Solange noch…

Deutscher Gemeinderat und Deutschclub Tarian/Tarján starten im Pandemiejahr ein besonderes Projekt

Von Richard Guth

„Wir sind vor einem Jahr in der Faschingszeit auf die Idee gekommen, das war während der Kneipenolympiade; Ideengeber war ein guter Freund, der Filmemacher Blasius Eckhardt: eine Interviewserie mit Schwaben durchzuführen, die die Mundart noch sprechen. Die Vorbereitungen zogen sich bis Mai hin, aber dann waren wir startklar”, berichtet Stefan Fülöp, Vorsitzender des Deutschen Gemeinderates Tarian. Der Deutschclub war nach Fülöps Angaben von Anfang an in das Projekt involviert, für Kamera und Schnitt sorgte der Betreiber des lokalen Fernsehens „Falu TV Tarján”, Martin Prech. „Das KickOffMeeting fand im Mai statt, erste Interviews wurden im Juni geführt und das Projekt endete vorläufig, auch pandemiebedingt, Ende Oktober”, so Fülöp. Auf Sendung ging die zehnteilige erste Staffel (Tarianer Geschichten) im Dezember. Pro Monat soll ein Interview an die Öffentlichkeit gehen. „Danach streben wir einen Generationswechsel an: Während in der ersten Staffel die Jahrgänge 1920-1940 interviewt wurden, sollen in der zweiten Phase des Projekts die Jahrgänge 1940-60 folgen”, so der Tarianer.

Was eine mögliche dritte Staffel anbelangt, zeigt sich Stefan Fülöp eher skeptisch: „Ich glaube, die jüngeren Jahrgänge wären  bis auf ein-zwei Ausnahmen  nicht mehr in der Lage, ein Gespräch in der Mundart zu führen. Das Ganze ist eine Last-Minute-Aktion, um das Mundarterbe auf diese Weise zu  bewahren.”

Eine der wenigen Ausnahmen ist Anna Maria Pilczinger, Jahrgang 1968, die einen Teil der Interviews führte. Bei Pilczinger war es das Elternhaus, das dafür gesorgt hat, dass sie die Mundart auch heute noch spricht. Die Absolventin des Budapester Kossuth-Gymnasiums ist Leiterin des Kindergartens in Tarian und lebte lange Jahre in Baden-Württemberg. „Das Projekt »Tarianer Geschichten« habe ich auch von Anfang an unterstützt. Es ist wie gesagt, eine Last-Minute-Aktion, die jetzt noch lebende Mundart zu retten. Da mir die Sprache in die Wiege gelegt worden ist, habe ich mich gerne bereit erklärt, alte Menschen aufzusuchen und mit Ihnen Gespräche zu führen. Es war eine sehr interessante und mich bereichernde Erfahrung. Manche Menschen haben ihr Leben, wie in einer Lebensbiographie zusammengefasst. Manche Gespräche waren schwer, denn es hat in den Menschen Wunden der Vergangenheit aufgerissen. Im Allgemeinen kann ich aber sagen, dass die Befragten stolz darauf waren, dass sie uns über die Vergangenheit erzählen »durften« und wir können uns glücklich schätzen, dies miterlebt zu haben“, so Pilczinger.

Auch die anderen Interviewführerinnen sind ehemalige Schülerinnen des Kossuth-Gymnasiums, das eng mit dem Namen der Tarianer Deutschpädagogin Theresia Lunczer verbunden ist, die lange Jahre am Kossuth und dann am Deutschen Nationalitätengymnasium unterrichtet hat. Als Mitglieder des Deutschclubs standen die Interviewführerinnen nach Erinnerungen von Stefan Fülöp von Anfang an hinter dem deutschsprachigen Projekt. „Es war so, dass der Club die Interviewpartner aussuchen sollte. Wir haben einen Kreis von etwa 20 älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern bestimmt. Die Hälfte sagte ab, – es waren schwierige Zeiten – , über die man berichten musste: Viele haben während des Zweiten Weltkriegs die Väter verloren, sind im Gespräch auch in Tränen ausgebrochen oder haben eine Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen abgesagt. Viele haben sich nicht getraut alleine vor die Kamera zu treten, deswegen tauchen in einigen Interviews bis zu zwei oder drei Gesprächspartner gleichzeitig auf; für die meisten war das ohnehin Neuland”, berichtet der Vorsitzende des Deutschen Gemeinderates.

Ziel des Projekts war und ist, das „Netzwerk zu erweitern”, in einem Dorf, das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg von zwei Nationalitäten bewohnt war: Die calvinistischen Madjaren stellten 20-30 Prozent der Gesamtbevölkerung. In den Interviews ist dann bezüglich der Zeit nach 1945 von der Präsenz von fünf „Völkergruppen” die Rede: Neben den alteingesessenen katholischen Deutschen und calvinistischen Madjaren kamen nach dem Krieg im Rahmen des slowakisch-ungarischen Bevölkerungsaustausches Slowakeimadjaren ins Dorf und im Rahmen der Binnenansiedlung Madjaren, so genannte „Telepeschen”, aus Egerlövő. Auch aus der Umgebung, vor allem aus der Totiser Kolonie/Tatabánya, ließen sich nach Angaben von Fülöp Menschen nieder; viele heirateten Alteingesessene. So beträgt der Anteil der Deutschen heute bei einer Gesamtbevölkerung von 2800 unter 50 %. Die Deutschen stellen dennoch  die größte Gruppe. Stolz berichtet Fülöp davon, dass allein aus Tarian mehr als 500 Wählerregistrationen für die Liste der Ungarndeutschen zusammenkamen; so ist Tarian die größte deutsche Wählergemeinschaft im Komitat Komorn-Gran. Sich für die deutsche Liste registrieren zu lassen, stelle auch aus Sicht von Fülöp eine gewisse Hürde dar, denn nach den gültigen Wahlregeln in Ungarn verliert man dadurch sein Recht, für  Parteilisten zu stimmen.

Ein Blick in die Vergangenheit verrät, dass Tarian in 15 Jahren das 300. Jubiläum der Ansiedlung der Deutschen feiern wird: 1787 ließen sich 40 deutsche Familien dort nieder, sie stammten sehr wahrscheinlich aus Franken. In Tarian gab es keine Vertreibung, dennoch saß man, ähnlich wie etwa in Werischwar, ein Jahr lang auf gepackten Koffern. Die Namensliste der zu Vertreibenden war nach Angaben von Stefan Fülöp im Rathaus bereits ausgehängt. Damals war die Mundart noch präsent im Alltag. „Aber selbst noch vor zehn Jahren konnte man in der deutschbewohnten Hauptstraße, der Untergasse, viel Mundart hören. Diese Leute sterben aus und auch wegen Corona ist dieses »Alltagsgeräusch«, das man beim Spaziergang wahrnehmen konnte, so gut wie verschwunden. Hochdeutsch ist hingegen weit verbreitet, jedenfalls auf der Ebene der Sprachkenntnisse”, erzählt Fülöp. Dies führt er unter anderem auf die Präsenz von Deutschen und Schweizern zurück, die in Tarian eine neue Heimat gefunden haben. Aber viele Tarianer arbeiten auch im deutschsprachigen Ausland, obwohl die Gemeinde arbeitsmarkttechnisch im Dreieck Budapest-Totiser-Kolonie-Raab günstig liegt.

Eine Schlüsselrolle käme nach Einschätzung des Vorsitzenden des Deutschen Gemeinderates der zweisprachigen Grundschule zu. Seit September 2020  nach langem Hin und Her  ist der Deutsche Gemeinderat Tarian Träger der örtlichen Grundschule. „Nach der Wahl von Thomas Klinger (dem Sohn der langjährigen Schulleiterin Theresia Klinger, R. G.) war das keine Frage mehr. Das war für uns ein Muss, denn wenn man hier nicht auf die Sprache und deren Tradierung achtet, dann ginge diese auch verloren. Durch die direkte Kontrolle können wir der Gefahr entgegenwirken. Denn gerade bei den Zugezogenen werden die Rufe nach mehr Englischunterricht immer lauter.” Das große Ziel wäre jetzt die Anstellung einer muttersprachlichen Lehrkraft aus Österreich oder Deutschland, was sich aber ohne Unterstützung des Entsendelandes nicht realisieren lässt. Für Fülöp steht aber fest: „Es ist unsere Pflicht, diese Tradition Deutsch lebendig zu halten.” Deswegen plant der Deutsche Gemeinderat auch den örtlichen Kindergarten zu übernehmen.

Sie können sich die erste Staffel „Tarianer Geschichten” im Youtube-Kanal des Tarianer Fernsehens „Falu TV Tarján” anschauen.

Bildquelle:https://www.youtube.com/watch?v=zNxWsgQSgCo

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