Von Prof. em. Dr. Josef Bayer
Diesen alten Spruch hat jemand unlängst beschwört in einem freundschaftlichen Gespräch, und ich war zutiefst verstört darüber. Er stürzte mich ins Nachdenken – wieso ist er wieder aufgekommen? Meine Generation ist noch in der Hoffnung aufgewachsen, dass die notorische, geerbte Armut in unserem Lande durch Fortschritt bald aufgehoben wird. Es sah so aus, dass die Welt sich langsam hin zu einer Abschaffung von Armut entwickelt – egal, ob im Sozialismus oder in einem kapitalistischen Wohlfahrtsstaat. Dank den sozialen Reformen und den Errungenschaften von Wissenschaft und Technik werde die absolute Armut verschwinden. Armut bleibe höchstens ein Problem der „Dritten Welt“, aber auch dort werde sie bald in den Griff bekommen. Die maßgebenden Länder in den Vereinigten Nationen setzten sich sogar zum offiziellen Ziel, die weltweite Armut bis zum Jahr 2030 zu überwinden.
Armut ist, zugegeben, ein relativer Begriff. Es hängt auch davon ab, welche Bedürfnisse als allgemein berechtigt anerkannt werden und deren Befriedigung sozusagen moralische Pflicht werden sollte in einer Gesellschaft. Es gibt auch eine Grenzziehung zwischen Armut und ihrer extremen Form. Nach Angaben der Vereinten Nationen von 2020 lebt etwa die Hälfte der Menschheit in Armut, die um die 2 Dollar Einkommen pro Tag definiert wird. Es existiert aber auch ein strikteres Maß: Demnach zählt 1,25 Dollar pro Tag als extreme Armut, und diese sollte bis 2030 verschwinden. Solcher Betrag zählt als Minimalbedingung zum physischen Überleben, und die extreme Armut ist tatsächlich weltweit zurückgegangen in den letzten Jahrzehnten. Dies war vor allem dem Einstieg der bevölkerungsreichsten großen Länder, wie Indien und China, in den Prozess der Globalisierung der Weltwirtschaft zu verdanken. Der Anteil der extremen Armut soll nach Statistiken bis heute auf 10 % der Weltbevölkerung gesunken sein.
Aber inzwischen trat die Armut erneut mit einem anderen Antlitz in entwickelten Gesellschaften auf. So geschah es auch in unserem Land seit dem Systemwandel. Ihre Gründe sind komplex: wachsende Arbeitslosigkeit, steigende Zahl von Obdachlosen, oft wegen zerbrochener Ehen, verwaister Kinder und unversorgter Alten. Es gibt zwar auch selbstverschuldete Armut, wegen Alkoholismus und unbekümmerter und unverantwortlicher Lebensführung anderer Art; wie auch selbstverschuldete Unmündigkeit existiert, deren Überwindung einst die Aufklärung versprochen hatte. Wenn solche Tendenzen massenhaft auftreten, müssen dahinter aber soziale Gründe stecken. Es wäre ein Selbstbetrug, die Verantwortung für die wachsende Armut in die Schuhe der Armen selbst zu schieben oder sogar die Armut zu ethnisieren (bei uns dienen dazu die Zigeuner), wie das oft geschieht. Gewiss sind die veränderten Eigentumsverhältnisse, der Abbau ganzer Industriezweige und die neoliberalen Reformen des Staates, unter dem Motto: „es gebe keine unentgeltliche Suppe“, mit im Spiel. Der Staat zog sich immer mehr von der Verantwortung für öffentliche und soziale Dienstleistungen zurück. Die sogenannten sozialen Netze sind so zerfetzt worden, dass heute immer mehr Menschen durch ihre Löcher fallen. Empathie und Solidarität den Armen gegenüber ist infolge solcher Änderungen sehr zurückgefallen in unserer Gesellschaft. Gleichgültigkeit oder gar Zurückweisung der puren Sicht der Armen ist keine anständige Reaktion. Öffentliche Schikanen gegen Obdachlosen, statt ihre prekäre Lage irgendwie anzupacken; und die Verjagung der Bettler vor dem Kirchentor, wovon mal berichtet wurde, beide sind moralisch inakzeptable, falsche Reaktionen auf das Problem, das letztlich strukturelle Ursachen hat.
Alle modernen Gesellschaften sind geschichtet nach verschiedenen Einkommensgruppen. In der Mitte mochte sich wenig verändert haben, aber an den Rändern zeigen sich die Klüfte klar. An der Spitze der Einkommensleiter erscheint eine Schicht der „Neureichen“, welche sich mit ihrem neuen Reichtum protzen und eine Art Prestigekonsum zur Schau stellen. Auf der unteren Ebene sieht man zwei verschiedene Gruppen. Einerseits breitet sich eine Art Konsumidiotismus aus – die Leute schaffen sich alle unnötigen Dinge in dieser üppigen Warengesellschaft an, die ihnen von der ununterbrochenen Flut von medialen Werbungen aufgenötigt werden. Sehr oft nur um zu zeigen, was sie sich nicht alles erlauben können, auch wenn sie sich das eigentlich nicht leisten dürften. Es ist gewiss schwer zu verkraften, das Sinken im sozialen Status anzuerkennen, das stört die eigene Identität. So verschulden sie sich, womit sie ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder ruinieren. Zweitens wächst die Zahl auch jener, die sich das Notwendigste entbehren müssen – besonders an entlegenen Gegenden, wo nicht genügend Arbeitsmöglichkeiten und daher zuverlässige Einkommensquellen vorhanden sind. Die Statistiken schätzen die Zahl solcher Menschen sehr hoch an – bis auf ein Fünftel der Bevölkerung.
Mich stört weniger die Ungleichheit selbst, die sich in allen modernen Gesellschaften auftut, sondern die Misere der Menschen, welche die untersten Zehntel der Einkommensleiter ausmachen. Es gab auch früher Armut in ihren verschiedensten Schattierungen, und nicht nur in der Vorkriegszeit, sondern auch noch in Zeiten des egalitären Sozialismus. Es gab jedoch eben deshalb auch eine Tradition der „anständigen Armut“ (was auf Ungarisch „tisztes szegénység“ genannt wird.) Das schmale Einkommen der Arbeitenden wurde strikt eingeteilt, so dass immer das Nötigste im Vordergrund zu stehen hatte. Viele Menschen sind noch in solchen Familien aufgewachsen (mich selbst einbegriffen). Man fühlte sich oft nicht einmal echt arm, sondern nur mittellos. Das Essen, ordentliche und saubere – wenngleich gestoppte – Kleidung, die nötigen Dinge für die Schulung der Kinder usw., all das war gesichert, aber kaufen konnten sie sich weitere Dinge kaum.
Eine solche Kultur scheint heute, in unserer von Waren überfluteten „Wegwerfgesellschaft“, fast verloren gegangen zu sein. Die ärgste Armut breitet sich inmitten des größten Reichtums aus, das je angeboten wurde. Ich persönlich hätte z. B. nie gedacht, dass wir in Ungarn in einen Zustand zurückfallen können, in dem viele Kinder wieder hungern müssen, in einem Land, das immer von den besten Bedingungen für Landwirtschaft berühmt gewesen ist.
Aber wo bleibt die Solidarität, die Empathie den Armen gegenüber, wo bleibt die Hilfebereitschaft für die Bedürftigen heutzutage? In früheren Gesellschaften haben verschiedene kommunale, kirchliche Einrichtungen und andere gemeinschaftlich gesinnte zivile, humanistische Organisationen den armen Menschen geholfen. In unseren ungarndeutschen Dorfgemeinschaften war das nicht weniger der Fall. Gegenseitige Hilfe, sogar nachbarschaftliche Aushilfe in Not war ziemlich weit verbreitet. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft, die auf steten Wettbewerb besteht, und der weitgehenden Individualisierung der Gesellschaft verringert sich solche Hilfsbereitschaft.
Wenn aber dafür bürgende Gemeinschaften nicht mehr da sind, müsste der Staat für soziale Leistungen einstehen oder wenigstens karitative, zivile Organisationen unterstützen, die sich dafür engagieren. Die Caritas allein kann die sozialen Probleme, welche mit wachsender Armut einhergehen, nicht lösen. Altruismus ist dennoch wichtig und sollte gar nicht unterschätzt werden, stehe dahinter religiöse, kommunale oder gar patriotische Gesinnung.
Die weltweite Initiative der Einführung von „Welttage der Armut“ ist diesbezüglich eine ständige Mahnung, um die Frage überhaupt auf der Tagesordnung zu halten. Der katholische Kirchenvater Papst Franziskus hat aus diesem Anlass in seiner Rede (am 12. November in Assisi) die Verantwortung, sich für die Armen einzusetzen, aus moralischen und religiösen Gründen stark betont. Nach ihm führe die Armut auch zu einer seelischen Ausgrenzung, die die Misere der Armen noch weiter vertiefe, und forderte daher die Menschen zum Mitgefühl und Hilfe auf. Dabei forderte er die verantwortlichen Machtträger und Wirtschaftsleiter auf, gegen die bestehende ungerechte Verteilung des Reichtums aufzutreten.
Die jetzige Pandemie verschlechtert noch die Lage, weil sie zu Störungen in der Produktion und Engpässen in der Verteilung führt. Das betrifft auch die Lebensmittelversorgung und die Verteuerung der Nahrungsmittel wegen steigender Inflation. Hoffentlich werden diese nur provisorisch wirken und die Tendenz, Armut weltweit zu bekämpfen, hält an. Kriege und Bürgerkriege, Vertreibungen und eine durch Klimaänderung verursachte Migration können in einigen Regionen der Welt die Situation trotzdem verschlechtern.
Die anstehende Verbreitung von Roboter in Produktion, Kommunikation und Verkehr mag das Problem wachsender Armut in der Zukunft nicht mindern, sondern noch weiter zuspitzen. Bald mögen viele Beschäftigten ihre Arbeit in den entwickeltesten Ländern verlieren. Die Einsetzung der „künstlichen Intelligenz“ und der Roboter vermehrt zwar das Reichtum enorm, aber die Hauptfrage ist, wie dieser in der Gesellschaft verteilt wird. Als eine Lösung gegen eine Schar von „überflüssigen Menschen“ wird neulich die Einführung des „bedingungslosen Grundeinkommens“ angeboten. Einem jeden Einzelnen soll aufgrund seiner Menschenrechte ohne Einschränkungen eine minimale, regelmäßige Summe zugeteilt werden, wovon er überleben kann. Die Angst der Wirtschaftsführer, dass ohne die „Peitsche der Not“ niemand zur Arbeit bereit sein wird, ist nicht überzeugend, wenn ohnehin keine bezahlte Arbeit für alle vorhanden ist. Experimente mit der Einführung eines solchen Systems von Finnland bis die USA zeigen, dass die Menschen sehr wohl auf andere und weitere Anreize reagieren und bereit sind, über das Grundeinkommen hinauszugelangen. Die kritische Frage bleibt dann, was die Menschen mit der vermehrten freien Zeit anfangen. Wofür wird sie benutzt, für welche geistige, moralische, kulturelle Belangen werden sich die Menschen engagieren? Eine Frage, die jedoch zum Glück weit über die Angst vor der Verewigung von Armut hinausweist.