Der den Bänken predigt…

Erstmalig erschienen am 18. Juli 2019 in der rumänienmadjarischen Zeitung „Erdélyi Napló“ – Zweitverwendung nach Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors Ervin Szucher.

 

Eginald Norbert Schlattner ist der 86 Jahre alte evangelische Pastor der Gemeinde Rothberg/Roşia. Er hat alles miterlebt, was den Siebenbürger Sachsen im letzten Jahrhundert widerfahren ist. Er musste auch miterleben, wie seine 700-Seelen-Gemeinde nach der Wende binnen kürzester Zeit auf nur vier Personen schwand.

 

Ein letztes Mal klingt die Glocke im einsamen Turm. Sie wird immer leiser, bis sie ganz verstummt und die Umgebung in Stille hüllt. In eins-zwei Minuten, die wie eine Ewigkeit wirken, öffnet sich die Flügeltür der nahegelegenen Kirche, durch sie tritt ein Pastor in langem, schwarzem Gewand herein. Er ist ein hochgewachsener, grauhaariger alter Mann. Er schreitet mit einer Bibel in seiner Hand Richtung Altar, während seine Blicke über die Kirchbänke spähen, obwohl er auch mit einem Blick auf die Bänke aufreihen könnte, welches Gemeindemitglied wo seinen Platz hat. Er hält, dreht sich, schaut sich bedächtig um und seufzt. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagt er mit prächtiger Stimme und antwortet sich auch prompt: „Amen.” Nach dem einführenden Psalm wendet er sich Richtung Altar und spricht das Bußgebet. Danach blickt er erneut auf die Kirchbänke und predigt die Gnade Gottes. In seinem in einen Satz kondensierten Gebet versucht er den wichtigsten Gedanken der Woche so zu formulieren, dass er währenddessen auf die Taten Gottes hinweist. Die Predigt beginnt er mit dem exakten Benennen der Bibelstelle – zu diesem Zeitpunkt und auch während der Antwort bleibt niemand – nicht mal die Jüngsten oder die alten Frauen – sitzen. Die Liturgie ist bereits auf ihrem Höhepunkt: Das lebendige Evangelium ertönt. Die Kirche wird von Stille erfüllt, nicht mal das Summen einer Fliege ist zu hören, während Pfarrer Schlattner nicht nur die Worte Gottes erklärt, sondern mit seiner Stimme die Stimme Gottes erschallen lässt. Im allgemeinen Bittgebet wird auf den Bitte-Teil der größere Wert gelegt. An diesem Gebet nehmen in den meisten Orten auch die Mitglieder der Gemeinschaft teil. Inmitten der alten Wände der Kirche von Rothberg jedoch bleiben die Versammelten stumm. Wie sie auch das Vaterunser vor dem Segen nicht mit ihrem Pfarrer zusammen beten. Auch ein Kreuzzeichen machen sie nicht, wie sie sich auch nicht zurück in ihre Bänke setzen, obwohl vor ein paar Jahren noch Hunderte die Gesänge und Gebete erklingen ließen. Obwohl der Pastor die Kirche mit flinken Schritten verlässt, folgen Ihm die Gemeindemitglieder nicht. Es gibt niemanden zum Händeschütteln, es gibt niemanden, den man nach seiner Gesundheit fragen könnte und niemanden, dem man „Guten Appetit!” zum Mittagessen wünschen könnte. Gottes Haus ist leer, genau wie vor dem Gottesdienst und wie während des Gottesdienstes.

 

Der Pastor will Gott und sich selbst trösten

 

All das ist nicht Produkt der Fantasie eines Schreiberlings, auch ist es nicht das Werk des Zufalls. Dies ist die gnadenlose Wahrheit. Den eingestürzten Turm, die aus dem unbedeckten Kirchenschiff guckenden Bäume und Büsche habe ich schon gesehen, ein Schloss am Hause Gottes auch, einen ohne Herde gebliebene und auf eine weitere „Stelle” abgewanderten Pastor ebenfalls – aber einen einer leeren Kirche predigenden Pastor noch nie! Obwohl in der Mitte des Landes – im Hermannstadt-Fugreschmarkt-Agnetlen-Dreieck -, versteckt zwischen den wunderschönen, sattgrünen Hügeln gelegen, lebt ein alter Pastor im von den Siebenbürger Sachsen Ritbarch, in der Schriftsprache Rothberg genannten Dorf, der trotzend jeglichem Menschenverstand sagt: „Es macht Sinn!”. Auch so! Oder hauptsächlich so! „Vierzehn Jahre lang habe ich jede Woche, mit jährlich höchstens 1-2 Unterbrechungen, jeden Sonntag diesen Mauern und diesen leeren Bänken meine Predigt gehalten. Vierzehn Jahre lang…”, unterstreicht der 86 Jahre alte Eginald Schlattner die Zahl, die ein Dutzend übersteigt, während er lange ins Nichts starrt. Mit mindestens 45 Wochenenden gerechnet bedeuten die 14 Jahre auch so 630 Sonntage und gleich viele Gottesdienste. Er sagt, dies sei der einzige Weg für ihn das von einem Tag auf den anderen abgelaufene Verschwinden seiner Gemeinde mit klarem Kopf zu überstehen. Es ist deprimierend, leeren Bänken zu predigen. Noch deprimierender wäre es gewesen, es nicht zu tun. „Aus zwei Gründen habe ich weitergemacht: Mit meinem Dienst wollte ich erstens Gott und danach mich trösten. Wissen Sie, welch schöne Predigten ich gehalten habe?!.. .die leeren Bänke haben sich sicher wohl gefühlt”, sagt der alte Pastor halbwegs scherzend, aber vielleicht auch halbwegs ernst.

 

Vier Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1978, als er als junger Pastor in das von Herrmanstadt 18 km entfernte Dorf kam, hatte er an die 700 Gläubigen in seiner Gemeinde. Zwar waren die Rothberger Sachsen vor Trianon zweimal so viele, so schien die Gemeinde dennoch als lebensfähig, da ein Drittel Kinder waren. Aus den damaligen 700 sind heute vier übriggeblieben: der Pastor und seine drei Gläubigen – solche, die nicht mal mehr bis zur Kirche watscheln können. Seitdem er über eine Bank des Gotteshauses gestolpert ist – und wie er es mit Humor sagt -, ist er direkt vom Altar auf den OP-Tisch gekommen, ist Eginald Schlattner nicht der Alte, er kann nur noch schwer mit der Hilfe einer Krücke laufen. Währenddessen haben ihn auch allerlei Krankheiten ergriffen, deshalb musste er in den letzten drei Jahren zweimal unters Messer.

 

Zu Ostern waren sie noch hier, zu Weihnachten waren sie alle weg

 

Viel mehr als die physischen Schmerzen setzte ihm der seelische Schmerz zu, welchen das Auswandern der Siebenbürger Sachsen im Jahr 1989 verursacht hat. „Nach der Wende zu Ostern war die Kirche noch voll; alle waren hier. Zu Weihnachten blieb fast niemand hier. Wir haben uns zusammengezogen wie in der Krippe von Bethlehem. Wir haben schreckliche Zeiten erlebt. Jeden Sonntag habe ich eine Liste mit den Namen der die Woche zuvor nach Deutschland Gezogenen im Gottesdienst vorgelesen”, erzählt der Pastor. Er kann es auch jetzt noch nur schwer fassen, dass das, was weder den Türken noch den Tataren gelungen ist, die rumänischen kommunistischen und prokommunistischen Systeme innerhalb ein paar Jahrzenten fertiggebracht hatten: das Vertreiben der Sachsen aus Siebenbürgen. Von einem Deutschen höre ich jetzt das erste Mal, welche große Rolle in der Entscheidung der Gemeinde der blutige März von Neumarkt am Mieresch gespielt hat, in dem es gewalttätige Zusammenstöße zwischen Madjaren und Rumänen gab, mit einer angeblichen Beteiligung von Resten des gefürchteten Inlandsgeheimdienstes Securitate. ”Damals haben sich viele die Frage gestellt: „Wenn wir angegriffen werden, wer wird uns dann verteidigen, Herr Pastor?” Wir sind weniger als die Madjaren und schwächer. Was hätte ich darauf antworten können? Wir wussten, dass uns die Rumänen nicht mögen. Sie haben uns nie gemocht. Sie haben 1918 alles versprochen, aber davon haben sie nichts eingehalten! Einmal haben sie uns schon verraten, als sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, am 13. Januar 1945, 70.000 Sachsen in die Sowjetunion deportiert haben. Nur die Kinder und die Alten sind geblieben… Dann kam die Agrarreform, als sie uns alles genommen haben – nur um etwas zu haben, wo sie einziehen können. Dann haben sie uns 1955 die Häuser zurückgegeben, mit der Auflage Mitglied in der LPG zu werden.“ In Kenntnis dieser Tatsachen überraschen Schlattner die heutzutage noch alltäglichen „Nazi”-Beschimpfungen nicht. Er sagt, er habe vor der Präsidentschaftswahl 2014 einen Brief an Klaus Johannis geschrieben, indem er ihn darum gebeten hat, Bürgermeister von Hermannstadt zu bleiben, anstatt sich als Staatspräsident zu versuchen. Er wollte seinen sächsischen Bruder vor allem schützen, womit man rechnen konnte und was letztendlich auch geschah. Vergeblich möchte der einstige Physiklehrer sich als „großer” Rumäne ausgeben, er wird als „Nazi” bezeichnet, seine Plakate mit Hitler-Schnauzern verunstaltet und die Kritiken beschäftigen sich viel mehr mit seiner Herkunft als mit seinem politischen Wirken, in der Hoffnung seine Wiederwahl zu verhindern.

 

Der ausgezeichnete Schriftsteller

 

Eginald Schlattner hat die Tragödie der Siebenbürger Sachsen in seinen in acht Sprachen übersetzten Romanen aufgearbeitet. Unter seinen mit biographischen Elementen gespickten Schriften sind „Der geköpfte Hahn” und „Rote Handschuhe” auch auf Ungarisch erhältlich. Die von der minderheitenfeindlichen und gnadenlosen Politik der an die Macht gekommenen kommunistischen Partei inspirierten Romane haben das Interesse des Regisseurs Radu Gabrea geweckt, der beide Werke verfilmt hat. „Die Babeş-Bolyai-Universität hat mich mit einem Ehrendoktor-Titel ausgezeichnet, das Außenministerium hat mich zum Kulturbotschafter Rumäniens ernannt und von der Bundesrepublik Österreich habe ich das Verdienstkreuz erhalten, dennoch halte ich mich nicht für einen Schriftsteller. Ich bin ein einfacher siebenbürgischer Dorfpastor, der sein Kreuz trägt und seine Arbeit verrichtet. Ich wollte nicht nach Deutschland ziehen, nicht mal die Staatsbürgerschaft habe ich beantragt, obwohl meine Frau, meine Kinder und alle meine Verwandten ausgewandert sind. Ich muss meiner Herde hier dienen, um genauer zu sein ihren Resten. Alle acht Bücher hat die Mischung aus Glauben, Schmerz und Hoffnungslosigkeit in mir schreiben lassen. Das hat nicht jedem gefallen. Es gab Leute, die mich als Spitzel bezeichnet haben – obwohl ich in meinem ganzen Leben niemanden verpfiffen habe, das lässt sich auch in meinem Dossier lesen. Eins ist sicher, mein Gewissen ist sauber, ich muss mich nicht davor fürchten durch die Hintertür der Geschichte gehen zu müssen”, meint er.

 

Gott hat seine Bitten erhört

 

Inzwischen haben wieder Gläubige den Weg zu seinen Gottesdiensten gefunden – nicht die an das Bett gebundenen Alten, sondern gänzlich andere: Orthodoxe, Rumänen, Zigeuner…Insgesamt vier. „Vierzehn Jahre lang habe ich Gott gebeten die Tür der Kirche wenigstens einem Menschen zu zeigen. Und, siehe da, meine Bitten wurden erhört: Die Bänke sind nicht mehr leer.” Wie ich sehe, schlagen drei der Besucher des zweisprachigen Gottesdienstes Kreuze, der vierte nickt nur. Vater Eginald spricht alle mit ihren Namen an und manchmal stellt er ihnen auch eine rhetorische Frage. Der einfach nur Domul Ion genannte mittelalte Mann antwortet nach jedem zweiten-dritten Satz, auch ohne gefragt zu werden. „Da, da“, murmelt er. Der Zigeuner wurde orthodox getauft, aber seit drei-vier Jahren findet er in der evangelischen Kirche seinen Seelenfrieden. Ioana Bădescu geht manchmal hier hin, manchmal dahin, aufgrund ihrer vor vierzehn Jahren angenommenen Arbeit als Glöcknerin zur evangelischen Kirche, nur zu Festen besucht sie die Kirche mit der Zwiebel-Kuppel. Ihr gegenüber sitzt ein junges, auf alles mit einem Lächeln antwortendes Mädchen mit Zipfelmütze. Carmen, die die Aufgaben der Haushälterin übernommen hat, ist vor ein paar Jahren vor ihrem gewalttätigen Bruder aus dem Zigeunerviertel geflohen. Seitdem hat sie im Pfarrhaus Zuflucht und Arbeit gefunden. ”Gäbe es sie nicht, wäre ich schon längst im Altenheim, dort, wo man auf deinen Tod wartet”, gesteht der Pastor.

 

Als die Zigeuner noch Sachsen sein wollten

 

Zwar wohnt er in dem im Jahr 1762 errichteten Pfarrhaus, aber trotz seines fortgeschrittenen Alters ist er Angestellter mit Arbeitsbuch und erfüllt jeden Sonntag seinen Dienst. Wegen dem Mangel an Gläubigen ist Eginald Schlattner seit langem kein beauftragter Pastor mehr. In der Gemeinde Rothberg ist er der 99. Pastor, seit dem Übertritt zum Glauben Luthers der 51. – und letzte. Im Vergleich dazu ist ein gewisser orthodoxer Priester, genannt Bînda, erst 1905 ins Dorf gekommen. Anhand historischer Quellen wird die im romanischen Stil erbaute evangelische Kirche von Rothberg in fünf Jahren ihren 800. Jahrestag des Erbauens feiern. Die Siebenbürger Sachsen bewohnen die Region schon seit acht Jahrhunderten, die ersten rumänischen Hirtenfamilien fingen erst um 1750 an aus den Bergen in die Region zu ziehen.

 

„Die Rumänen haben zwei große Tugenden: Sie wissen, wie man betet und Kinder zeugt”, sagt Eginald Schlattner. Die Ereignisse der vergangenen Jahre hatten großen Einfluss auf die sächsische Bevölkerung Siebenbürgens. Dies hatte auch zur Folge, dass neben vier alten, kranken Sachsen fast alle anderen Einwohner Rumänen sind oder sich zumindest als solche bekennen, wie auch die Zigeuner, die in sechsfacher Überzahl sind, obwohl sie einst Sachsen sein wollten. Als Schlattner vom Bischof von Hermannstadt nach Rothberg geschickt wurde, wurde er von seinen Kollegen damit aufgezogen, er würde es nicht länger als ein Jahr da aushalten. „Die Sachsen sind gespalten, die Rumänen mögen uns nicht und die Zigeuner stehlen dir selbst die Haare vom Kopf!”, so haben mich meine Kollegen verabschiedet. „Jedoch habe ich als politischer Gefangener als Ziegelschlepper gearbeitet, wo ich gelernt habe, welche Sprache das Zigeunerherz erreicht. So hatte ich keine Angst vor ihnen, so konnte ich schnell ihr Vertrauen gewinnen und habe unter den sächsischen Priestern als erster ihre Bruchbuden betreten.” Eginald Schlattner wusste schon von Anfang an: „Zigeuner kann man am besten mit Bildung zivilisieren.“ Den Kindern hat er geholfen lesen und schreiben zu lernen, die acht Grundschulklassen zu absolvieren und in Hermannstadt einen Beruf zu erlernen. Unter ihnen gab es auch jene, die nicht mit dem Abitur zufrieden waren und erfolgreich an einer Universität angenommen wurden. Das zwischen dem Pastor und der Roma-Gemeinde entstandene Vertrauen hat nicht nur bis dato als undurchdringbar geltende Mauern durchbrochen, sondern auch einen neuen Höhepunkt erreicht. „An einem schönen Tag kamen sie zu mir mit dem Wunsch evangelische Deutsche zu werden. Kein Problem, habe ich gesagt, jedoch müsst ihr vorher die Sprache lernen und euch konfirmieren lassen. Das haben sie jedoch nicht mehr umgesetzt”, erzählt er. Danach ist es nicht verwunderlich, dass auch die Baptisten einen Versuch zur „Kirchenbesetzung” gestartet haben, jedoch wollten sie die alten Mauern nur für eine Hochzeit „einnehmen”. Da er die Familie kannte, wäre der Pastor willig gewesen, der Bitte nachzukommen, als er jedoch hörte, die Hochzeitsgesellschaft wolle nur die Mauern ohne den Priester, hat er abgelehnt – und das, obwohl der Brautvater gut gezahlt hätte…

 

Eginald Schlattner ging „heim” in den Knast

 

„Bis heute habe ich ein staatliches Gehalt. Ich bin Gefängnispastor, deshalb auch das Gehalt. Jedoch gibt es keine Sachsen mehr in rumänischen Gefängnissen, das Durchschnittsalter der Gemeinde dort beträgt sechzig Jahre. Zwölf Jahre zuvor waren es noch dreißig Leute im Gefängnis von Straßburg am Mieresch, der letzte inhaftierte Sachse kam 2018 aus dem Gefängnis von Neumarkt frei. Deshalb erfülle ich eher die Seelsorge von Zigeunern, rumänischen und madajerischen Inhaftierten. Interessant, oder? Aber nicht nur deshalb gelte ich als Kuriosum. Als ich in der Kirche mein Bein brach, galt das als Arbeitsunfall. Die Ärzte, die die Papiere machten, haben nur so gestaunt, denn einen über Achtzigjährigen mussten sie noch nie krankschreiben”, lacht er. Schlattner hat seine Bekanntschaft mit dem rumänischen Zuchthaus-System nicht erst nach 1989 gemacht. Mit den schmerzhaften Erinnerungen eines Scheinverfahrens und dessen Folgen kehrte er hinter die Gitterstäbe zurück.

 

Sein Vater wurde von Fugreschmarkt aus in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert; seine Familie wurde enteignet; er wurde aus der theologischen Fakultät Klausenburg ausgeschlossen. Schlattner hatte sich dann eingeschrieben für Mathematik, später für Hydrologie, aber vor seinem Staatsexamen wurde er im 1959er „Verfahren gegen die deutschen Schriftsteller Kronstadts” wegen des Versäumens einer Anzeige mit seinem Bruder inhaftiert. Eginald Schlattner kam nach drei Jahren frei. Erst arbeitete er als Tagelöhner in einer Ziegelsteinfabrik, danach als Hilfsarbeiter auf einer Tierfarm, dann als Eisenbahnbrücken-Bauer und technischer Zeichner, bis das „System” ihm auf „gnädige Weise” erlaubte sich das Staatsexamen zu absolvieren. „Nach elf Jahren Unterbrechung konnte ich meinen Abschluss machen. Die Fakultät, an der ich früher studierte, existierte längst nicht mehr, weshalb man eine Kommission einberufen musste, um mein Wissen zu testen. Ich habe jedoch nicht lange als Hydrologe gearbeitet, denn ich erhörte den Ruf Gottes im Jahr 1973 und bewarb mich für Theologie”, erzählt er.

 

Erniedrigung, Verschleppung und Enteignung haben auch die Madjaren Siebenbürgens erleiden müssen. Da stellt sich die Frage: Erwartet die Madjaren das gleiche Schicksal wie die Sachsen? „Nein“, kommt die entschlossene Antwort. „Die Madjaren haben eine viel größere demographische Reserve. Doch wären sie nicht die ganze Zeit so trübselig und wehleidig! Ich verstehe ihre Frustrationen, aber man sollte trotzdem nicht jeden Tag mit dem Gedanken aufstehen und schlafen gehen: Mein Gott, wir verschwinden aus Siebenbürgen!” Jedoch versteht Schlattner auch die Seelenlage der Siebenbürger Sachsen. Es ist nicht einfach sich wieder aufzurichten für eine Nation, die vier Jahre lang für einen fremden Kaiser kämpfte, nur um dann Zweidrittel ihres Landes zu verlieren, besonders mit dem Wissen, dass den Rumänen nur ein Seitenwechsel von drei knappen Monaten genügte, um ihr Territorium zu verdoppeln. „Deshalb muss man den Autonomiewillen der Madjaren verstehen, akzeptieren und nicht von ihnen erwarten, dass sie am ersten Dezember auf die Straße gehen und applaudieren!”, meint Eginald Schlattner.

 

Der Sachse, der ein bisschen auch Madjare sein kann

 

Schlattners Empathie sowie seine fast perfekten Ungarisch-Kenntnisse muss man in seiner Familiengeschichte suchen. Der neben sächsischen auch über ungarische Vorfahren verfügende Mann zeigt uns einen bis auf das Jahr 1467 zurückgehenden beträchtlichen Stammbaum, in dem auch Namen wie Zilahi, Szőc, Borbély, Borbereki, Ecsedi, Kovásznai und Szász vorkommen… Von dem an der Wand hängendem Adligen-Wappen lässt sich der Name Sebess-Zilahi ablesen; Schlattners Großmutter mütterlicherseits, die in Hermannstadt geborene Berta, nannte man so. „Nachdem sie heiratete, nannten alle ungarischen Verwandten sie die ,arme´ Berta, die einen Sachsen heiratete”, schmunzelt der Enkel. Die aus einer Mischehe geborene Tochter erblickte das Licht der Welt 1912 in Budapest. „Sie sprach so gut Ungarisch, dass sie sogar in Theaterstücken mitspielte“, erzählt er stolz über seine Mutter. Der 1933 in Arad geborene Pastor zog im Alter von drei Jahren nach Wlachendorf. In den dort verbrachten vier Jahren erlernte er seine Muttersprache, welche er später in den damals noch über eine bedeutende madjarische Bevölkerung verfügenden Neumarkt und Klausenburg vervollständigte. Das ungarische Adligen-Blut hat Schlattner zum Mitglied der historische ungarische Familien verbindenden Castellum-Stiftung gemacht; er geht gerne zum jährlichen Treffen der Nachfahren von Grafen und Baronen. „Ich sag´ ja, dass ich das ganze Jahr über 100% Sachse bin; in den drei Tagen, die ich mit meinen Freunden bei Castellum verbringe, fühle ich mich ich ein Viertel ungarisch.”

 

Quelle: https://erdelyinaplo.ro/extra/aki-a-padoknak-predikal-szaszfoldon

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