Schwäbische Verwandtschaftsbesucher im Fadenkreuz der ungarischen Stasi – neue Monografie über die Kontrolle der Beziehungen von Heimatvertriebenen und Heimatverbliebenen
Von Richard Guth
„Rosa S.-H., wohnhaft in C.-Straße 15 in Berzel/Ceglédbercel, hat 1963 sechs Monate in Schorndorf verbracht. Sie brachte einen Ölkamin und einen Kühlschrank mit nach Hause, darüber hinaus Kleinigkeiten, die sie hierzulande weiterverkauft hat. (…) Frau K., wohnhaft in P.-Straße 186 in Berzel, kehrte vor einigen Monaten heim. Sie brachte für die Familie zwei Pkws mit. Ihr Schwiegervater war nach Angaben der Bewohner ein Pfeilkreuzler. Er floh mit den Deutschen. Seitdem war er noch nicht wieder in Ungarn, aber die Familienmitglieder fahren öfters in die BRD. (…) Rosa K.-K., wohnhaft in K.-Str. 7 in Berzel: In den vergangenen Jahren hat sie zweimal 3-4 Monate in Deutschland verbracht. Sie brachte ein Auto mit, das sie von ihrer Großmutter, die mittlerweile wieder in Ungarn lebt, bekommen hat. Sie bewohnt eine luxuriös eingerichtete Vier-Zimmer-Wohnung: Ölkamin, Fernseher, Radiogeräte, Staubsauger, Kühlschrank, Pkw. Arbeitsplatz: bislang keiner! Zur Zeit arbeitet sie als Chefköchin in einem Erholungsheim der Staatsbahnen. Sie hat ein Kind.” Diese Angaben stammen aus einem Bericht der IM Csilla, die in den 1960er Jahren über die deutschen Bewohner der Gemeinde Berzel/Ceglédbercel berichtete. Die ungarische Staatssicherheit war Berichten zufolge felsenfest davon überzeugt, dass die Ungarndeutschen – heimatvertrieben und –verblieben – an einem Umsturz der bestehenden kommunistischen Ordnung interessiert waren.
Die spärlichen Informationen der Stasi, die sie ergattern konnte, zeugten aber in der Tat von einer „Gefahr”, nämlich von der konsumtechnischen Überlegenheit des „bösen” Westens. Die Berichte erzählen in den Anfangszeiten von mitgebrachten Paketen, die später schnell von langlebigen Konsumgütern ersetzt wurden, auf die man (insbesondere wenn sie vier Räder hatten) im Inland lange warten musste. Von Ideologie hingegen keine Spur!
Die neue Monografie von Krisztina Slachta* handelt – wie der Untertitel auch verrät – von den Bemühungen der ungarischen Staatssicherheit – nebst Bruderhilfe aus der DDR – den Schwaben feindliche Gesinnung nachzuweisen. Besonderes Augenmerk richtete sich auf die Touristen, d. h. Heimatvertriebene, die die alte Heimat besuchten, und Heimatverbliebe, die die vertriebene Verwandtschaft im Westen besuchten. Gefährlich sollen die Vertriebenen deswegen gewesen sein, weil die meisten von ihnen über Orts- und Sprachkenntnisse verfügten und im Gegensatz zu den „richtigen” Touristen abseits der streng kontrollierten Touristenhochburgen übernachteten, was die Gefahr barg, über militärische Objekte zu stolpern. Die ungarische Stasi befürchtete zudem, so die Ergebnisse der Forschungsarbeit von Slachta, dass sich unter ihnen BND-Agenten befinden könnten. Zudem sahen die Geheimdienstler – wie oben geschildert – auch in der vermeintlichen Verbreitung westlichen Lebensstils eine ernstzunehmende Gefahr. Die Reisetätigkeit setzte in den 1950er Jahren ein: Es gab regelrechte Reisedienste, betrieben von Heimatvertriebenen, die diese Fahrten anboten. Anfangs durften nur ältere Ungarndeutsche in die BRD fahren, die dann mit vielen Paketen heimkehrten, was auch die Stasi aufmerksam beobachtete.
Akribisch wurden Akten über ehemalige Waffen-SS- und Volksbund-Mitglieder angelegt und Informationen über deren Verwandtschaft und Auslandsbeziehungen eingeholt. Besonders interessiert waren die Dienste am Verhalten dieses Personenkreises bei der Revolution von 1956. Es entstanden infolge der Geheimdienstarbeit Berichte über die vermeintlich feindliche Gesinnung der Ungarndeutschen und Berichte über die Kreise der Heimatvertriebenen mit ihren vermeintlichen Versuchen Presseerzeugnisse einzuschmuggeln, die als westliche Propaganda abgestempelt waren. Ungarndeutsche, die in die BRD reisten (und einen entsprechenden Visaantrag stellten), wurden oft einbestellt; zu groß war die Angst vor einer Infiltrierung durch den Bundesnachrichtendienst.
Der Versuch ein Netz an Informellen Mitarbeitern auszubauen misslang: In den Sechzigern verfügte die Staatssicherheit im ganzen Land lediglich über 40 ungarndeutsche oder mit Ungarndeutschen in Kontakt stehende IM, von denen nur 20 Personen aktiv waren. Diese reisten sogar in die BRD, um Informationen zu besorgen, die aber wenig Substanzielles enthielten. Auch Organisationen der Heimatvertriebenen wurden kontrolliert genau wie die Partnerschaftsbeziehungen zwischen deutschen und ungarischen Gemeinden: Hier behandelt die Monografie die „patenschaftlichen” Beziehungen zwischen Gerlingen und Bogdan/Dunabogdány. Denn man ging davon aus, dass diese Kontakte eine identitätsstiftende und -erhaltende Funktion für die Heimatverbliebenen hatten, unter anderem dank der Möglichkeit des Gebrauchs der eigenen Muttersprache. Kommunen im Land Baden-Württemberg spielten bei den „Patenschaften” eine entscheidende Rolle, was aber kein Zufall ist, da etwa die Hälfte der 197.000 in die BRD (bzw. die drei Westzonen) heimatvertriebenen Ungarndeutschen im Ländle eine neue Heimat gefunden hat (insbesondere nach dem Bau eigener Heime dank der Zahlungen aufgrund des Lastenausgleichs).
Die Überwachung erstreckte sich auch auf den Briefwechsel zwischen Heimatvertriebenen und -verbliebenen. Dies führte Mitte der Sechziger zu mehreren Spionageprozessen, von denen die Autorin drei aus dem Komitat Pest detailliert beschreibt. Alle drei ähneln sich in Ablauf, Vorwürfen, Urteilsbegründung und Strafmaß. Daher drängt sich der Eindruck auf, es handele sich um konzeptionelle Verfahren, um die Ungarndeutschen kollektiv zu verurteilen. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass selbst die Ermittler von einem hohen Maß an Unzufriedenheit mit der eigenen persönlichen (wirtschaftlichen) Lebenslage seitens der Beschuldigten sprechen, also jenseits von jeglicher Ideologie, was ja für eine bewusste Spionage doch essentiell gewesen wäre.
Die bescheidene Ernte und Normalisierung der ungarisch-westdeutschen Beziehungen führten Anfang der 1970er Jahre zum Einstellen der Beobachtung der Verwandtschaftsbesucher.
Die Monografie bereitet eine interessante Facette der Stasi-Tätigkeit auf und stellt somit einen wertvollen Beitrag zum besseren Verständnis der ungarndeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer historischen, gesellschaftspsychologischen und institutionell-staatstheoretischen Perspektive dar.
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* Krisztina Slachta: „Rokonlátogatók”. A magyarországi németek kapcsolatainak állambiztonsági ellenőrzése – egy ellenségkép története.- Fünfkirchen/Budapest 2020
Bildquelle: https://www.libri.hu/konyv/slachta_krisztina.rokonlatogatok.html