Von Armin Stein
In dieser Ausgabe der Rubrik widme ich mich der Aufgabe über den Dokumentfilm von Udo Pörschke zu schreiben. Der Film befasst sich mit dem Thema Vertreibung aus der Perspektive von Zeitzeugen. Zu Wort kommen Experten, die dem Thema einen historischen Kontext geben. Auftraggeber und Sender der Erstausstrahlung ist der Hessische Rundfunk.
Eine Publikumsfrage?
Als Erstes und Wichtigstes, was man über den Film wissen muss, ist sein „Ziel-Publikum“. Wie auch der Stab und der Sender mehrmals über Social-Media Kanäle mitteilten, entstand diese Produktion für ein deutsches Publikum, welches nicht unbedingt im Klaren über die Ereignisse direkt nach ‘45 ist und eher am Schicksal der Ausgesiedelten interessiert ist. Dieser Fakt beeinflusst selbstverständlich den Schwerpunkt der Erzählung und der Inhalte. Es soll jedoch eine weitere Dokumentation oder eine weitere Fassung dieser Doku geben, deren Ziel-Publikum die ungarndeutsche Gemeinschaft sein soll.
Tausende Geschichten, gleicher Schmerz…oder?
Wie schon der Titel aufzeigt, sind Hauptmotive der Dokumentation die Heimat, das Heimatgefühl und der Verlust dieser Heimat. Bei der Themenwahl Vertreibung ist dieses Motiv eine logische Entscheidung. Die Erzählungen der Überlebenden dieser schrecklichen Zeit sind wunderbar-authentische Mosaike, die aufgrund ihrer Fülle an individuellen Ereignissen allesamt einzigartig sind.
Eine wichtige Frage lässt mich in Bezug auf den Film jedoch nicht ruhen, die Frage der Narrative. In der ungarndeutschen Gemeinschaft herrscht ein Konsens darüber, dass die Vertreibung der Schicksalsschlag unserer Volksgruppe war. Die meisten Geschichten setzten ihren Schwerpunkt auf den Verlust von Hab und Gut, eventuell auf die Schwierigkeiten des Zusammenhaltens der Familie, die Herausforderungen auf dem Weg nach und im zerbombten Deutschland und das Leben in der Illegalität in Ungarn. Ohne die Validität dieser Aussagen schmählern zu wollen, bin ich der Meinung, dass bei diesem überstarken Fokus auf die direkten Konsequenzen welterschütternde Prozesse nicht wahrgenommen wurden.
Entscheidende Folgen wie der Statusverlust innerhalb der Gesellschaft, Konflikte mit den Neuankömmlingen in ungarndeutschen Dörfern und Siedlungen oder der totale Verlust des gewohnten Lebensstils sind Themen, die mehr Aufmerksamkeit verdienten. Eine weitere, interessante Frage wird aufgeworfen, wenn man den Erzähler betrachtet, durch wessen Blickwinkel die Ereignisse dargestellt werden: Verfügen wir Ungarndeutschen denn noch über die Kapazität unsere eigenen Erzählungen und unser kollektives Gedächtnis an die nächste Generation selbstständig weiterzugeben?
Fünf vor Zwölf
Es geht um Zeitzeugen und um Zeit, die vergeht das Zeitfenster, in dem wir Familiengeschichten kennen lernen und dokumentieren können, wird immer kleiner. Aus diesem Grund bitte ich die Leserschaft des Sonntagsblattes, falls Sie sich als Zeitzeugen betrachten oder ihre Eltern oder Großeltern auch solche Erinnerungen haben, lassen Sie diese nicht in Vergessenheit geraten. Denn diese Geschichten, auf ihre persönliche und intime Weise sind sowohl Mahnungen als auch identitäts- und gemeinschaftsbildende Mosaiksteine, ein Stück gemeinsame Vergangenheit, die nun mehr verbindet als teilt.
Aus diesem Grund möchte ich Sie bitten, eigene Geschichten, die Sie gerne mit unserer Gemeinschaft teilen würden, an unsere Redaktion zur Veröffentlichung zu schicken (Adresse: sonntagsblatt.hu@gmail.com), damit das Mosaik stets vollständiger wird.
Heimat(los)
Der rote Faden, der sich durch die Dokumentation zieht, ist die Suche nach Heimat, nicht nach einer bestimmten Heimat, sondern nach der Bedeutung des Begriffs Heimat und wie diese von jedem anders interpretiert wird. Die Weltgeschichte hat die Ungarndeutschen in alle Himmelsrichtungen zerstreut, von der Schwäbischen Türkei nach Kanada, von Wudersch nach Schwaben oder nach Milwaukee, aber trotz fremder Länder und erlittener Schrecken hat sich die ungarndeutsche Volksgruppe an all diesen Orten eine Heimat aufbauen können.
Udo Pörschke sucht nach dem Ursprung des Heimatgefühls in der Kindheit und Jugend seiner Zeitzeugen, in einer Zeit, in der schnell erwachsen zu werden zu den höchsten Tugenden gehörte. Aus diesem Grunde stellt sich die folgende Frage als aufmerksamer Zuschauer: Ist Heimat gleich Wohnort der Kindheit, die in diesen Menschen deshalb so tief verwurzelt ist, weil genau diese ihnen auf brutalste Weise genommen wurde? Dieses Trauma erscheint in den meisten Erzählungen im Film aber auch in meinen persönlichen Gesprächen mit Überlebenden als eines der zentralen Themen in den Erlebnissen der Ungarndeutschen.
Feinde? Freunde? Einzelschicksale.
Ein wichtiger Aspekt, der auch in dem Dokumentarfilm angeschnitten wird, sind die persönlichen Beziehungen und Eindrücke der Vertriebenen von den Seklern und den „fölvidékiek“ (den Madjaren aus dem ehemaligen Oberungarn) oder den Reichsdeutschen. Natürlich gab es keine einheitlichen Erfahrungen wie dies auch im Film betont wird. Es entsteht eine einzigartige Gelegenheit dazu, die lebendigen Erinnerungen der Zeitzeugen zu sammeln zum Kennenlernen einer vergangenen Welt und die wichtigsten Ereignisse aus dem Blickwinkel der Einzelpersonen kennen zu lernen, während dessen können die Zuschauer Parallelen zwischen dem Schicksal der Einzelnen und den landesweiten Ereignissen ziehen.
Leider beleuchtet der Film einen Aspekt nur wenig, wie die Vertreibung das Verhältnis der Mitglieder der einzelnen ungarndeutschen Gemeinden zueinander veränderte. Herrschte Zusammenhalt in diesen Schicksalsgemeinschaften oder entbrannten alte Animositäten?
Fazit
Wie Sie lesen konnten, habe ich wenig Konkretes über den Dokumentarfilm an sich geschrieben. Der Grund dafür ist, dass es zur Geschichte außer kleiner, bereits erwähnter Kritikpunkte nichts hinzuzufügen gibt, es ist ein solides Mosaik mehrerer Einzelschicksale umgeben von generischen, historischen Kommentaren. Diese Herangehensweise des Filmes ist aufgrund bereits erwähnter Umstände zu verstehen. Ich hoffe immer noch auf eine Zeit, in der Medien über das Ungarndeutschtum auch andere Zeiten und Thematiken aufarbeiten, ohne sich monolithisch auf die Thematik Vertreibung zu konzentrieren. Ein guter Ausgangspunkt für solche Dokumentarfilme ist der alte, ungarische Dokumentarfilm „Zusammenleben/Együttélés“. Ich kann den Film ohne Bedenken jedem empfählen, der wissen möchte was die Perspektive der ungarndeutschen ist, die nach Deutschland vertrieben worden sind.
HEIMATLOS: https://www.youtube.com/watch?v=bBvqT4TwU1w
Együttélés/Zusammenleben: https://www.youtube.com/watch?v=i6yuf4Qewlg&fbclid=IwAR1Gkfa18OMnU2CZvTB3xMmuXH9tOp6AxAVVDmiMdGNlUZZlcR9NLnzwYoE