Wie es angefangen hat. Heroische Jahre der Kolonisation von Kötsching/Kötcse (1700–1730)

Von Prof. Dr. Zoltán Tefner

Teil 6

Die Lage jener so aus der Familienerbschaft ausgeschlossenen Kinder war also ziemlich hoffnungslos. Auswege daraus gab es vor Luther noch mehr als nach Luther. Der große Reformator ließ nämlich die Kirchenorden auflösen, die bisher viele dieser mittellosen Menschen aufgenommen hatten, und so blieb jenen aus der Hinterlassenschaft Ausgeschlossenen nichts anders übrig als der Militärdienst oder die Auswanderung oder oft auch die Kombination beider Alternativen. Diese Auswanderungsgründe spiegelten die allgemeine Krise  der westlichen Hälfte Europas wider.

Speziell lokale Probleme stellten in Hessen, der Pfalz und in Fulda immer wieder Großbrände dar und die gegen die Franzosen entlang der Grenze errichteten Winterquartiere für Söldnertruppen. Die Söldner verhielten sich während der langen Wintermonate äußerst gewalttätig gegenüber der Bevölkerung. Söldner haben Peter Hirsch und Kaspar Arlheiliger – spätere Tolnauer Kolonisten – im Winter des Jahres 1713 Kleeheu im Wert von 2 Gulden gestohlen.

Ein spezifisch hessisches oder oberhessisches Problem bedeutete die Verbreitung der Parforcejagden. Die „Parforce-Jagd”, eine von Ernst Ludwigsehr geschätzte Unterhaltung, die ihren Ursprung in Frankreich hat und sich später auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreute. Dabei zogen ganze Jagdtruppen mit mehreren hundert Jägern, Pferden und Hunden quer durch die Äcker, wodurch allerdings die mühsame Arbeit der Landbauer, die diese Felder bestellt hatten, zugrundegerichtet wurde. Eine Entschädigung für die auf diese Art zerstörten Saatkulturen wurde freilich nicht in Aussicht gestellt. Damit man aber nach etwas jagen kann, wurde eine intensive Wildtierzucht betrieben, und was Pferde und Hunde noch nicht niedergetrampelt hatten, besorgte der nun größer werdende Wildbestand. Im hessischen Landkreis Alsfeld, im Ort Rainrod, stand das landgräfliche Jagdschloß, es diente als Ausgangspunkt dieser Jagden.

Die Bauern der unmittelbaren Nachbarschaft erlitten dabei natürlich die größten Verluste; der Umstand, dass sich der Auswanderungswelle der 1720er Jahre vor allem Auswanderer aus eben diesem Raum anschlossen, verwundert daher auch nicht. Diese Treibjagden wiederholten sich oft mehrmals an einem Tag und als Treiber fungierten die hiesigen Bauern.

Zu den weiteren Auswanderungsursachen zählten noch die Pestilenzen, die den Viehbestand dezimierten, ebenso Saatschäden, die durch Vogelschwärme verursacht worden und eine grenzenlose Fantasie Ernst Ludwigs beim Erfinden neuer Steuern und bei der Einführung einiger Sondersteuern, wie die der „Dammbausteuer”, der Schlosssteuer”, der „Wildparkabgabe” usw.

Obwohl das Verhältnis zwischen dem Herrscher und seinem Volk eher feindlich gestimmt war, gibt es auch Beispiele für Versuche, die das Volks schätzte. Nicht nur bei Ernst Ludwig, sondern auch beim zweiten hessischen Staatsoberhaupt, Karl von Hessen-Kassel, können solche „volksbeglückende” Charakterzüge beobachtet werden. Das Volk versuchte in seiner Verzweiflung und Leichtsinnigkeit, nach dem Motto carpe diem, den Sinn des Lebens in ausschweifenden Amüsements zu suchen. Kostspielige Veranstaltungen (Hochzeit, Kirchweihe, Taufe, Trauermal) wurden mit großer Verschwendungssucht begangen, die Feierlichkeiten und besonders die Kirchweihfeste dauerten mehrere Tage lang.

Der Souverän ersann jedoch eine eigenartige Lösung, um seinem Volk zu „helfen”, indem er diese Feste einfach verbot. Neben Ernst Ludwig und Karl waren der Kurfürst von der Pfalz und der Erzbischof von Fulda ebenfalls nicht ganz frei von derlei „wohlmeinenden Gesten”, besonders dann nicht, wenn diese kostspieligen Veranstaltungen ihre Steuereinkommen gefährdeten. Die Auswanderer haben allerdings diese „vergeuderischen” Bräuche nach Kötsching mitgebracht, wo sie von niemandem mehr verboten werden konnten.

Die „Güte” genannter Herrscher zeigte sich auch dann, als der Kaiser auf deren Untertanen zwecks Ansiedlung Anspruch erhob und sie den kaiserlichen Forderungen auch tatsächlich nachkamen. Als aber ein Punkt erreicht worden war, der über ihre Vorstellungen hinausging, versuchten sie, die Auswanderungsbestrebungen ihrer Untertanen aufzuhalten, was aber aufgrund des großen Zuspruchs nicht mehr möglich war. Zwar flohen schon zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges Menschen vor Seuchen und vor dem Krieg selbst, aber diese bewusste, planmäßige (man kann auch sagen: kampagnemäßige) Aussiedlung – im Vergleich mit jenen von früher – war von ganz anderer Qualität, denn das Reiseziel war nicht nur Ungarn, das Banat, der Raum  Branau-Tolnau-Schomodei, die „Schwäbische Türkei”. Denn sowohl im 18. als auch im 19. Jahrhundert umfasst die Migration hessischer Auswanderer die ganze Welt und nur die erste große Welle von 1722/23 war auf das Banat, das Tokaj-Gebiet und infolge einiger abenteuerlicher Ereignisse auf die Schwäbische Türkei gerichtet.

Und schon um 1748/49 beobachtet man eine neue Welle in Richtung Norden, in die von Preußen beherrschten pommerschen und ostpreußischen Gebiete, die mehr oder weniger mit der amerikanischen Auswanderungswelle zusammenfällt: Im Jahre 1754 wird nämlich New-England als mögliches Auswanderungsziel des Öfteren erwähnt. Es war eine allgemein bekannte Tatsache, dass manche Fürsten ihre Untertanen den Engländern zum Militärdienst verkauften, um sie im amerikanischen Freiheitskrieg gegen die Aufständischen einzusetzen. Also wenn wir aus der Perspektive von 300 Jahren das Wie und Warum der Ereignisse zu beurteilen brauchen, können wir ruhig aussprechen: Die heroische, nicht selten Menschen erprobende Landnahme in Kötsching war immer noch eine bessere Lösung, als in einem fremden Land, für fremde Interessen zu sterben.                                                          (Fortsetzung folgt)

Folgen Sie uns in den sozialen Medien!

Spende

Um unsere Qualitätsarbeit ohne finanzielle Schwierigkeiten weitermachen zu können bitten wir um Ihre Hilfe!
Schon mit einer kleinen Spende können Sie uns viel helfen.

Beitrag teilen:​
Geben Sie ein Suchbegriff ein, um Ergebnisse zu finden.

Newsletter

Möchten Sie keine unserer neuen Artikel verpassen?
Abonnieren Sie jetzt!