Von Dr. Zoltán Oszkár Szőts. Erstmalig erschienen am 16. Dezember 2020 auf dem Geschichtsportal ujkor.hu. Veröffentlichung in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Chefredakteur Dr. Zoltán Oszkár Szőts. Deutsche Übersetzung: Richard Guth
„Ende Januar 1945 wurden Zehntausende von Zivilisten – Frauen und Männer – in unbeheizten, verschlossenen Viehwaggons aus dem Karpatenbecken Richtung Osten abtransportiert. Sie wurden aufgrund des Beschlusses Nr. 7161. des sowjetischen Staatlichen Verteidigungskomitees vom 16. Dezember 1944 in sowjetische Lager befördert, wo sie über Jahre unter elenden Umständen Zwangsarbeit als „Wiedergutmachung” verrichten mussten. Ihre Auswahl erfolgte aufgrund ihrer „deutschen Abstammung.” Mit diesen Sätzen beginnt die Monografie „Csak egy csepp német vér – A német származású civilek Szovejetunióba deportálása Magyarországról 1944/45” von Beáta Márkus, die Herbst 2020 erschienen ist und die sich auf einer PhD-Dissertation, vorgelegt an der Andrássy-Universität im Jahr 2019, beruht. Mit der Historikerin, die am Stiftungslehrstuhl für Deutsche Geschichte und Kultur im südöstlichen Mitteleuropa des Historischen Instituts der Philosophischen Fakultät der Universität Fünfkirchen unterrichtet, haben wir über die „Malenkij Robot”, ihre Forschungstätigkeit, Karriere und Pläne gesprochen.
Újkor.hu: Es gibt Menschen, die sich bereits am Gymnasium seelisch auf den Beruf des Historikers vorbereiten, und es gibt welche, die sich erst als junge Erwachsene nach einem Umweg für diese Laufbahn entscheiden. Wie sieht es bei dir aus, welcher Weg führte dich zum Beruf?
Márkus Beáta: Bereits als kleines Mädchen habe ich mich blendend für Geschichte interessiert. Als Grundschülerin habe ich all die Geschichtsbücher meines Bruders durchgelesen. Auch später blieb Geschichte mein Lieblingsfach, es wäre dennoch ahistorisch, wenn ich behaupten würde, dass ich schon immer Historikerin sein wollte. Es ging sogar so weit, dass ich nach dem Abitur erst gar nicht um einen Geschichtsstudienplatz beworben habe, vor allem deshalb, weil mein Umfeld davon abgeraten hat, unter dem Motto, man könnte eh nichts damit anfangen. Anstelle dessen bin ich freie Geisteswissenschaftlerin geworden, was sich in der Zwischenzeit zu einem Berufsfeld mit dem niedrigsten Ansehen entwickelt hat. Für mich war diese Entscheidung aber von Vorteil, weil ich meiner Ansicht nach dadurch über ein breiteres, interdisziplinäres Hintergrundwissen verfüge, als wenn ich eine monodisziplinäre Ausbildung von Bachelor bis zum Doktorat genossen hätte. Daneben habe ich Geschichte als Nebenfach studiert, wo es sich dann doch herausgestellt hat, was mich am meisten interessiert – so kehrte ich, mit einem kleinen Umweg, zum Historikerberuf zurück.
Bedeutet das in der Praxis, dass du nach dem Bachelorstudium Freie Geisteswissenschaften Geschichte auf Master studiert hast?
So ist es.
Hattest du deinen Forschungsschwerpunkt bereits vor der Aufnahmeprüfung entdeckt oder hat er sich erst während des Masterstudiums entwickelt?
In etwa fiel es in diese Zeit, genauer gesagt hat das Thema mich gefunden. 2010 gab es in einem Foyer der Universität eine Ausstellung, nämlich die Wanderausstellung „Mehr als Lebensgeschichten. Schicksale” der gegenwärtigen stellvertretenden Leiterin des Janus-Pannonius-Museums, Judit W. Müller, in der es um die Verschleppung der deutschen Minderheit meiner Heimat in die Sowjetunion ging. Ich hatte Zeit und schaute sie mir an. Es gab ein Foto, auf dem drei junge „schwäbische” Mädchen die Hand halten, noch zu Hause, mit dem Begleittext, dass das Mädchen links mit 17 Jahren während der Gefangenschaft starb. Das hatte eine große Wirkung auf mich. Ich wusste auch schon zuvor, dass aus meinem Heimatdorf Nadasch/Mecseknádasd 1944 Menschen in die Sowjetunion verschleppt wurden, unter anderen meine Uroma, aber deren Dimension eröffnete sich erst in dem Moment für mich. Ich habe verstanden, dass Geschichte kein abstrakter Gegenstand ist, wie ich mir bis dahin gedacht habe, was nur andere betrifft, sondern dass sie uns umgibt, bloß dass wir auf lokaler Ebene davon nichts wissen. 2010 war die „Malenkij Robot” gewissermaßen noch ein weißer Fleck in der historischen Forschung, deshalb waren meine Dozenten mehrheitlich dafür, dass ich mich im Rahmen des Masterstudiums damit beschäftige.
Bereits während des Masterstudiums erschien dein erstes Buch mit dem Titel „Messze voltam én fogságban, nagy Oroszországban”. Magyarországi németek szovjet kényszermunkán 1944/1945–1949”, was ein Interviewband ist. Wie gelang es dir, das Material zusammenzutragen?
2012 entstand der Kontakt zum Nationalitätenverein der Ungardeutschen in Fünfkirchen – Branau. Sie taten seit Jahren viel für die Erforschung unter anderem der „Malenkij Robot”, organisierten Forschungsreisen, Veranstaltungen, Gedenkfeier, veröffentlichten Bücher, ließen Gedenktafel aufstellen. Noch in diesem Jahr durfte ich mit ihnen zusammen zu einer zweiwöchigen Forschungsreise in den Ural aufbrechen. Dort erwähnte die Vorsitzende Eleonora Matkovits-Kretz, dass sie eine Fülle an unveröffentlichtem Material besäßen (handschriftliche Memoiren, Interviews, Tonaufnahmen), aber dass es keinen gäbe, der es redigieren würde, und ob es mich interessieren würde. Das war damals für mich eine Riesengelegenheit, als Studentin ein Buch herauszubringen. Ein Großteil der Interviews wurde so „frei Haus geliefert”, einen Teil habe ich damals mit Überlebenden geführt.
Wie kann man sich auf ein Gespräch vorbereiten, wo die andere Seite – mit großer Wahrscheinlichkeit – über traumatische Erlebnisse berichten wird?
Man kann es nicht wirklich. Ich ging ja zu diesen Gesprächen hin, nachdem ich viel über das Thema und die Oral History-Methodik gelesen habe. Ich dachte, gut vorbereitet in die Gespräche zu gehen… Dann sitzt man einer gegenüber, die bislang nur die alte Bas von nebenan war, die weinend erzählt, dass ihre Kusine zwanzigjährig an Fleckfieber in ihren Armen starb. Und ähnliche Geschichten. Solche Interviews können sehr erschütternd sein, und genauso schwierig ist es dann, dieses Quellenmaterial wissenschaftlich objektiv aufzuarbeiten. Teilweise aus diesem Grund beruhen meine Arbeiten seitdem in erster Linie nicht auf Interviews, das Buch von 2013 stellt eine Ausnahme dar. Aber es freut mich, dass wir es herausgegeben haben und denen ein Denkmal gesetzt haben, die ihre(n) Geschichte(n) mit uns geteilt haben – die meisten von ihnen sind nicht mehr unter uns.
Ich nehme an, diese Arbeit half dir auch beim Verfassen deiner Masterarbeit, denn diese – soviel ich weiß – hast du auch über die Verschleppten geschrieben. Nach der Prüfung kam es aber zu einem großen Wechsel: Bachelor und Master hast du an der Uni Fünfkirchen absolviert, die Doktorschule erfolgte bereits an der Andrássy-Universität. Warum hast du dich für einen Wechsel entschieden?
Richtig, die Masterarbeit habe ich über die Branauer Ereignisse der „Malenkij Robot” geschrieben, aber diese beruhte auf Verwaltungsunterlagen, also auf Archivarbeit. Und warum verließ ich dann Fünfkirchen? Während des Masterstudiums habe ich anderthalb Jahre in Deutschland verbracht – ein Jahr als Erasmus-Studentin in Regensburg und ein halbes mit einem Forschungsstipendium in Tübingen. Es gefiel mir dort sehr gut, aber es fiel danach schwer, nach Fünfkirchen zurückzukehren, ich fand nicht wirklich meinen Platz. Bei der Bewerbung um die Doktorschule bot sich ein Wechsel regelrecht an, damals schwebte mir die Rückkehr nach Deutschland vor Augen, aber es kam anders. Die Andrássy-Universität wurde von meinem späteren Doktorvater Gerhard Seewann empfohlen, von ihrer Existenz wusste ich zuvor so gut wie nicht. Das dortige Gespräch im Rahmen des Bewerbungsverfahrens hinterließ beiderseits einen guten Eindruck. So entschied ich mich für sie und Budapest, was sich als eine sehr gute Entscheidung erwiesen hat.
Warum hältst du diese Entscheidung im Nachhinein für eine sehr gute?
Die Andrássy-Uni erfüllte in meinem Falle eine Brückenfunktion, wie auch in ihrem Logo zu sehen ist. Eine internationale, deutschsprachige Hochschule mit guten Kontakten, Arbeitsumfeld und Bewerbungsmöglichkeiten. Und das alles in Ungarn, was im Hinblick auf meine Forschungstätigkeit relevant ist, denn erfolgt ist sie im Falle meines Themas größtenteils hierzulande. Innerhalb der Doktorschule gibt es im Fachbereich Geschichte ein von Österreich finanziertes Doktoratskolleg, dem ich mich 2015 anschließen konnte. Ich werde ein Leben lang für die dortigen Möglichkeiten, Erfahrungen dankbar sein, oder dafür, dass ich an Orten wie Jerusalem oder Kanada Vorträge halten konnte, von den ich zuvor nicht einmal träumen konnte. Aber vor allem deswegen bin ich dankbar, denn dadurch konnte ich meine Forschungsarbeit durchführen, wozu man neben Fleiß und Entschlossenheit, das soll auch gesagt werden, eine überdurchschnittliche Finanzierung benötigte. Diese wurde mir auch zuteil, man glaubte an mich und an das Projekt. Mir gefiel es ohnehin, dass an einer jungen Universität mit 200 Studenten jeder jeden kennt und schätzt, ich war nicht „nur” eine gute Doktorandin unter vielen.
Wenn du dich so wohlgefühlt hast auf der Andrássy und so zu Hause fühlst im deutschen Sprachraum, warum führte dein Weg nach dem Doktorat zurück nach Fünfkirchen?
Das Angebot aus Fünfkirchen kam in der letzten Phase des Doktorats. Die damalige Lehrstuhlleiterin Ágnes Tóth kam auf mich zu, mit der ich bis dahin hervorragend zusammenarbeiten konnte, dass eine Stelle am Stiftungslehrstuhl für Deutsche Geschichte und Kultur im südöstlichen Mitteleuropa in Fünfkirchen vakant würde, die angesichts der Forschungs- und Lehrschwerpunkte in etwa auf mich zugeschnitten war. Die Rückkehr nach Fünfkirchen war dennoch ein großes Dilemma – ich wusste, was mich dort hinsichtlich materieller und Arbeitsbedingungen erwartete, unabhängig davon, dass die Uni Fünfkirchen unter fachlichen Gesichtspunkten zu den stärksten im Land gehört. Bezüglich dieser Entscheidung schwanke ich immer noch, ob sie im Hinblick auf den eigenen Karriereweg die richtige war, aber es geht dabei nicht nur um mich. Es klingt womöglich etwas überheblich, aber mit den erworbenen internationalen und heimischen Erfahrungen, Möglichkeiten hat der Mensch auch eine gewisse gesellschaftliche Verantwortung, in meinem Falle sogat auch der Minderheitengemeinschaft gegenüber, der ich mich zugehörig fühle. Fünfkirchen und der Stiftungslehrstuhl bieten eine Chance, etwas von dem zurückzugeben, was ich in den letzten zehn Jahren bekommen, gesehen und gelernt habe, und dass ich bei Dingen, die mir nicht besonders gefallen, eine positive Veränderung erreichen kann. Trotz aller Schwierigkeiten denke ich, dass ich es vielmehr bereut hätte, wenn ich es nicht probiert hätte.
Was verstehst du unter persönlicher Verantwortung? Dass du als Forscherin die Ungarndeutschen bei der Aufarbeitung der Traumata, die sie nach 1944/45 erlitten, unterstützst?
Auch das, aber diese Tätigkeit darf sich nicht auf das Ungarndeutschtum beschränken. Die Vergangenheit einer Minderheit ist Teil der Geschichte einer Nation, meine Forschungsarbeit, mein Buch handelt von den Deutschen, aber ist nicht ausschließlich für sie gedacht. Die gesellschaftliche Verantwortung sehe ich doch eher in meiner öffentlichen und Lehrtätigkeit, dazu bietet die Universitätsarbeit in Fünfkirchen einen breiten Raum. Fast alle Studenten kommen mit dem gleichen uniformisierten, ungarnzentrierten Geschichtsbild aus dem Sekundarbereich an der Universität an, oft voller Vorurteile. Bei vielen Fragen kommt man gar nicht darauf, dass man darüber auch anders denken könnte. Ich will mein Weltbild keinem aufzwingen, aber als Dozent sehe ich meine Aufgabe darin, den Wissensstand der Lehrer und Historiker der Zukunft zu erweitern und ihnen eine Möglichkeit, Hilfe zu bieten, reflektiert, kritisch mit der Vergangenheit umzugehen. Das kann ich hier umsetzen – hätte ich das Land verlassen oder gar den Beruf, dann wäre mir das nicht möglich. Darin sehe ich meine persönliche Verantwortung.
Das – denke ich – können wir als deine Ars Poetica als Lehrperson betrachten. Wie lautet die als Forscherin?
Ich glaube kaum, dass ich das in einem Satz zusammenfassen könnte. Als Forscher wird man von dem Wunsch nach der Erkenntnis der Vergangenheit oder irgendeiner Wahrheit geleitet, wobei man stets vor Augen führen muss, dass egal, wie umfangreich und gründlich man Quellenarbeit betreibt, dies letztendlich nur eine Perspektive unter vielen bleibt und man stets offen dafür bleiben muss, dass ein anderer das Gleiche anders sieht. Das ist in Ordnung so, solange ein Forscher ideologiefrei, aber im Bewusstsein seiner eigenen Subjektivität schreibt und nicht zwecks Untermauerung des eigenen Prekonzepts unter den Quellen selektiert, sondern anhand der Quellen seine Hypothesen aufstellt. Das ist heutzutage immer seltener, oder nur ich sehe nur so schwarz, weil das Thema „Malenkij Robot” in den letzten Jahren zu sehr durchpolitisiert wurde, was ja auf Kosten eines fachlich korrekten Umgangs geschah.
Du hast vorhin erwähnt, dass, als du mit der Erforschung des Problemkreises „Malenkij Robot” begonnen hast, diese noch ein unbestellter Acker war. Wenn das Thema an politischer Brisanz gewonnen haben soll, bedeutet das ja, dass sich sehr viele anfingen, mit diesem Themenbereich zu beschäftigen. Was glaubst, welche Fragen konnte man im vergangenen Jahrzehnt zur Zufriedenheit aller klären?
Ich denke, das Thema ist kein „weißer Fleck” mehr, in den letzten Jahren passierte so viel in diesem Themenbereich (Publikation von Büchern, Veranstaltungen, Errichtung von Denkmälern, Filmproduktion usw.), dass ich es mir nicht vorstellen kann, dass ein Mitglied der ungarischen Gesellschaft nicht davon erfahren hat. Es ist eine andere Frage, was man gehört hat, denn selbst in solch grundsätzlichen Fragen werden anstelle Antworten zu liefern Zahlenschlachten geschlagen wie bei der Frage, wieviele ungarische Staatsbürger in die Sowjetunion verschleppt wurden. Daher muss man noch an der Einordnung des Themas arbeiten, was ich aber für erfreulich halte, ist die Tatsache, dass sich in der Tat sehr viele mit dem Thema beschäftigen, so dass es gesichert ist, dass dies nach dem Ableben der Erlebnisgeneration nicht von der Tagesordnung verschwindet oder eben auch aus dem kollektiven Gedächtnis. Das ist bei einem Ereignis, was 45 Jahre lang totgeschwiegen wurde, ein Riesenfortschritt.
Herbst 2020 ist deine Doktorarbeit mit dem Titel „Csak egy csepp német vér” – A német származású civilek Szovjetunióba deportálása Magyarországról 1944/1945” auch in Buchform erschienen. Welche Quellen aus ungarischen und ausländischen Archiven hast du verwendet?
Bei den ausländischen Sammlungen habe ich die Schriftquellen des deutschen Bundesarchivs, allen voran die Ostdokumentation des Lastenausgleichsarchivs Bayreuth berücksichtigt. Über die Materialien aus den Archiven hinaus habe ich vornehmlich solche, in Ungarn nicht verfügbare Publikationen aufgearbeitet, die die vertriebenen Deutschen von 1946 bis heute herausgebracht haben. Hierzulande wäre eine vollständige Auflistung unlesbar lang, deswegen beschränke ich mich nur aufs Wesentliche. Um die Ereignisse aufzudecken habe ich in elf Komitatsarchiven die lokalen Verwaltungsakten (auf Komitats-, Bezirks- und Gemeindeebene) zwischen 1944 und vornehmlich 1949, als die letzte Gruppe der Verschleppten heimkehrte, durchforstet. Darüber hinaus habe ich zahlreiche kirchliche Archive aufgesucht und dort Verwaltungsakten auch aus der Zwischenkriegszeit studiert, weil sie viele interessante Details über lokale interethnische Konflikte lieferten.
Du hast eine beachtliche Menge an Unterlagen gesichtet, was sich auch dadurch zeigt, dass das Archivquellenverzeichnis acht Seiten ausmacht. Ich merke aber (und du hast es auch nicht erwähnt), dass die russischen Archive fehlen. Das mindert natürlich nicht den Wert deiner Arbeit, aber ich bin dennoch neugierig, ob eine dortige Forschungsarbeit deine Schlussfolgerungen differenzieren würde? Wenn ja, inwiefern?
Es stimmt, von den russischen Quellen konnte ich nur die verwerten, die ausländische Forscher bereits veröffentlicht haben. Ich hatte es anders vor, aber als ich vor einigen Jahren Kontakt mit russischen Archiven aufgenommen habe, erhielt ich höfliche Absagen. Ob es dem Thema gegolten hat, kann ich nicht einschätzen. Seitdem bin ich mit einem Moskauer Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts bekannt geworden, der sagt, dass es sich lohnen würde, nach Russland zu fahren, und wenn es über sie laufen würde, dann könnte der Empfang anders sein. Das findet sich auch in meinen Zukunftsplänen. Um deine Frage zu beantworten: Es würde sie nicht differenzieren. Zum einen habe ich die Fragestellung so formuliert, dass ich auf russische Quellen nicht angewiesen war – ich habe lediglich die Zeit der Deportation und die Geschehnisse in Ungarn untersucht. Über die Zeit der Gefangenschaft und den Lageralltag wollte ich nicht schreiben, dafür stehen die Berichte der Überlebenden. Was interessant wäre, wären die Berichte der an der Aktion beteiligten Sowjetsoldaten, sofern es welche gibt. In Ermangelung dessen können wir nur Mutmaßungen hinsichtlich deren Gesichtspunkte, Beweggründe anstellen. Aber eins ist sicher, in der ungarischen Forschergemeinde bin ich die Einzige, die sich für die sowjetische Perspektive interessiert hat, ich wollte sie auch verstehen und die charakteristische Schwarz-Weiß-Malerei überwinden.
In der Zusammenfassung des Buches schreibst du, dass du durchaus Fantasie darin sehen würdest, die zur Verfügung stehenden – nach deinem Wortgebrauch” „Egodokumente” (Briefe, Tagebücher, Memoiren und Interviews) systematisch, wissenschaftlich aufzuarbeiten. Würde dazu auch die Untersuchung der Berichte der Sowjetsoldaten passen oder würdest du diese anhand eines anderen Konzepts aufarbeiten, solltest du solche Quellen finden?
Die Berichte der Sowjetsoldaten würde ich nicht unter einen Hut nehmen mit den Berichten der Überlebenden, denn diese sind gewissermaßen offizielle Dokumente, die für vorgesetzte militärisch-politische Stellen entstanden sind und deren Erwartungen entsprechen mussten. Daher halte ich es für unwahrscheinlich, dass sie darin von dem Chaos und den Unwägbarkeiten berichtet hätten, die die Umsetzung des Deportationsbefehls nach sich zog. Das Zusammentragen und Aufarbeiten der „Egodokumente” hielte ich deswegen für wichtig, weil ich beim Thema die methodisch korrekte Verwendung solcher Quellen vermisse. Anstelle dessen illustrieren manche Autoren mit Interviewfloskeln aus hier und da ihre eigenen Thesen und ziehen allgemeingültige (oder falsche) Schlussfolgerungen in Bezug auf die Deportation, unreflektiert, ob dies auch von anderen Quellen oder sogar anderen Berichten von Zeitzeugen bestätigt wird.
Ich befürchte, dass dies in der Regel auf solche zutrifft, die als Geschichtsstudenten keine Methodenseminare belegen konnten. Hier gelangen wir wieder zu dem Punkt, was du bezüglich der fachlichen Verantwortung eines Historikers gesagt hast: Er müsse auch deswegen seine Forschungsergebnisse der Gesellschaft vorstellen, um ein Gleichgewicht zu schaffen zu den Schriftstücken, die ein ausreichendes Hintergrundwissen vermissen lassen. Das Sammeln und Aufarbeiten von „Egodokumenten” hast du als mögliche Forschungsrichtung beschrieben. Hast du bereits mit der Arbeit begonnen?
Ich arbeite ständig am Zusammentragen dieser „Egodokumente”, aber erst einmal als Nebenbeschäftigung. Ich hoffe auch insgeheim, dass das Sammeln über kurz oder lang einen institutionellen Rahmen erhält. Im Rahmen der Gedenkjahre 2015-17 wurde viel von der Gründung eines Gedenk- und Dokumentationszentrums gesprochen, und wenn es jemals eines geben sollte, dann würde es die Forschungsarbeit wesentlich erleichtern. Nach der Veröffentlichung der Dissertation beziehungsweise der Abgabe des Manuskripts der deutschen Fassung dachte ich mir, dass es an der Zeit für ein neues Projekt wäre und ich mir eines anderen Tabuthemas annehme, nämlich der Geschichte der Waffen-SS-Rekrutierungen. Über die freiwillige Musterung wissen wir noch wenig, diese Menschen wollte praktisch auch die eigene Gemeinschaft vergessen, von sich weisen nach 1945. Ich will das Warum verstehen, auch um den Preis, dass die Antwort einen schockiert… Warum meldeten sich mehrere tausend ungarische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit zur SS und wo und was taten sie in deren Rahmen? Das ist ein sensibles Thema, aber man muss fähig sein, sich dem zu stellen, wozu man eine gründliche Aufarbeitung benötigt. Anfang 2020 stand der Forschungsplan, aber dann kam der Frühling und die Lockdowns, so dass mir in den Forschungsstätten im In- und Ausland, die ich aufsuchen wollte, noch kein Einlass gewährt werden konnte.
Ach ja, die Lockdowns im Frühling… Wenn wir dabei sind – wie hast du die Unwägbarkeiten des Jahres 2020 erlebt?
Es ist für jeden eine schwere Zeit. Mich hat es gestört beziehungsweise stört es, dass unser Leben nicht mehr planbar und unsicher geworden ist. Es nahm mich auch mit, dass ich zahlreiche Verantaltungen, Forschungsreisen und die Buchvorstellungen absagen oder verschieben musste. Der Distanzunterricht ist zwar eine nützliche Alternative, aber die positiven Impulse der Studenten kommen bei mir weniger an. Trotzdem gelang es mir, die vergangenen Monate größtenteils sinnvoll zu gestalten, in diesem Geschäft arbeiten wir eh viel von zu Hause aus, daneben fand man für vieles einfach mehr Zeit wie Lesen, Sprachenlernen oder Sport. Solange meine Gesundheit und die meiner Lieben nicht gefährdet ist, brauche ich mich nicht zu beklagen, andere mussten viel gravierenderen Herausforderungen in den vergangenen Monaten begegnen.
Quelle: http://ujkor.hu/content/magyarorszagi-nemet-kisebbseg-194445-os-kalvariaja-interju-markus-beataval