bestens integriert, haben Haus und Land erworben (typische Schwäble), berufliche Erfolge erzielt, was sie in Isszimmer nie erreicht hätten, aber dennoch sind die nostalgischen Gefühle für ihr Dorf Isszimmer geblieben, nicht zuletzt eindrucksvoll demonstriert bei der Glockenweihe 1998.
Ich werde – wie so oft – in diesem Jahr 2021 wieder nach Ungarn reisen – zur Badekur nach Hévíz. Ich freue mich darauf, meine einfachen ungarischen Sprachkenntnisse wieder auffrischen zu können, aber ob ich nach Isszimmer komme oder je wieder dahinfahre, möchte ich stark bezweifeln. Isszimmer ist mir, ist uns mit den Jahren immer fremder geworden. Es wohnt nur noch eine fast 90-jährige Tante dort. Die Jugend ist nach dem Volksaufstand von 1956 geflohen – bis in die USA – oder später im Zuge der Landflucht in ungarische Städte (besonders Stuhlweißenburg) abgewandert; die Dorfsprache ist nun rein Ungarisch, bedingt durch die Dominanz der staatlich angesiedelten telepesek – die Häuser sind umgebaut, so manches verfallen.
Isszimmer, das „alte” ungarndeutsche Dorf war einmal! Diese Erkenntnis schnürt mir traurig das Herz zusammen. Mit der Vertreibung, Aus- und Abwanderung der Deutschen haben die Nationalungarn das erreicht, worauf sie Jahrzehnte, gar Jahrhunderte hingearbeitet haben. Die deutsche Geschichte von Isszimmer – besonders auch die der Angelis – ruht auf dem Friedhof in den Gräbern der Ahnen.
Diese Frage müssen sich die Madjaren gefallen lassen: Hat die Liquidierung des Deutschtums Ungarn genutzt oder doch nur geschadet?
Bei den vereinzelten aber vergeblichen Versuchen der Reaktivierung dessen, was man über zwei Generationen ausgerottet hat, bleibt doch das Gefühl des schlechten Gewissens. Oder hat gar die Erkenntnis zugenommen, welchen Verlust die ungarische Nation durch diese Politik und nationalistische Denkweise erlitten hat?
Warum ist kein Nationalungar oder Historiker bis jetzt auf die Idee gekommen, dass die Ungarndeutschen die „Hugenotten Ungarns” waren, so wie es die echten Hugenotten für Hessen, Preußen und Deutschland waren? Deutsche Herrscher haben das Potenzial erkannt und genutzt, Ungarn hat es in seinem kleinlichen, nationalistischen Denken stets verkannt. Leider muss man auch heute, im Zeitalter des vereinten Europas, noch immer erkennen, dass gewisse Mächte in Ungarn immer noch in der kleinstaatlichen Denkweise stecken geblieben sind. Aus dieser Erkenntnis heraus bin ich heute ein bewusster Deutscher und Hesse, bin aber traurig darüber, dass meinen Eltern Land, Haus und Hof einfach weggenommen wurden – alles, was die Ahnen über Jahrhunderte in harter Arbeit aufgebaut hatten.
So verbindet mich heute mit Ungarn eine eigenartige Hassliebe. Ich werde auf die Entwicklung Ungarns immer mit besonderem Interesse schauen, werde mich darüber freuen, wie gut es mir in Deutschland – im Land der Vorfahren – wieder geht, bin aber für meine unmittelbaren Vorfahren verbittert, dass sie so aus Ungarn gehen mussten, ja, geradezu verjagt wurden.
Mir persönlich fehlt als ungarische Wiedergutmachung eigentlich nur mein deutscher Familienname. Die ungarische Nationalbürokratie hat ihn mir genommen, damit ich als Deutscher nicht mehr erkennbar bin (Angele – Angeli). Jetzt wieder zurück in Deutschland, werde ich als Italiener („Anscheli„) identifiziert, – ja, so schwer ist es, ein echter Deutscher zu werden. Wenn das nicht eine Ironie einer Lebensgeschichte, meiner Lebensgeschichte als Ungarndeutscher ist?
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Suchanzeige – neuester Stand der Ahnenforschung (24. 2. 2023)
Franziscus Xaverius Angele, der Stammvater aller Angele/i von Isszimmer/Isztimér, wurde am 06. 11. 1730 in Sulmingen bei Biberach geboren. Als Eltern sind Joannes Georgius Angele und Catharina Nüsser/Niesser im Kirchenbuch angegeben. Deren Heirat und sonstige Daten konnten im Ursprungsgebiet aller Angele/i bisher nicht gefunden werden, vor allem die Anbindung an die dortigen bis 1405 dokumentierten 16 Angele-Hauptstämme des Risstales. Erbitte Hinweise unter johannes-angeli@gmx.de.