Von Prof. Dr. Zoltán Tefner
Nicht selten kam es vor, dass zur Zeit der aggressiven Magyarisierung in den 1890er Jahren auch evangelische Kantorlehrer am Sprachverlust von donauschwäbischen Gemeinden beteiligt waren. Mit Heinrich Bernhard war es gerade der Fall. Bernhard (in Form eines in Kötcse weit und breit gebrauchten ungarischen Idiom „Benyhárt”) ist um 1862 in Kötcse erschienen. Ohne richtige pädagogische Ausbildung. Mit keinem seine berufliche Kompetenz attestierenden Diplom in der Tasche. Was haben diese beruflichen Mangelhaftigkeiten betreffend seiner Laufbahn als Lehrer und vor allem als Mensch nach sich ziehen können? – taucht die Frage auf. Vor allem ein unangenehmes Minderwärtigkeitsgefühl ernährte sich aus diesem recht benachteiligten Zustand – würden wir sagen. Wahrscheinlich ist es so. Aber dieses quälende Gefühl konnte im Laufe der 80er, 90er Jahre in einen nicht ganz wohl fundierten, mehr instinktiven als ideologisch untermauerten ungarischen Nationalismus übergehen. Die eigene Schwäche wurde durch einen übertriebenen Anpassungsdrang zur Staatstreue kompensiert. Man kann sagen: eine gesetzmäßige Reaktion im Sinne der Freud’schen Psychoanalyse.
Georg Richter zitiert Tertullian in seiner Fallstudie „Die Magyarisierung ethnischer Minderheiten als Staatsziel”: „Daß alle aufhören zu hassen, sobald ihre Unwissenheit aufhört.” Im Falle von Berhard ging es überhaupt nicht um eine Unwissenheit. Wie viele im deuschsprachigen Schul- und Konfessionswesen entspross er einer donauschwäbischen Familie von Szárazd. Die Mutter, Erzsébet Fáy, kam aus dem Magyarentum her, sagt die Chronik, gegen die man zahlreiche Vorwände finden kann. Ungarischer Familienname, aber alle auf dem Stammbaum sind blutreine Deutsche. Wie er die Idee aufgegriffen hat, Lehrer zu werden, davon wissen wir nichts. Die Unwissenheit in Freud’scher Auffassung kann man also bei Bernhard nicht in Betracht ziehen. Er war aus dem gleichen Boden ausgewachsen wie manche Kötcseer Familien deutscher Herkunft. Die gleiche Abstammung, die gleiche Konfession. Aber der soziale Stand von Bernhard unterschied sich von denen, die in Kötcse seit ihrer Geburt ansässig waren, also der „Einheimischen”. Bernhard, ein „nadrágos ember”, ein Mann, der Hosen trägt, gegenüber anderen, sozial niedriger Geschichteten, die „Gatjahose” anhatten. Dem Wort von Bernhard zu gehorchen war auf diese Weise eine staatsbürgerliche Plicht. Nicht nur die Schulkinder standen so unter dem Bann des Kantorlehlers, sondern auch die mit Existenzsorgen kämpfenden Eltern.
Mit der Elite der Gemeinde eine gute Beziehung zu pflegen war also eine Existenzfrage: Prozesse bei den Kaposvárer oder den „Tabber” Gerichtsstühlen in Erbfragen, Steuerzahlungsgenehmigungen und noch zahlreiche Angelegenheiten, die das materielle Dasein der Familie streng bestimmten. Tabb – der Kreisstadt damals Jahrzehnte lang – war sowieso ein Schreckgespenst für jeden, der aus irgendwelchem Grund mit dem „Gesetz” auf dem Kriegsfuß stand. Es war also nicht ratsam, mit diesen Kräften in Konflikt zu geraten.
Das Gesetz von József Eötvös, der berühmte Artikel XXXVIII/1868 verordnete, dass der Schulunterricht in einer Gemeinde in der von der Allgemeinheit gebrauchten Sprache erfolgen müsse. Dort, wo die Bewohner auch nichtungarischer Sprache waren, wurde der Gemeindevorstand dazu verpflichtet, einen fremdsprachigen Lehrer, in Kötcse einen deutschsprechenden Kantorlehrer (Dorflehrer und evangelischer Kantor in einer Person) anzustellen. Später, obwohl dieses Gesetz schön und nützlich war, wurde es nicht eingehalten. Alles war schön, nur mit einem kleinen Schönheitsfehler. Das Gesetz wurde, wo man es konnte, boykottiert. Genug war es, einen in das Magyarentum verliebtes Deutschen zu finden, und das Werk der Magyarisierung schritt reibungslos voran.
Bernhard war nicht in das Magyarentum verliebt, obwohl seine Mutter – mindestens ihrem Namen nach – eine Magyarin war, sondern die politische Ideenwelt des ungarischen Nationalismus hat ihm den Verstand geraubt. Der Druck in dieser Hinsicht war groß. In den 1890er Jahren entfaltete sich die unverschämteste Magyarisierungspolitik. Kaum zwanzig Jahre nach dem 1868er Volksunterrichtsgesetz meldete sich ein Mann mit einem deutschen Namen, Béla Grünwald, der Eötvös verpönte, warum er mit seinem Gesetz unter dem Ruf eines „schädlichen Liberalismus” die nicht magyarischen Stämme des Karpatenbeckens bevorzugte, damit er dem Magyarentum Schäden verursachte.
Bernhard – und Tausenden von Ideengenossen – gefiel aber dieser Gedanke, das drauf noch mit einem legendären Mythos des ungarischen Mittelalters, mit den das Land eingenommenen „Szittya-Helden” in Verbindung stand. Das deutsche Element passte nicht in dieses Paradigma. Grünwald: Die staatsschaffende Nation umfasse die in Staatsgrenzen eingepresste, ganze Bevölkerung, ohne in Betracht zu ziehen, welcher Muttersprache oder Herkunft das Individuum ist. In der Staatsbildung müsste man darauf achten – verlautete er –, dass da der Genius einer gewissen „Volkstumsindividualität” zum Vorschein kommt. Der andere Ideologe, Gusztáv Beksics, ging weiter, und zwar auf dem Wege des Praktischen: Die Zentralisierung des Staatswesens habe eine immanente Kraft, durch die in der Gesellschaft eine „innere Kraft” entsteht. Diese Schmelztegeltheorie führte zur Erkenntnis: Die Schule soll zu „einem bedingungslosen Privileg” der Zentralisierung werden. Die Lehrer und die Priester müssten streng unter Kontrolle gehalten werden, der Wahl von diesen hat die jeweilige örtliche Verwaltungskörperschaft zugestimmt. Bernhard geriet so in eine doppelte Zwickmühle: einerseits in die der wohl fundierten individuellen Identifizierung mit dem ungarischen Mythos, andererseits in die der erbarmungslosen Staatsgewalt.
Das deutsche Volkstum hatte gegen Ender der 1870er noch eine prägnante deutsche Sprachcharakteristik, genauer gesagt eine Zweisprachigkeit, zu Hause und auf dem Stoppelfeld auf Deutsch, im Rathaus auf Ungarisch. Aber die isolierte Lage ganz im Norden am Balaton, weit von den Zentren der deutschen Sprachgemeinschaft der Tolnau und Branau hat ihre Wirkung getan. Der einzige Rettungsanker hätte die Schule sein können, aber in die hat im Bilde von Bernhard die Staatsgewalt eingenistet. Der Ring wurde vollständig geschlossen. Aber trotzdem war die Lage günstig für die deutschen Dorfbewohner, sie haben einen Kantorlehrer bekommen, der möglichst liebenswürdig war (?) oder mindestens nachgiebig im deutschen Sprachgebrauch. Ein schlagender Beweis dafür: Bernhard wurde im Wettkampf von viel besser geschulten Rivalen bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1906 mehrmals neugewählt (damals hat die Kantorlehrer die Kirchengemeinde gewählt). Und die Lage bis Grünwald und Beksics war gar nicht so schlecht. In de Schule wurde zu Ende der 1880er vormittags ungarisch, nachmittags deutsch unterrichtet.
Aber wie? Viele Kinder mussten zu Hause in der Bauernwirtschaft arbeiten, und zwar überwiegend in den Nachmittagsstunden. Das Schulschwänzen war in der damaligen Zeit noch mehr als eine Erlassungssünde. Der Barometer der massiven Sprachkenntnisse fing an zu sinken. Den Gnadenstoß hat zuletzt die Bildungspolitik des Staates gegeben. Einmal hat sich Bernhard entschlossen, dass er mit dem Deutschunterricht aufhört. Wir wissen nicht, in welchem Jahr. Im Jahre 1896, zu Ehren des Milleniums, wurde auch der deutschsprachige Gottesdienst endgültig eingestellt. Mit der Begründung: „Die Gemeindemitglieder verstehen den deutschen Textus sowieso nicht mehr.” N. b.: Die Älteren sprachen in einzelnen Straßen sogar in den 1920er Jahren immer noch schwobisch.
Die Eltern gingen zu Bernhard und erhoben Protest bei ihm. Eine schlaue Antwort von Bernhard: „Es wird wieder auf Deutsch unterrichtet, wenn ihr mir Korettenwein, Getreideabgabe und Paarbelohnung je Kinder doppelt gebt. (Korettenwein: „korettabor”, dem Kantorlehler gebührende Gehaltsregelung; Paarbelohnung: „párbér”, Abgabe in Geld). Der Zauberreis hat sich erneut abgeschlossen. Die schlaue, spitzfindige Antwort kann gar nicht als reiner Zufall gewesen sein. Bernhard kannte den allgemein bekannten Geiz der Kötcseer Schwaben, und er hat sich in dieser seiner Vermutung nicht geirrt. Die Eltern haben das Verbleiben des Deutschunterrichts – wenn auch nicht ohne Weiteres, also mit Murmeln – zur Kenntnis genommen.
Politisch gehörte Bernhard eher der Ungarischen 48er und Unabhängigkeitspartei an als der Kossuth-Partei, einer radikalen Gruppe, die das dualistische System der Donaumonarchie entschlossen ablehnte. Leiter: Gábor Ugron, ein starrköpfiger siebenbürgischer Adeliger. Das Amt der örtlichen Parteiorganisation hat Bernhard geleitet, von ihm standen auch die Formalitäten nicht fern. Nach einer Regierungsverordnung, um das 1000-jährige Jubiläum des ungarischen Staates würdig zu feiern, mussten alle Gemeinden in Ungarn eine riesengroße rot-weiß-grüne Fahne anfertigen lassen. Und Bernhard zögerte nicht, er hat eine machen lassen – mit einer Anschrift: „Szabadság, egyenlőség, testvériség” [Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit]. Entnommen dem Ideenkreis der großen Französischen Revolution. Die Fahne hat er sein langes Leben hindurch in seinem Kantorlehrerwohnhaus bewahrt, später haben die Flagge vertrauliche Leute übernommen, bis zum heutigen Tag. Heute ruht das Originalexemplar im Tresor des Kötcseer Gemeinderates. Ein Bürger von Kötcse, Paul Hozleiter, hat nämlich vor einigen Jahren eine Kopie machen lassen, weil gewisse Flecken der originellen Fahne verschlissen wurde. Die neue wird aber an Feiertagen manchmal gehisst.
1906 wurde Bernhard pensioniert. Am letzten Tage des Schuljahres hat er die kleinen Klassen nach Hause geschickt, dann nahm er von den größeren Klassen Abschied. Als er damit fertig war, beugte er sich schluchzend auf den Tisch. 11. Januar 1912 starb er in Kötcse. Die Gemeinde hat ihm ein Ehrengrab zugeteilt. Das Amt des Dorfschulzen hat in diesem Jahr mein Ururgroßvater Heinrich Ubrik (Überreich) bekleidet.
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